Glaube, Wahrheit, Freiheit
Heute wäre Papst Johannes Paul II. 100 Jahre alt geworden
anto subito“: Bei der Trauerfeier am 8. April 2005 für den sechs Tage zuvor im Alter von 84 Jahren verstorbenen Papst Johannes Paul II. fordert die Millionen Menschen zählende Menge, den Verstorbenen sofort heiligzusprechen. Wer damals 30 Jahre oder jünger ist, hat in seinem Leben bewusst keinen anderen Papst als den Mann aus Polen erlebt, den die Kardinäle 1978 überraschend an die Spitze der katholischen Kirche gewählt hatten.
Woran wird sich jene „Generation JP II“erinnern? Zwischen 1978 und 2005 ermuntert Johannes Paul II. zum Glauben, trägt wesentlich zum Ende des Kommunismus und des Kalten Krieges bei. Er geht auf Juden und Muslime zu, predigt vor Hunderten Millionen Menschen auf über 100 Auslandsreisen. Mit seiner physischen und geistlichen Präsenz prägt er das Amt so eindrücklich, dass Gottesglaube, Marienverehrung, Suche nach Wahrheit, Liebe zur Freiheit und gleichzeitig die durchsetzungsstarke Führung innerhalb der Kirche zu Wesenskernen des Papstes werden wie bei kaum einem seiner Vorgänger. Am 18. Mai wäre Johannes Paul II. 100 Jahre alt geworden.
Und wie erinnern sich enge Mitarbeiter an „JP II“? „Nach der Wahl am 16. Oktober 1978 war ich wie elektrisiert“, erinnert sich Kardinal Walter Kasper (87), „ein Papst aus dem Ostblock, der erste Slawe auf dem Petrusthron, der erste Nicht-Italiener seit 1523!“Kasper, seinerzeit Theologieprofessor in Tübingen, später Bischof von Rottenburg-Stuttgart und ab dem Jahr 1999 „Ökumeneminister“im Vatikan, erlebt einen „Papst neuer Art: locker, der die Menschen ansprach, einen Menschenfischer“. In seiner Begrüßung scherzt der neue Pontifex: „Ich weiß nicht, ob ich mich gut in eurer, [er verbessert sich:] in unserer italienischen Sprache ausdrücken kann. Wenn ich einen Fehler mache, werdet ihr mich korrigieren!“Scherzend, humorvoll, nahbar: So gewinnt er die Herzen nicht nur der Gläubigen.
Schon der kleine Karol Wojtyła, er wird 1920 in einfachen Verhältnissen im südpolnischen Wadowice unweit des späteren Konzentrationslagers Auschwitz geboren und verliert früh seine Mutter, weiß um die Macht der Bilder, der Gesten, der Solidarität. Als eine jüdische Fußballmannschaft einen Torwart braucht, lässt er sich einwechseln. Nicht selbstverständlich im katholisch geprägten Polen. Sein Leben lang wird Wojtyła enge Freundschaften zu Juden pflegen.
Und der spätere Papst kann seine Mitmenschen durch seinen Intellekt begeistern: Lange schwankt er als Student zwischen der Literatur und der Theologie. Als Schauspieler auf Studentenbühnen in der Universitätsstadt Krakau lernt er, die Kraft der Inszenierung einzusetzen: Bis zu seinem Tod nutzt er die dramaturgischen Wirkmittel des Theaters, um auch in der Liturgie der Botschaft des Glaubens, der Wahrheit und der Freiheit Zeit, Raum und Aufmerksamkeit bei den Menschen zu verschaffen.
Seine Kommilitonen, die sich mitunter über Karols große Frömmigkeit und seinen Ernst lustig machen, bezeichnen ihn als „Heiligen in Ausbildung“. Dass sie recht behalten werden, ahnen sie nicht. Unter den Eindrücken der deutschen Gewaltherrschaft während des Zweiten Weltkrieges entscheidet sich Wojtyła für die Theologie, studiert im Untergrund und wird 1946 zum Priester geweiht. Der Krakauer Kardinal Adam Stefan Sapieha erkennt früh die außergewöhnlichen Fähigkeiten des jungen Geistlichen und schickt ihn zum Studium nach Rom. Dort studiert Wojtyła nicht nur, er lernt auch Fremdsprachen: „Er sprach hervorragend Französisch, sehr gut Englisch und Deutsch.“Er nutzt die Sprachen und knüpft ein enges Netzwerk: „Wojtyła wurde dort zum überzeugten Europäer“, weiß Kardinal Kasper.
Zurück in Krakau, wirkt Wojtyła als Hochschulseelsorger. In der Spätphase des Stalinismus scheut der Priester die intellektuelle Auseinandersetzung nicht. Er ist davon überzeugt, dass das kommunistische Menschenbild sich auf Dauer nicht durchsetzen werde. Als 1964 ein neuer Erzbischof von Krakau gesucht wird, glaubt die Staatsführung,
in Wojtyła einem für das herrschende Regime harmlosen Kandidaten zustimmen zu können: ein intellektueller Schöngeist, der keinen Ärger macht. Ein historischer Irrtum. In Polen profiliert sich Erzbischof Wojtyła, seit 1967 Kardinal, durch den Bau zahlreicher neuer Kirchen im Kampf gegen den Kommunismus.
Seine Bühne ist auch Rom: Während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) fällt er als junger Konzilsvater durch seine geschliffenen Redebeiträge auf. Kardinal Kasper erinnert sich: „Wojtyłas Thema war stets die Religionsfreiheit, das waren Angriffsspitzen gegen den Kommunismus.“Der österreichische Kardinal Franz König, Erzbischof von Wien und einflussreicher Vermittler zwischen Ost und West, beschließt, sich den Mitbruder genauer anzuschauen.
Als 13 Jahre später, im Herbst 1978, nach dem plötzlichen Tod von Johannes Paul I., des an einem Herzinfarkt verstorbenen „33-TagePapstes“, ein neuer Pontifex gesucht wird, blockieren sich im Konklave zwei Italiener. Und so bringen die deutschen Kardinäle und Kardinal König den jungen, gesunden, sportlichen Erzbischof Wojtyła ins Spiel. Die Mehrheit fällt auf den im Westen völlig unbekannten Polen.
Der 58-Jährige beschließt, sich nicht im Vatikan einsperren zu lassen. Mehr als 100 heimliche Skiausflüge in die Berge rund um Rom soll er unternommen haben, unerkannt, vorbei an der Schweizer Garde. Der Sportler Karol Wojtyła braucht Fitness für sein Amt – und lässt am päpstlichen Sommersitz Castel Gandolfo einen Swimmingpool bauen. Als ein Journalist nach den Baukosten fragt, antwortet der Papst trocken: „Der Pool ist sicher wesentlich günstiger als ein neues Konklave.“
In seiner ersten Enzyklika „Redemptor hominis“(Der Erlöser des Menschen) gibt Johannes Paul II. 1979 die Richtung seines Pontifikates vor: das christliche Menschenbild, geprägt durch das Evangelium. In insgesamt 14 Enzykliken, den päpstlichen Lehrschreiben, entwickelt der Papst vor allem Fragen der Gesellschafts- und Morallehre weiter. Im neuen Katechismus der katholischen Kirche hält er den Stand der Glaubenslehre am Ende des 20. Jahrhunderts fest. Sein Credo: „Das tiefe Staunen über den Wert und die Würde des Menschen nennt sich Evangelium, Frohe Botschaft. Dieses Staunen rechtfertigt die Sendung der Kirche in der Welt von heute. Missionierung beginnt immer mit einem Gefühl der Hochachtung vor dem, was in jedem Menschen ist.“
Genau diese Hochachtung vor dem Menschen fehlt den Kommunisten, ist der Papst überzeugt. Während seiner ersten Reise 1979 in die polnische Heimat ermuntert er seine Landsleute zum Widerstand. Er ruft nicht zur Gewalt auf, mahnt aber damals und auch später immer wieder: „Man darf nicht vergessen, dass Situationen der Unterdrückung und Marginalisierung oft die Quelle von Gewaltausbrüchen und
Terrorismus sind.“Millionen Polen hören ihm zu, jeder zweite erwachsene Pole pilgert damals, um den Papst zu sehen. Im Sommer 1980 rufen die Arbeiter der Danziger Leninwerft einen Streik gegen die staatliche Unterdrückung aus. Die zum damaligen Zeitpunkt verbotene Arbeiterbewegung führt mit Vehemenz zur ersten unabhängigen
Gewerkschaft Polens, der Solidarnosc: „Der Mauerfall begann in Polen“, ist Annette Schavan überzeugt, „der Glaube kann Mauern zu Fall bringen.“Die Theologin und spätere Vatikanbotschafterin ist Johannes Paul II. mehrere Male begegnet: „Seinen Beitrag zur Wiedervereinigung Europas kann man gar nicht hoch genug einschätzen, er hat den Menschen in Mittel- und Osteuropa das Leben in Freiheit ermöglicht.“
Doch auch Kapitalismuskritik ist Johannes Paul II. nicht fremd: „Ihr müsst das Rennen nach Profit, Konsum und künstlicher Befriedigung aufgeben und lernen, den Reichtum zu teilen.“Er hadert mit Materialismus und Egoismus, kritisiert die Ausnutzung der Ärmsten der Welt, ergreift das Wort gegen die Todesstrafe und gegen den Irakkrieg 2003: „Krieg ist niemals ein unabwendbares Schicksal. Krieg bedeutet immer eine Niederlage für die Menschheit.“
Früh schon formieren sich Gegner: Am 13. Mai 1981 verübt der türkische Extremist Ali Agca auf dem Petersplatz ein Attentat auf den Papst und verletzt diesen schwer. Die Hintergründe des Attentats auf Karol Wojtyła sind bis heute ungeklärt.
Trotz aller Rückschläge: Humorvoll sei der Papst gewesen. Schavan wie auch Kardinal Kasper berichten, dass der Papst sich seine Meinung vor allem im persönlichen Gespräch bildete: „Beim Mittagessen“, sagt Kasper, „er hat es uns leicht gemacht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er wollte wissen, was der Gesprächspartner denkt, wie er reagiert.“Kasper nutzt die Treffen: „Er kannte sich anfangs in Ökumene-Fragen nicht gut aus“, berichtet der Kardinal, „das war im katholischen Polen kein Thema.“So lernt Johannes Paul II. im Laufe der Jahre hinzu. Der Kurienapparat ist zutiefst skeptisch, als er 1986 die wichtigsten Religionsführer nach Assisi einlädt und begründet: „Wir wollen der Welt zeigen, dass aufrichtiges gemeinsames Gebet nicht zur Verachtung des anderen führt, sondern zu konstruktivem Dialog.“
Immer wieder besinnt er sich auf seine Herkunft aus dem Süden Polens, sie ist auch der Schlüssel zu einer weiteren bleibenden Leistung: der Annäherung der Kirche an die Juden, die er mit dem Wort eines polnischen Dichters als „die älteren Brüder im Glauben“bezeichnet. Der erste Besuch eines Papstes in einer Synagoge (1986) und an der Tempelmauer in Jerusalem (2000): „Das sind Gesten, die Jahrhunderte überdauern“, ist sich Kardinal Kasper sicher. Der Papst führt die katholische Kirche mit seiner Forderung nach der Achtung der Menschenrechte und seiner beispiellosen Vergebungsbitte „Mea culpa“für Verfehlungen und Verbrechen der katholischen Kirche ins 21. Jahrhundert. In ihr erwähnt er auch die Leiden der Juden.
Gespräche und Begegnungen mit Juden, Muslimen, Orthodoxen und Atheisten: So offen Johannes Paul II. gegenüber Anders- oder Nichtgläubigen ist, so unnachgiebig zeigt er sich, wenn er Einheit, Kampfkraft und Festigkeit der katholischen Kirche durch andere Meinungen als die der reinen Lehre in Gefahr sieht. Daher hält er an rigiden Sexualvorstellungen fest. Bei Weltjugendtagen freut er sich am Jubel junger Menschen; für Sex vor der Ehe, den Einsatz von Kondomen gegen die Ausbreitung von Aids, wiederverheiratete Geschiedene oder auch für die Weihe von Frauen zu Priesterinnen hat er kein Verständnis. Die Ablehnung von Befreiungs- und anderen Reformtheologen ist auf die Erfahrungen mit der Sowjetherrschaft zurückzuführen, meint der Journalist Marco Politi. Der italienische Vatikanexperte kritisiert auch die mangelnde Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs durch Johannes Paul II.
Zurück ins Jahr 2005: Selbst den schärfsten Kritikern nötigt der Papst Respekt ab, als er, obwohl seit Jahren an Parkinson erkrankt und der Stimme beraubt, sein Amt mit voller Kraft ausübt. An Rücktritt denkt er nicht: „Ich überlasse Gott die Entscheidung, wie und wann er mich meines Amtes entheben will.“Johannes Paul II. stirbt, wie er gelebt hat: öffentlich, glaubend.
Am 27. April 2014 folgte Papst Franziskus der Forderung der Gläubigen und sprach Johannes Paul II. heilig.