„Europa wieder stark machen“
Kanzlerin Merkel setzt darauf, dass die EU die richtigen Lehren aus der Corona-Krise ziehen wird
(dpa) - Kanzlerin Angela Merkel (CDU) will Deutschlands EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um Europa gestärkt aus der Corona-Krise zu führen. „Wir müssen einerseits die Folgen der Krise bewältigen, aber zugleich auch Europa widerstandsfähiger und zukunftsfähiger machen“, sagte sie am Donnerstag im Bundestag in ihrer Regierungserklärung. Die Ratspräsidentschaft geht am 1. Juli für ein halbes Jahr auf Deutschland über. Die EU stehe vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte, sagte Merkel. Sie zeigte sich überzeugt, dass Europa diese Aufgabe bewältigen könne.
Die Kanzlerin verteidigte den geplanten milliardenschweren EUWiederaufbaufonds zur Bewältigung der Folgen der Pandemie als Mittel gegen Radikale und Spaltung in Europa. „Wir dürfen nicht naiv sein: Die antidemokratischen Kräfte, die radikalen, autoritären Bewegungen, warten ja nur auf ökonomische Krisen, um sie dann politisch zu missbrauchen“, warnte sie.
In der Debatte drang die FDP darauf, den Wiederaufbau für Reformen zu nutzen. Parteichef Christian Lindner mahnte: „Das Geld darf nicht eingesetzt werden, um Strukturdefizite erneut mit Geld zuzuschütten.“ Die Grünen verlangten, mehr Gewicht auf den Klimawandel zu legen. Die AfD kritisierte die Milliardenbelastungen Deutschlands, das selbst von der Krise getroffen sei.
„Die Pandemie zeigt uns: Unser Europa ist verwundbar“, betonte Merkel. Deshalb seien Zusammenhalt und Solidarität noch nie so wichtig wie heute gewesen. „Gemeinsam Europa wieder stark machen, das genau ist das Motto der deutschen EURatspräsidentschaft.“Dafür werde sie sich „mit aller Kraft und Leidenschaft“einsetzen. Die Kanzlerin gab zu, dass sich Europa zu Beginn der Krise „unvernünftig“verhalten habe:
„Die ersten Reflexe, auch unsere eigenen, waren eher national und nicht durchgehend europäisch.“
Auch aus Merkels Sicht muss Europa die Krise nutzen, um wichtige Strukturreformen voranzubringen. Sie verwies auf Klimawandel und Digitalisierung. Die Antwort dürfe keine Rückkehr zur Vergangenheit sein. Vom Wandel beim Wirtschaften hänge es ab, ob es anschließend in Europa noch kreative und wettbewerbsfähige Unternehmen und somit auch nachhaltig gesicherte Arbeitsplätze gebe, sagte Merkel. „Das Ziel muss sein, dass es nach Corona besser ist als vorher.“
- Und erneut ist die Krisenmanagerin Angela Merkel in Europa gefragt: Wenn Deutschland im Juli für ein halbes Jahr turnusmäßig die Ratspräsidentschaft der EU übernimmt, wird es sich wieder um die Zukunft der Union drehen. Wie 2007, als Merkel schon einmal die Ratspräsidentschaft innehatte. Damals ging es um die Reform der EU, nachdem zuvor Frankreich und die Niederlande einen Verfassungsvertrag für Europa abgeschmettert hatten.
Aktuell ist die Krise noch größer. Die nach dem Austritt Großbritanniens verbliebenen 27 Staaten der Europäischen Union kämpfen mit den Folgen der Corona-Pandemie, und Deutschlands Hauptaufgabe dürfte sein, den von Merkel und Frankreichs Staatspräsident Emanuel Macron im Mai vorgeschlagenen Europäischen Wiederaufbaufonds zur Überwindung der Corona-Folgen auf den Weg zu bringen. Einfach dürfte das nicht werden, denn eigentlich alles an dem Programm ist zwischen den 27 Mitgliedern noch strittig oder unklar. Während Merkel und Macron ein Hilfsvolumen von 500 Milliarden Euro vorgestellt haben, will Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch weitere 250 Milliarden an günstigen Krediten draufpacken.
Wer das Geld wann und wie bekommen soll ist noch ebenso unklar wie die Frage, wann die EU mit der Rückzahlung der ersten eigenen Schulden beginnen will. Klar ist nur, dass es dahin gehen soll, wo Corona die Wirtschaft am stärksten verwüstet hat. Das wäre wohl vor allem Südeuropa. Doch selbst das ist noch nicht klar, weil frische Zahlen fehlen.
Die Bundesregierung will noch in diesem Sommer eine Lösung finden, gleichwohl rechnet sie mit schwierigen Verhandlungen, hieß es am Donnerstag in Regierungskreisen. So will man erreichen, dass Staaten und EUParlament
das Paket noch im Herbst auf den Weg bringen und der Fonds bereits zum Jahreswechsel starten kann.
Einen ersten Vorgeschmack dürfte es bereits an diesem Freitag geben: Bei einem EU-Videogipfel wollen sich die Staats und Regierungschefs erstmalig aussprechen. Dabei dürften auch die tiefen Gräben zutage treten: Die sich selbst „Sparsame Vier“nennenden Staaten Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande
wollen das Hilfsprogramm abspecken – und es vor allem als Kredite ausgeben. In einem Gastbeitrag für die „Financial Times“unterstrich das Quartett in dieser Woche seine Position: „Wenn wir als EU Geld aufnehmen, ist es der sauberste Weg, dieses Geld in Kredite für jene umzuwandeln, die sie am dringendsten brauchen, zu den besten Konditionen“, schreiben die Staaten, die von Kritikern „Geizige Vier“genannt werden.
Dass auch Deutschland mit dem Merkel/Macron-Plan diesen Weg verlassen hat, dürfte für viele Diskussionen sorgen. Insgesamt werden Deutschland und die Kanzlerin von Juli bis Dezember besonders gefragt sein. Das größte Land der EU hat schon per se ein hohes Gewicht, mit der Ratspräsidentschaft wächst dieses noch weiter. „Wir werden eine sehr sichtbare Rolle spielen müssen, ob wir wollen oder nicht“, sagt ein Diplomat.
Corona und der Streit ums Geld dürfte die deutsche Ratspräsidentschaft beherrschen. Dass die Bundesregierung mit einem (verbindenden) Möbiusband als Symbol und dem Motto „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“in die Vorsitzmonate startet, kommt nicht von ungefähr. Die anderen Themen, die sich die Berliner Ministerriege vorgenommen hat, kommen da wohl zu kurz: So will das Familienministerium die Frauenrechte, das Wirtschaftsministerium den Binnenmarkt stärken und das Agrarministerium für ein europäisches Tierwohlsiegel werben. Doch Corona hat die Projekte durcheinandergewirbelt und vielfach gestoppt: Die neue EUKommission hatte andere Probleme, die aktuelle kroatische Ratspräsidentschaft ebenfalls. Zudem konnten die Minister coronabedingt nicht reisen. Und manches kann eben nicht so gut am Telefon geklärt werden.
Das mit dem Reisen ändert sich gerade: Am Donnerstag flog Außenminister Heiko Maas (SPD) zu VorRatspräsidentschaftsgesprächen nach Wien und Sofia. Auch der nächste EU-Gipfel könnte bereits im Juli wieder ganz real in Brüssel stattfinden, samt nächtelanger zäher Verhandlungen hinter verschlossenen Türen. In großen Sälen und mit kleineren Delegationen sei das auch unter Abstandsbedingungen machbar, heißt es in der Bundesregierung.
Ein Thema dürfte von Corona nicht dauerhaft übertüncht werden: der Brexit. Zwar ist Großbritannien bereits nicht mehr EU-Mitglied, doch bis Jahresende sind die Briten noch im Binnenmarkt. Zum Jahresende will Großbritanniens Premierminister Boris Johnson den aber definitiv verlassen – und bislang gibt es weder ein Handelsabkommen für die Zeit danach noch nennenswerte Fortschritte bei den Verhandlungen. In der Bundesregierung ist man sich sicher, dass es zum Jahresende noch zu heißen Verhandlungen kommt.