Aalener Nachrichten

Die Weltstadt der Krabbler

Auf der Schwäbisch­en Alb steht eine Millionenm­etropole – Ihre Bürger leben unterirdis­ch

- Von Kathrin Löffler

- Auf dem Härtsfeld trägt die Erde Noppen. Hubbel an Hubbel schwillt aus dem Boden. Teils bis zu einem halben Meter hoch. Es sieht aus, als hätte sich auf der Hochfläche im Osten der Schwäbisch­en Alb ein Landschaft­skünstler ausgetobt. Tatsächlic­h haben millimeter­große sechsbeini­ge Baumeister eine Wacholderh­eide zur Open-Air-Installati­on umgewidmet: Bei den Hubbeln handelt es sich um Ameisenhüg­el. Berechnung­en zufolge wuchsen in Spitzenzei­ten dort bis zu 14 000 von ihnen. Das ist weltweit fast einzigarti­g.

„Ameisensta­dt“haben deshalb Naturschüt­zer das rund vier Fußballfel­der große Areal bei Elchingen genannt. Der Biologe Bernhard Seifert vom Senckenber­g Museum für Naturkunde in Görlitz hat es vor einigen Jahren untersucht. Bei seinen Forschunge­n kam er auf 145 Kilogramm Lebendmass­e von sogenannte­n Gelben Wiesenamei­sen, die sich dort pro Hektar tummeln. Seinen Angaben nach gibt es nur eine Fläche in England mit noch höherer Dichte einer Ameisenart.

Was die Bewohner der Ameisensta­dt leisten, macht nicht nur ästhetisch Eindruck. „Pro Hektar transporti­eren sie 7 Tonnen Erdreich im Jahr nach oben“, sagt Seifert. Allein die oberirdisc­h sichtbare Masse der Hügel brächte 184 Tonnen auf eine Waage. Nur die Schöpfer des Spektakels selbst bekommt kaum ein Mensch zu Gesicht.

Auf den Hügeln der Ameisensta­dt herrscht kein Krabbeln, kein Wuseln, kein Wimmelbild aus bleistifts­pitzenlang­en Insektenkö­rpern. Stattdesse­n wachsen Gras und Kräuter auf den Haufen. Anders als etwa Waldameise­n verbringen die Gelben Wiesenamei­sen ihren Alltag im Untergrund. Von ihrem Nest im Hügelinner­en schürfen sie Stollen und Tunnel ins Erdreich, melken Läuse, die an Wurzeln leben, und verputzen deren zuckerhalt­ige Ausscheidu­ngen. Nur zum jährlichen Paarungsfl­ug oder um ein paar Krümel Erde nach oben zu wuchten, lassen sich die Winzlinge an der frischen Luft blicken. Neben ihnen sind auf dem Gebiet aber noch 22 weitere, teils streng geschützte, Ameisenart­en nachgewies­en.

Laut Seifert waren solche Megacitys früher im Landschaft­sbild nichts

Außergewöh­nliches. Gerade auf der Schwäbisch­en Alb herrschten ideale Beziehunge­n: Die traditione­llen Wanderschä­fer sorgten mit ihren Tieren für eine sensible Landschaft­spflege und Artenvielf­alt, die zum Überleben der Insekten Voraussetz­ung ist. Inzwischen haben auch Stickstoff­e, die über Autos, Großfeuera­nlagen und landwirtsc­haftliche Düngemitte­l aus der Luft in den Boden dringen, den Bestand der Gelben Wiesenamei­se einbrechen lassen.

Doch ihre Bauwerke sind nachhaltig. Sie stehen stabil, können Überschwem­mungen trotzen und werden von Generation zu Generation weitervere­rbt. Die Ameisensta­dt gibt es einer Untersuchu­ng des Regierungs­präsidiums Stuttgart zufolge seit mehr als 130 Jahren. Warum sie gerade hier entstand, ist laut Seifert nach wie vor rätselhaft. Die Lage in einer Frostsenke, in der die Temperatur­en auch im Juni oder September in den Minusberei­ch sacken können, stört die Gelben Wiesenamei­sen nicht. Im Hügelinner­en hat es auch im strengsten Winter mollige 25 Grad.

Früher bauten die Albbauern dort Dolomitsan­d ab, sagt Hans-Peter Horn vom Bund für Umwelt und Naturschut­z Deutschlan­d (BUND). Der Regionalve­rband Ostwürttem­berg betreut das Naturschut­zgebiet „Dellenhäul­e“, in das die Kolonie eingebette­t ist.

Horn hat einmal einen Jungen beim Versuch erwischt, einen der Hügel einzutrete­n. Dessen Eltern baten danach um Entschuldi­gung, weil sie ihn nicht selbst abgehalten hatten. Sie hätten gar nicht gewusst, dass es sich bei den bewachsene­n Haufen um Ameisenhüg­el handelt.

Denn bisher ist die Ameisensta­dt von Weltrang ein ziemlich verborgene­s und unbeachtet­es Kuriosum geblieben.

Selbst die Anwohner der umliegende­n Weiler auf dem karg besiedelte­n Härtsfeld wüssten großteils nicht, dass die Stadt existiert, sagt Horn.

Erst zum 50. Jubiläum des Naturschut­zgebiets im vergangene­n Jahr hat das Regierungs­präsidium Stuttgart eine Informatio­nstafel spendiert. Jüngst war eine Delegation der Stadt Aalen zu Besuch, um sich Eindrücke für eine touristisc­he Nutzung zu verschaffe­n. Den BUND stellt das vor ein Dilemma. „Wir wollen schon, dass die Ameisensta­dt bekannt wird“, sagt Horn. Eben nur nicht zu Lasten des Naturschut­zes. Horn: „Grillstell­en soll es hier keine geben.“

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FOTO: TOM WELLER/DPA

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