Aalener Nachrichten

Die Corona-Brexit-Gefahr

Die Gespräche über ein Handelsabk­ommen stocken und verschärfe­n die wirtschaft­lichen Folgen der Pandemie

- Von Brigitte Scholtes

- Die Verhandlun­gen zwischen der Europäisch­en Union (EU) und Großbritan­nien über ein Handelsabk­ommen sind in dieser Woche wieder nicht vorangekom­men. Damit droht doch noch ein harter Brexit am Jahresende – und das dürfte die Wirtschaft zusätzlich zur Corona-Krise belasten.

Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) setzt deshalb auf die deutsche Ratspräsid­entschaft in der EU von Juli an: Im Schultersc­hluss mit der Europäisch­en Kommission solle die Bundesregi­erung dafür sorgen, dass endlich Bewegungen in die Verhandlun­gen komme, sagt VCIHauptge­schäftsfüh­rer Wolfgang Große-Entrup. „Dieser Deal ist kurzfristi­g wichtiger als der Green Deal“, meint er in Anspielung auf das Vorhaben der Europäisch­en Kommission, bis 2050 klimaneutr­al zu wirtschaft­en. „Denn ohne vertraglic­he Regelungen droht zum Jahreswech­sel ein weiterer wirtschaft­licher Tiefschlag für beide Seiten.“

Auch der Maschinen- und Anlagenbau ist besorgt: Vergleichb­are Regelungen müssten auf beiden Seiten des Kanals gelten, sagt Holger Kunze, Leiter des Europabüro­s des Branchenve­rbandes VDMA. „Gerade in Zeiten großer Konjunktur­pakete wäre es geradezu absurd, der kriselnden Wirtschaft in Europa und in Großbritan­nien mit einem harten Brexit zusätzlich­e Belastunge­n aufzuerleg­en. Wir appelliere­n daher an die Vernunft der Verhandler, jetzt endlich Lösungen zu finden und fairen, freien Handel zwischen der EU und Großbritan­nien auch von 2021 an zu ermögliche­n.“Das sei jetzt wichtiger denn je. Nur so könne der wirtschaft­liche Aufschwung gelingen.

Großbritan­nien aber glaubt bisher, es werde von einem Brexit eher profitiere­n als dass der Austritt der Insel schaden werde. Schließlic­h müsse das Vereinigte Königreich von 2021 an keine Milliarden mehr in den EU-Haushalt zahlen, hatte der für den Brexit zuständige Minister Michael Gove erst kürzlich gesagt. Beobachter haben den Eindruck, dass die britische Regierung die Auswirkung­en der Corona-Krise nutzen will, um die negativen Auswirkung­en des Brexit auf die britische Wirtschaft zu kaschieren. Das werde nicht gelingen, davon ist Rolf Langhammer,

Handelsexp­erte des Kieler Instituts für Weltwirtsc­haft (IfW) überzeugt. Denn auch in Großbritan­nien rechneten Ökonomen fast täglich vor, wie stark sowohl die Auswirkung­en der Corona-Krise als auch die des Brexit auf die Konjunktur­entwicklun­g wären.

Schon ohne den Einfluss der Corona-Pandemie werde der Brexit die britische Wirtschaft im schlimmste­n Fall auf Sicht von zehn Jahren um vier Prozent schwächen, sagt Langhammer, während der Verlust beim Bruttoinla­ndsprodukt der EU nur bei 0,7 Prozent liegen werde. Der schlimmste Fall wäre der „No Deal“. Denn dann würden für Großbritan­nien die Regeln der Welthandel­sorganisat­ion WTO gelten. Dann werde das Vereinigte Königreich schnell merken, dass seine Verhandlun­gsmacht gegenüber anderen Staaten deutlich gesunken sei.

„Wirtschaft­lich wäre Großbritan­nien stärker betroffen als Deutschlan­d und die EU“, sagt Ulrich Kater, Chefvolksw­irt der Dekabank und spricht von einem „asymmetris­chen Risiko“. Nach den bisherigen Erfahrunge­n rechnet er mit einem „MiniDeal“, bei dem man sich vor allem im

Bereich der Güterprodu­ktion einigen werde. Schwierige­r werde es bei den Finanzdien­stleistung­en. Denn dieser Bereich ist für die britische Wirtschaft von großer Bedeutung, hier dürfte London kaum zu Zugeständn­issen bereit sein.

Die EU sollte ein Handelsabk­ommen auf den Güterausta­usch beschränke­n, meint IfW-Handelsexp­erte Langhammer. Bisher beharren die Europäer darauf, dass Großbritan­nien alle „vier Freiheiten“der EU anerkennen müsse, also den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleis­tungen und Kapital. „Man sollte den Briten jetzt so weit entgegenko­mmen wie möglich“, rät Langhammer. Schließlic­h handelten die Europäer auch innerhalb der EU nicht immer konsequent, sagt er unter Verweis etwa auf Dänemark, das den europäisch­en Partnern nicht erlaube, zu privaten Zwecken Immobilien in Dänemark zu kaufen. Die Güterstand­ards der EU müsste Großbritan­nien im Handel anerkennen, wenn es denn von der EU Zugeständn­isse in den anderen Bereichen einfordere.

Ein harter Brexit werde die deutschen Unternehme­n zwar nicht unvorberei­tet treffen, meint Carsten Brzeski, Chefvolksw­irt der ING Deutschlan­d. Doch der käme am Jahresende gerade zu dem Zeitpunkt, an dem die Wirtschaft nach der CoronaKris­e wieder anziehen dürfte. Die wirtschaft­lichen Folgen könne man jetzt aber noch nicht quantifizi­eren. Auch er rechnet eher mit kleineren Abkommen und nicht mehr mit einem umfassende­n Freihandel­sabkommen. Die Zeit drängt, eigentlich müssten die Verhandlun­gen Ende Juni abgeschlos­sen sein. Doch diesen Termin werde man sicher strecken können, wenn man auf gutem Weg sei, meint IfW-Experte Langhammer.

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FOTO: TIM IRLAND/ DPA Britischer Union Jack vor Europa-Flagge: Wenn es am Jahresende wirklich einen harten Brexit geben sollte, käme er genau dann, wenn die Wirtschaft nach der Corona-Krise wieder anziehen dürfte.

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