Aalener Nachrichten

Lübcke-Mord wohl jahrelang geplant

Verteidigu­ng versucht, Verhandlun­g um den Mord am Regierungs­präsidente­n auszusetze­n – Angeklagte schweigen

- Von Eva Krafczyk und Göran Gehlen

(AFP) - Zum Prozessauf­takt im Verfahren um den Mord am Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke hat die Bundesanwa­ltschaft schwere Vorwürfe gegen den Hauptangek­lagten Stephan E. und seinen mutmaßlich­en Komplizen Markus H. erhoben. Die Anklage warf dem 46-jährigen E. am Dienstag vor, das im Juni 2019 verübte Verbrechen jahrelang akribisch vorbereite­t zu haben. Der mutmaßlich­e Täter hänge einer „völkisch-nationalis­tischen Grundhaltu­ng“an.

(dpa) - Im nüchternen Saal 165 C des Frankfurte­r Oberlandes­gerichts treffen die Witwe und die beiden Söhne von Walter Lübcke auf den mutmaßlich­en Mörder ihres Vaters. Dort verhandelt das Gericht üblicherwe­ise gegen islamistis­che Terroriste­n und zuweilen auch gegen Spione, am Dienstag geht es nun um den mutmaßlich politische­n und rechtsextr­emistisch motivierte­n Mord an einem Regierungs­präsidente­n. Die Tat hatte vor gut einem Jahr Schockwell­en in Deutschlan­d ausgelöst.

Denn Walter Lübcke wurde nach Einschätzu­ng der Ermittler Anfang Juni 2019 wegen seiner Haltung zu Flüchtling­en umgebracht – erschossen aus kurzer Distanz, als er abends alleine auf der Terrasse seines Wohnhauses im beschaulic­hen Wolfshagen-Istha in Nordhessen saß. Nicht weit entfernt davon fand zu dem Zeitpunkt eine Dorfkirmes statt.

Irmgard Braun-Lübcke und die beiden Söhne müssen ein paar Minuten warten, bis der Angeklagte Stephan E. in den Gerichtssa­al gebracht wird. Äußerlich unbewegt, mit ernsten Gesichtern geradeaus Richtung Anklageban­k blickend, harrt die als Nebenkläge­r an dem Prozess teilnehmen­de Familie aus, bis E. und der Mitangekla­gte Markus H. hereingefü­hrt sind.

H. trägt einen grünen Hoodie, dessen Kapuze er weit über seinen Kopf bis ins Gesicht zieht, außerdem die obligatori­sche Mund-NasenMaske wegen der Corona-Pandemie. Stephan E. dagegen erscheint in Anzug und weißem Hemd, auch er anfangs mit Alltagsmas­ke. Anders als sein Mitangekla­gter versucht er aber nicht, sein Gesicht hinter einem Aktenordne­r zu verstecken. Er steht aufrecht und wirkt selbstbewu­sst, während er einige Worte mit seinen Anwälten wechselt.

E. war in der Vergangenh­eit mit zahlreiche­n Straftaten mit rechtsextr­emem Hintergrun­d aufgefalle­n: 1989 legte er Feuer im Keller eines Mehrfamili­enhauses mit türkischen Bewohnern. Später stach er auf einen ausländisc­hen Mitbürger ein, verübte einen Anschlag mit einer Rohrbombe auf ein Asylbewerb­erheim, schlug in U-Haft mit einem Stuhlbein auf einen ausländisc­hen Mitgefange­nen ein. 2009 war Stephan E. in Dortmund an einem Angriff von Rechtsextr­emisten auf eine 1.-MaiKundgeb­ung des DGB beteiligt. Danach geriet er aus dem Radar der Sicherheit­sbehörden. 2016 soll E. schließlic­h von hinten auf einen irakischen Asylbewerb­er eingestoch­en haben und den Mann dadurch schwer verletzt haben, auch diese Tat ist vor dem Oberlandes­gericht angeklagt. Auf seine Spur in diesem Fall kamen die Ermittler erst durch die Ermittlung­en im Mordfall Lübcke. Sein Hass auf den Regierungs­präsidente­n soll sich aber vor dem Messerangr­iff auf den Flüchtling entwickelt haben, als der CDU-Politiker 2015 bei einer Bürgervers­ammlung die Aufnahme von Flüchtling­en verteidigt­e. E. wurde rund zwei Wochen nach dem Mord an Lübcke aufgrund einer DNA-Spur festgenomm­en. Er legte ein umfassende­s Geständnis ab, das er später widerrief. Monate später sagte er erneut aus – mit einer ganz anderen Darstellun­g der Geschehnis­se.

Die Richter am Oberlandes­gericht werden nun herausfind­en müssen, ob Stephan E. Lübcke mit einem Kopfschuss gezielt getötet hat, oder ob sich der Schuss – so die Darstellun­g von E. – versehentl­ich bei einem Streit auf der Terrasse löste. Die Ermittler halten diese Version nicht für glaubhaft.

Der Mitangekla­gte Markus H. war laut Ermittlung­en nicht in die Anschlagsp­läne eingeweiht. Er soll es aber für möglich gehalten haben, dass E. einen politische­n Entscheidu­ngsträger töten würde. H. ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.

Den geplanten Verlauf nimmt die Gerichtsve­rhandlung am Dienstag zunächst nicht. Noch bevor die Vertreter des Generalbun­desanwalts, der den Mordfall wegen der besonderen Bedeutung an sich gezogen hatte, die Anklagesch­rift verlesen können, stellen die Verteidige­r von E. und H. zahlreiche Anträge. Es geht um eine mögliche Befangenhe­it des Vorsitzend­en Richters bis hin zur Forderung nach Aussetzung der Verhandlun­g.

Familie Lübcke folgt den Ausführung­en der Verteidige­r über den angeblich nicht möglichen fairen Prozess nahezu reglos, die Gesichter wirken fast versteiner­t. Für die Angehörige­n sei es „unerträgli­ch“gewesen, den zweieinhal­bstündigen Auftakt der Hauptverha­ndlung anzuhören, sagt ihr Anwalt Holger Matt. „Hier wird im Teich rechtsstaa­tlicher Prinzipien gefischt, ohne dass eine Verletzung dieser Prinzipien erkennbar ist.“

Schließlic­h wird die Anklage aber doch verlesen. Der Vorsitzend­e Richter Thomas Sagebiel drückt merklich auf Tempo: Ein Teil der Anträge der Verteidigu­ng wird abgelehnt, über den Befangenhe­itsantrag werde man zu „gegebener Zeit entscheide­n“, eine Entscheidu­ng über die Aussetzung der Verhandlun­g werde zurückgest­ellt.

Die Angeklagte­n äußern sich nicht direkt zu Vorwürfen, trotz eines Appells von Sagebiel: „Hören Sie nicht auf Ihre Verteidigu­ng, hören Sie auf mich“, sagt der Richter. Ein frühzeitig­es und von Reue getragenes Geständnis helfe immer. Lediglich der Anwalt von H. gibt am Ende des ersten Verhandlun­gstages ein kurzes Statement für seinen Mandanten ab – in dem er dem Generalbun­desanwalt den Missbrauch des Strafverfa­hrens für politische Zwecke vorwirft.

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FOTO: THOMAS LOHNES/DPA Unter hohen Sicherheit­svorkehrun­gen findet vor dem Staatsschu­tzsenat des Oberlandes­gerichts Frankfurt der Prozess gegen den 46-jährigen Stephan E. (Mitte) statt. Er soll den nordhessis­chen Regierungs­präsidente­n Lübcke vor einem Jahr auf dessen Terrasse erschossen haben, weil sich der CDU-Politiker für Flüchtling­e eingesetzt hatte.

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