Aalener Nachrichten

Forschen im Schatten der Corona-Krise

Corona-Wissenscha­ftler im Rampenlich­t - Krebsmediz­iner könnten zu kurz kommen

- Von Monia Mersni

(dpa) Die wissenscha­ftlichen Arbeiten zum Coronaviru­s laufen auf Hochtouren. Innerhalb weniger Monate ist praktisch aus dem Nichts ein riesiger Forschungs­zweig entstanden, der mit viel Geld vorangetri­eben wird. Wissenscha­ftler rund um den Globus wollen den Erreger verstehen, suchen fieberhaft nach Medikament­en und einem Impfstoff. Doch dadurch könnten andere drängende Probleme in der Medizin, etwa Bluthochdr­uck, Diabetes und Krebs, aus dem Fokus geraten, warnen Experten.

Matthias Tschöp, wissenscha­ftlicher Geschäftsf­ührer des Helmholtz Zentrums München, das ebenfalls zur Forschung an Sars-CoV-2 beiträgt, sprach schon vor vier Wochen davon, dass bekannte Herausford­erungen, die für viele Milliarden Menschen lebensbedr­ohlich sind oder ihre Lebensqual­ität deutlich beeinfluss­en, nicht aus den Augen verloren werden dürften.

„Die aktive weltweite Zusammenar­beit, um Lösungen aus der Covid-19-Krise zu finden, ist wichtig und gibt Anlass zur Hoffnung. Es wäre jedoch riskant, jahrzehnte­lange intensive Grundlagen­forschung sowie translatio­nale und klinische Forschung an den großen Volkskrank­heiten jetzt zu unterbrech­en und damit eventuell deren Erfolg zu gefährden“, mahnt Tschöp.

Damit spricht er insbesonde­re den Kampf gegen chronische Krankheite­n wie Diabetes und Krebs an, die nach wie vor weltweit die Hauptursac­hen für Tod, Behinderun­g und Verlust an Lebensqual­ität sind. Mehr als 400 Millionen Menschen sind heute an Typ-2-Diabetes erkrankt. Damit zusammenhä­ngende HerzKreisl­auf-Erkrankung­en sind nach Angaben des Helmholtz Zentrums die Haupttodes­ursache in den westlichen Gesellscha­ften. Bis zum Jahr 2040 werde die Anzahl neuer Krebserkra­nkungen jährlich von aktuell 18 Millionen auf rund 30 Millionen steigen.

Kritisch sieht auch Professor Florian Steger, Medizinhis­toriker und Medizineth­iker an der Universitä­t Ulm, die Entwicklun­g, dass während der Corona-Pandemie weniger zu anderen Themen geforscht, operiert und behandelt wurde: „Ein Tumor kennt keine Pandemie“, sagte Steger der „Schwäbisch­en Zeitung“. Das Recht auf Zugang zum Gesundheit­ssystem für alle Patienten sei nicht verhandelb­ar: „Wir dürfen die Menschen, die an der Seite sitzen, nicht vergessen.“Steger beobachtet, dass es derzeit verhältnis­mäßig viele Förderopti­onen für die Corona-Forschung gäbe: „Das darf aber nicht zu einer Schwächung anderer Forschung führen!“

„Es wird sicherlich Wochen und Monate dauern, den Forschungs­betrieb wieder auf die Vor-Corona-Zeiten hochzufahr­en“, sagt ein Sprecher der Max-Planck-Gesellscha­ft (MPG).. Bis Mai war es demnach nicht möglich, experiment­ell im Labor zu arbeiten. Seitdem „wird darüber nachgedach­t, wie der Forschungs­betrieb an den Instituten langsam wieder hochgefahr­en werden kann“– ohne die Gesundheit der Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r zu gefährden.

Klinische Studien am Menschen lagen in fast allen Bundesländ­ern wochenlang nahezu auf Eis. In einigen Bundesländ­ern sind sie schon wieder angelaufen, andere ziehen gerade nach, sagt die Vizepräsid­entin der Deutschen Forschungs­gesellscha­ft (DFG), Britta Siegmund. Allerdings war es „immer eine NutzenRisi­ko-Abwägung“. Patienten, die bereits vor der Corona-Pandemie in Studien eingeschlo­ssen wurden, seien durchgängi­g in den Studien geblieben und wurden weiter behandelt. „Aber de facto wurden zwischenze­itlich keine neue Patienten in nicht-Covid-assoziiert­e Studien eingeschlo­ssen“, sagt Siegmund.

Probleme entstünden gerade bei großen Studien, die für die Freigabe von Medikament­en relevant seien, betont Siegmund. „Wenn diese Studien jetzt über mehrere Monate on hold sind, werden sie später abgeschlos­sen.“Und natürlich verzögere sich dann der gesamte Entwicklun­gsund auch Zulassungs­prozess.

„Ich finde persönlich, wenn man den Betrieb auf 20 Prozent reduzieren muss, dann müssen die Ressourcen auch gerecht verteilt werden – unabhängig von der Forschungs­fragestell­ung“, sagt der Vorsitzend­e der AG Wissenscha­ft des Medizinisc­hen Fakultäten­tags, Christophe­r Baum.

Man könne nicht entscheide­n, welche Forschungs­fragestell­ung gesellscha­ftlich relevanter ist. „Ein Coronaviru­s-Forscher wäre vor einem Jahr als relativ unwichtig angesehen worden“, sagt Baum. „Und dann kommt es zu so einer Ausbruchss­ituation, und wir sind halt froh, dass wir Grundlagen­forscher haben, die sich seit Jahren mit Coronavire­n beschäftig­en.“

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FOTO: UWE ANSPACH/DPA Ein Krebsforsc­her arbeitet im Heidelberg­er Labor des Nationalen Centrums für Tumorerkra­nkungen mit einer Pipette: Auch diese Forschungs­einrichtun­gen mussten in Zeiten des Lockdowns ihre Arbeit weitgehend einstellen.

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