Vom Versuch, das Leben festzuhalten
Jacobs 21. Geburtstag könnte sein letzter gewesen sein, denn er hat eine überaus seltene Krebsform – Wie ein junger Mann damit lebt, vielleicht schon bald sterben zu müssen
Im vergangenen Herbst hielt es Carina D. einfach nicht mehr aus. Bei einem Heimspiel des örtlichen Fußballvereins musste sie auf der Tribüne wieder einmal mit anhören, wie ihr Sohn auf dem Rasen beschimpft wurde. Ein Nazi sei er, der Spieler mit dem kahl geschorenen Kopf und der Nummer 19. „Da bin ich aufgesprungen und habe die Schreihälse zur Rede gestellt“, erzählt sie. Carina D. erklärte ihnen, dass ihr Sohn Jacob kein Nazi ist, sondern todkrank. Die Glatze – Folge einer Therapie, für die ihm Metallstäbe unter die Schädeldecke eingesetzt wurden.
Als Antwort erhielt sie damals: „Dann soll er eben nicht spielen, wenn er so sensibel ist.“Sie schüttelt fassungslos den Kopf. Auch darüber: Ein anderes Mal unterstellten die Fans der gegnerischen Mannschaft dem heute 21-jährigen Jacob, ein Simulant zu sein, weil er nach einem Foul etwas länger brauchte, um wieder auf die Beine zu kommen. „Mir hat das so zugesetzt. Ich konnte nicht mehr hingehen, weil ich mich mit allen angelegt hab’ auf dem Fußballplatz“, sagt die 41-Jährige und wirft ihrem Sohn, der seinen vollen Namen und seinen Wohnort nicht in der Zeitung lesen will, einen entschuldigenden Blick zu.
Die beiden sitzen in ihrer kleinen Küche in einem Dorf im nördlichen Landkreis Unterallgäu. An den Wänden hängen Fotos aus glücklichen Familientagen, Postkarten und Bilder mit Lebensweisheiten: „Do what you love“, „Be happy“und „Believe you can and you will“.
Mach, was du liebst. Sei glücklich. Glaube an dich. Sprüche, wie man sie oft und überall sieht. Die aber kaum irgendwo passender zu sein scheinen als hier, in dieser Küche und dieser Familie. Denn Jacob, seine Mutter und sein jüngerer Bruder müssen seit rund einem Jahr damit klarkommen, dass am Küchentisch im schlimmsten Fall schon bald ein Platz frei bleiben könnte.
Dabei glaubten sie zunächst noch an einen großen Schutzengel, den Jacob an einem Novemberabend 2018 gehabt habe. Auf dem Heimweg von seinem Vater, der von der Familie getrennt lebt, wollte der damalige Student einem Reh ausweichen. Er kam mit seinem Auto von der Straße ab, überschlug sich und krachte gegen einen Baum. Auf der Intensivstation kämpfte er um sein Leben – und gewann. Vorerst. Denn kurze Zeit später bildete sich unterhalb seines rechten Auges auf Höhe des Jochbeins eine furunkelähnliche Schwellung, die rapide wuchs. Als sie entfernt wurde, beruhigte der Arzt Jacob mit den Worten, dass sie zu 98 Prozent völlig harmlos sei.
Am Rosenmontag 2019 stand jedoch fest: Die Wucherung gehört zu den verbleibenden zwei Prozent. Es handelt sich um einen bösartigen und äußerst seltenen Tumor, ein sogenanntes Weichteilsarkom. Nur etwa ein Prozent aller krebskranken Erwachsenen leiden darunter.
Während Karzinome eher Organe befallen, treten Sarkome vor allem im Weichgewebe auf, also im Bindegewebe, den Muskeln oder auch in Nerven und Blutgefäßen. Damit nicht genug, gibt es laut Professor Lars Lindner vom Sarkomzentrum des Klinikums der LMU in München mehr als 100 verschiedene Sarkomtypen. „Die alle benötigen spezielle Therapien“, sagt er. Weil diese Tumorerkrankungen aber selten sind, steht für die Forschung auch weniger Geld zur Verfügung. Lindner und seine Kollegen behandeln jährlich bis zu 350 Patienten, bei denen ein Weichteilsarkom diagnostiziert wurde. Ihr „Tumorboard“, eine Konferenz von Ärzten verschiedener Fachrichtungen, befasst sich laut Lindner mit etwa 1500 Einzelfällen.
Keiner davon ist wie der von Jacob. „Es gibt niemand anderen, der das Gleiche hat wie ich“, sagt er. In seiner Krankenakte steht: „Kein Präzedenzfall bekannt.“
Vermutlich vor drei Jahren hat der Tumor begonnen, sich unbemerkt in Jacobs Jochbein zu fressen. Er ist hoch aggressiv und streut unaufhörlich. Über Blut- und Lymphbahnen verteilen sich Tumorzellen in Jacobs ganzem Körper. Metastasen haben sich bereits am linken Bein im Knie, im Sprunggelenk, im Unterschenkel sowie in den Nieren und Nebennieren gebildet. Die weitere Ausbreitung ließe sich nur stoppen, wenn man den Tumor im Jochbein entfernen würde. Theoretisch wäre das sogar möglich, doch die Nebenwirkungen wären beträchtlich: Es müsste fast die gesamte rechte Gesichtshälfte Jacobs entfernt werden, das Auge,
Teile des Kiefers – und des Gehirns. Würde er die Operation überleben, wäre er ein Pflegefall, unfähig zu schlucken und zu sprechen – und nicht mehr wiederzuerkennen. „Das will ich nicht“, sagt Jacob. „Wenn ich schon sterb’, dann sterb’ ich, wie ich bin.“Seine Mutter neben ihm nickt.
Sie respektiert die Entscheidung ihres Sohnes – auch wenn sie am liebsten alles versuchen würde, um seine Überlebenschancen zu erhöhen. Sie ist Krankenschwester, da fällt es besonders schwer zu akzeptieren, dass es ausgerechnet für ihren Sohn keine Therapie geben soll. Seine Ärzte haben ihm empfohlen, sich in London behandeln zu lassen. An einer Klinik dort gibt es eine Therapie, die – grob gesagt – versucht, den Primärtumor zu zerstören. Weil es sich um eine Studie handelt und es keine Erfahrungswerte gibt, werden die Medikamente direkt an Jacob getestet. Die ersten Spritzen hat er im Dezember bekommen, inzwischen steht fest, dass sie nur teilweise angeschlagen haben. Anfang März hätte er nun erneut nach London fliegen können, doch daraus wurde nichts.
Als ob sein Schicksal nicht schon schlimm genug ist, kam nun auch noch die Corona-Pandemie dazwischen. Auf Jacob trifft Murphys Gesetz in dieser Situation voll zu:
Alles, was schiefgehen kann, wird schiefgehen. Der Flug nach England wird natürlich abgesagt, stattdessen begibt sich der 21-Jährige im Sarkomzentrum an der Uniklinik Tübingen in Behandlung. „In den vergangenen zwölf Wochen habe ich dort eine Chemotherapie gehabt“, sagt er. Behandelt wurde ein Tumor auf der Lunge. Mit Erfolg. „Der Tumor ist weg“, sagt Jacob. Er kann nun wieder besser atmen. In Zeiten der Corona-Krise ist das einer dieser Hoffnungsschimmer, die ihm und seiner Mutter Mut geben.
Davon gab es in den vergangenen Monaten nicht sehr viele. Wohl aber zahlreiche Gesten und Hilfsangebote. So hatte sein bester Freund im Dezember eine Spendenaktion gestartet, um die Kosten für den Flug nach England und die Behandlung dort, die Jacob selbst hätte übernehmen müssen, bezahlen zu können. Vier Tage später stoppte er sie wieder, weil die Resonanz derart überwältigend war. Es spendeten Vereine, Firmen und Menschen, die Jacob gar nicht persönlich kennen.
Als ein Fernsehsender von Jacobs Schicksal und seiner Leidenschaft für American Football erfuhr, lud er ihn zum Superbowl Anfang Februar nach Miami ein. Für Jacob erfüllte sich damit ein Traum, für seine Mutter war es der blanke Horror. Denn sie wusste, welche Schmerzen Jacob schon beim zweistündigen Flug nach London zu seiner Behandlung aushalten musste. „Das ist, wie wenn man von innen brennt“, versucht er es zu beschreiben. Der Flug nach Miami dauerte fast sechsmal so lang. Jacob hat ihn überstanden, auch weil ihn sein bester Freund begleitet hat.
Für seine Freunde sind Jacob und seine Familie sehr dankbar. In VorCorona-Zeiten kam jeden Tag jemand vorbei. Gemeinsam schauten sie Fußball oder American Football, manchmal redeten sie einfach nur. Das fehlt nun, es ist für Jacob als Teil der Hochrisikogruppe zu gefährlich. „Wir führen halt jetzt viele Videotelefonate. Aber es ist nicht dasselbe“, sagt Jacob. Ebenso wenig wie das Sportprogramm im Fernsehen. „Ich halte mich mit alten Champions-League-Finals bei Laune“, sagt er. Denn: „Bundesligaspiele ohne Zuschauer, das ist einfach nichts.“
Für Profis wie für Fans gilt es abzuwarten. Eine Sache, die Jacob mittlerweile perfekt beherrscht: „Ich weiß nicht, ob ich Hoffnung hab’. Ich warte. Das mach’ ich jetzt seit einem Jahr. Bis mir einer hilft.“Die Kraft, dieses Warten auszuhalten, geben ihm die Freunde. Und da ist noch das Patenkind, dessen Taufe er unbedingt miterleben will. Da ist sein jüngerer Bruder, der Autist ist. „Er hat keine Freunde“, sagt Jacob. „Ich bin der Einzige in seinem Alter, den er hat.“Doch da ist auch die Frage, was er denn verbrochen habe, dass ausgerechnet in ihm der Krebs derart wütet.
Inzwischen hadert er nicht mehr damit: „Ich bin halt wütend. Am meisten tut mir weh, dass ich keinen Sport mehr machen kann“, sagt Jacob. „Das ist das Schlimmste. Ich hab’ ja jeden Tag Sport gemacht.“Mit all den Metastasen in seinem Körper und der Therapie, die ihm erkennbar zusetzt, ist daran nicht mehr zu denken. Eigentlich. In der Rückrunde aber wollte er wieder spielen. Doch hier machten ihm die jüngste Chemotherapie sowie die Corona-Beschränkungen einen Strich durch die Rechnung. Ob er jemals wieder für seinen Club auflaufen wird? „Ich hätte es vielleicht versucht“, sagt Jacob. „Aber ob es klug gewesen wäre ...“
In der Hinrunde hat Jacob zwölf Tore für seinen Heimatverein geschossen. Nur einer traf für den A-Klassisten öfter. Und das, obwohl er selten über 90 Minuten auf dem Platz war. Manchmal ging es nur eine Viertelstunde. Dass seine Mannschaftskollegen und sein Trainer diese Kurzeinsätze mittrugen, ist auch so eine Sache, für die Jacob „wahnsinnig dankbar“ist. Denn: „Beim Fußball muss ich nicht an die Krankheit denken, das ist die perfekte Ablenkung.“Erst nach dem
Spiel erinnerten ihn die Schmerzen in seinem Bein wieder daran, wie krank er ist.
„Ich hab’ bisher nie dran geglaubt, dass ich bald sterbe“, sagt Jacob. Trotzdem hat er alles vorbereitet: die Vorsorgevollmacht, die Patientenverfügung und auch seine Beerdigung. Im Sarg will er ein Trikot des FC Barcelona tragen, das von Lionel Messi. Mit seinen Freunden hat er besprochen, wer seinen Besitz erhalten soll – und was zu tun ist, wenn er in ihrem Beisein zusammenbrechen sollte.
„Das sind schon Sachen, bei denen man schluckt“, sagt seine Mutter. Auch sie setzt auf Ablenkung, ihre ist die Arbeit. „Ich besteh’ aus Sorgen und Angst“, sagt sie. Angst vor dem Ergebnis der nächsten Untersuchung. Angst davor, was alles auf sie zukommen könnte. Und Angst davor, dass ihr Sohn vielleicht noch in diesem Jahr stirbt. Carina D. sagt: „Es tut doch jetzt schon so weh, dass ich gar nicht weiß, wie ich das aushalten soll, wenn er wirklich nicht mehr da ist.“Jacob sieht sie an. „Ich glaub’, für mich ist es einfacher als für meine Familie“, sagt er.
Im November hat er seinen
21. Geburtstag gefeiert, ganz groß mit 200 Leuten. Auf die Einladungen hat er geschrieben, dass es sein letzter sein könnte. „Da haben sich natürlich viele verpflichtet gefühlt, zu kommen“, sagt seine Mutter. Sie lächelt. Sie erinnert sich gerne an die Feier. Sie freute sich damals, dass so viele gekommen sind – bis ihr einfiel: „Wenn ich die das nächste Mal seh’, dann auf seiner Beerdigung.“Das seien so blöde Gedanken, die man gar nicht haben wolle.
Als Nächstes will Jacob nach Hamburg. Ein Geburtstagsgeschenk seiner Freunde. Er hat zwar keine Liste mit Dingen, die er noch erleben will, aber er schiebt nichts auf. „Vielleicht kann ich’s ja nimmer machen“, sagt er nur. Eine Befürchtung, die über so vielem schwebt.
Trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – wird in der Familie häufig gelacht. „Vor dem Zimmeraufräumen schützt nur der Tod“, hat die 41-Jährige ihren Sohn kürzlich mit einem Augenzwinkern ermahnt. Der wiederum hat es sich nicht nehmen lassen, im vergangenen Sommer beim historischen Marktfest seines Heimatortes mitzumachen – als Aussätziger.
Von den Tumoren in seinem Körper will er sich nicht unterkriegen lassen. „Ich denk’ mal, ich überleb’s schon“, sagt Jacob. „Ich hab’ halt sieben Leben. Sonst hätt’ ich ja gleich bei dem Unfall sterben können.“