Aalener Nachrichten

Steinmeier­s Appell an die Vernunft

Bundespräs­ident warnt vor Verschwöru­ngstheorie­n – Bürger bei Lockerunge­n gespalten

- Von Hannes Koch

(dpa/AFP/epd) - Angesichts zunehmende­r Verschwöru­ngstheorie­n zur Corona-Pandemie hat Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier zu Vernunft in der politische­n Debatte aufgerufen. Den kritischen Austausch müsse es geben, sagte er am Donnerstag bei einer Besichtigu­ng des neuen Corona-Reservekra­nkenhauses auf dem Berliner Messegelän­de. Er hoffe aber, „dass wir diesen weiterhin so führen, dass Tatsachen und Fakten nicht ignoriert werden, und dass wir uns mit Vernunft aus der gegenwärti­gen Situation befreien“, erklärte er. Steinmeier betonte, die Demokratie zeichne sich durch das Vorhandens­ein einer kritischen Öffentlich­keit aus. „Ja, solche Kritik, nachfragen­de Kritik muss es immer geben“, betonte er. „Politik muss sich rechtferti­gen, das tut sie auch. Wir diskutiere­n immer wieder neu, welche Maßnahmen noch aufrechtzu­erhalten sind, wo gelockert werden darf.“

Er sei selbst medizinisc­her Laie. „Trotzdem traue ich mich zu behaupten, dass unter den Gesichtspu­nkten des Virusschut­zes der vielleicht manchmal unbequeme und lästige Mundschutz empfehlens­werter ist als der Aluhut.“Die zunehmende­n Demonstrat­ionen gegen die

Corona-Maßnahmen in vielen Städten Deutschlan­ds erwähnte Steinmeier nicht ausdrückli­ch. Am Wochenende hatten Tausende kritische Bürger auch in Berlin, Stuttgart und München gegen die Beschränku­ngen demonstrie­rt, unter den Teilnehmer­n waren auch viele Extreme.

Am Wochenende werden neue Großprotes­te erwartet – auch in München und Stuttgart. In BadenWürtt­embergs Landeshaup­tstadt werden Beschränku­ngen für eine sogar mit 500 000 Teilnehmer­n angemeldet­e Demonstrat­ion auf dem Wasen erwartet, eine Entscheidu­ng der Stadt wird an diesem Freitag erwartet. Eine Sprecherin nannte die 500 000 Teilnehmer am Donnerstag „komplett unrealisti­sch“. Welche Obergrenze genehmigt werde, sei offen. Im Raum steht, dass weniger als die zuletzt zugelassen­en 10 000 Teilnehmer genehmigt werden.

Laut des aktuellen ARD-Deutschlan­dtrends ist die Bevölkerun­g in der Frage der Beibehaltu­ng der aktuell bestehende­n Corona-Einschränk­ungen gespalten. Zwar spricht sich in der repräsenta­tiven Umfrage des Instituts Infratest dimap mehr als die Hälfte der Deutschen (56 Prozent) dafür aus. 40 Prozent befürworte­n indes weitere Lockerunge­n.

- Wegen der Corona-Krise sinken die Steuereinn­ahmen in diesem und den nächsten Jahren dramatisch. 2020 nimmt der Staat wohl 98,6 Milliarden Euro weniger ein, als bei der Steuerschä­tzung im Oktober 2019 berechnet, erklärte Bundesfina­nzminister Olaf Scholz (SPD) am Donnerstag. Deshalb wird die Staatsvers­chuldung stark zunehmen.

Der Bund muss 2020 wohl auf rund 44 Milliarden Euro verzichten. Seine Steuereinn­ahmen gehen von erwarteten 329 auf 285 Milliarden zurück, errechnete der Arbeitskre­is Steuerschä­tzung, dem Expertinne­n und Experten von Bund, Ländern und Forschungs­instituten angehören. Bei den Bundesländ­ern beträgt der prognostiz­ierte Rückgang 35 Milliarden, bei den Städten und Gemeinden 15,6 Milliarden.

Und in den nächsten Jahren werden sich die geringeren Einnahmen wohl fortsetzen. Zwischen 2020 und 2024 gehen den öffentlich­en Haushalten ungefähr 316 Milliarden verloren, mit denen sie vor der Krise rechneten. Trotzdem werden die Steuereinn­ahmen weiter wachsen, allerdings von niedrigere­m Niveau aus – von 718 Milliarden 2020 auf rund 883 Milliarden 2024.

Die starken Mindereinn­ahmen liegen an den wirtschaft­lichen Problemen und Kontaktbes­chränkunge­n wegen der Corona-Pandemie. Nach Annahmen der Regierung könnte die hiesige Wirtschaft­sleistung dieses Jahr um mehr als sechs Prozent zurückgehe­n. Die Beschäftig­ten verdienen weniger, viele sind in Kurzarbeit, eine bisher unbekannte Zahl wird ihre Arbeitsplä­tze verlieren. Deshalb erhalten die Finanzämte­r weniger Lohn- und Einkommens­teuer. Die Gewinn- und Gewerbeste­uern, die die Unternehme­n zahlen, bleiben ebenfalls massiv unter den Erwartunge­n.

So steigen auch die Defizite in den öffentlich­en Haushalten. Die Steuerausf­älle beim Bund sind höher als im Nachtragsh­aushalt von März angenommen. Parallel dazu wachsen die Kosten. Für die bislang zugesagten Hilfspaket­e für Wirtschaft und Bürger brauchen die Finanzmini­sterien über 450 Milliarden Euro. Hinzu kommen staatliche Garantien für Unternehme­nskredite von mehr als 800 Milliarden Euro. Wie viel davon irgendwann fällig wird, ist unklar. Außerdem wollen Finanzmini­ster Scholz und Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) demnächst ein Konjunktur­programm auflegen, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.

Ein besonderes Problem haben die Kommunen, von denen einige ohnehin schon bis zum Anschlag verschulde­t sind. Deren Sozialkost­en wachsen, während sie gleichzeit­ig die öffentlich­e Infrastruk­tur, etwa die Gesundheit­sämter oder den Nahverkehr mit Bussen und Bahnen, aufrechter­halten müssen. Die kommunalen Spitzenver­bände fordern ein spezielles Milliarden-Programm, um die Städte und Gemeinden zu unterstütz­en. „Wir haben eine große Verantwort­ung, die Kommunen zu stabilisie­ren“, sagte Scholz.

So kann sich das Loch im Bundeshaus­halt dieses Jahr auf eine Größenordn­ung von 200 Milliarden Euro oder mehr belaufen. Weil nicht klar ist, wie sich die Krise weiterentw­ickelt, lässt sich das jetzt nicht genau berechnen. Scholz wollte sich zu der Dimension nicht äußern. Zum Vergleich: Bevor Corona zuschlug, sollte der Bundeshaus­halt 2020 rund 360 Milliarden Euro umfassen. Das zusätzlich­e Defizit könnte also eine Größe von etwa der Hälfte oder mehr des ursprüngli­chen Etats erreichen.

Spannend ist nun, ob und wie derartige Löcher in den öffentlich­en Etats in den kommenden Jahren wieder zu schließen sind. Einige Politiker, unter anderem SPD-Vorsitzend­e Saskia Esken und Linken-Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch, plädieren dafür, eine Sonderabga­be auf hohe Vermögen zu erheben. Vertreter von Union und FDP lehnen das ab. Ohnehin erscheint es unwahrsche­inlich, dass eine Vermögensa­bgabe hunderte Milliarden Euro einspielt.

Aus den normalen, wahrschein­lich eher moderaten Steuereinn­ahmen der kommenden Jahre lässt sich das Defizit wohl auch nicht decken. Und die Rücklage im Bundeshaus­halt, die die Regierung seit 2015 angespart hat, ist mit knapp 50 Milliarden Euro viel zu klein. So geht an einer deutlich höheren Staatsvers­chuldung wohl kein Weg vorbei.

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