Grüne mit neuem Grundsatzprogramm
Grüne entwerfen neues Grundsatzprogramm und verabschieden sich von alten Positionen
(dpa) - Mit einem neuen Grundsatzprogramm wollen die Grünen die bisherigen Volksparteien von der Spitze verdrängen. „Unsere Aufgabe ist, eine krisenhafte Gesellschaft demokratisch für die Breite zu gestalten“, sagte Parteichefin Annalena Baerbock. Die wichtigste Veränderung sei, dass die Grünen sich nicht mehr nur um Klimaschutz, Artenschutz und Soziales kümmerten, sondern auch in Bereichen wie Bildung, Sicherheit und Gesundheit die Debatte anführen wollten.
- Er ist eine Mischung aus Ökoklassikern und Signalen an die bürgerliche Mitte – am Freitag haben die Grünen in Berlin einen Entwurf für ihr neues Grundsatzprogramm vorgestellt. „Wir formulieren damit den Anspruch, in allen Politikbereichen inhaltlich zu führen“, sagte Parteichefin Annalena Baerbock. Vorbei seien die Zeiten, in denen sich die Grünen darauf konzentriert hätten, die Politik der anderen zu korrigieren.
Zwei Jahre hat sich die Partei Zeit genommen, um in zahlreichen Mitgliederkonferenzen das insgesamt vierte Programm der Parteigeschichte zu erarbeiten. Auf dem Parteitag im November soll es beschlossen werden.
Die Grünen wollten die Partei der „Klimaneutralität, Gerechtigkeit, des Minderheitenschutzes und der vielfältigen Gesellschaft“bleiben, heißt es gleich zu Beginn. Hinzu kommen aber Forderungen, die bisher noch nicht breit in die Öffentlichkeit getragen wurden – etwa die nach einer Europäisierung der Grundstoffindustrie. „Stahl, Aluminium, Glas, Papier oder Chemikalien“müssten weiter in Europa produziert werden, um eine Abhängigkeit von außereuropäischen Ländern zu vermeiden. Gleiches gelte für „systemrelevante Produkte wie medizinische Präparate“. Auf den Markt sei kein Verlass. Ebenfalls bisher nicht so klar geäußert wurde die Idee eines kompletten Umbaus der Gesundheitsfinanzierung und einer Reform der Fallpauschalen.
Deutlich spürbar ist bei vielen Themen die Distanz der heutigen Grünen zu den Positionen ihrer Vorgänger. So taucht der Begriff „Direkte Demokratie“im Entwurf nicht mehr auf. Der Brexit habe gezeigt, wie leicht solche Abstimmungen zu manipulieren seien, heißt es dazu aus der Grünen-Spitze. Stattdessen sollen nun Bürgerräte mit gelosten Mitgliedern den Parlamenten und Regierungen „beratend“zur Seite stehen, auch auf Bundesebene. Zum bei vielen Basis-Grünen verhassten Reizwort Gentechnik steht im Entwurf: „Nicht die Technologie, sondern die Folgen der jeweiligen Anwendung für Mensch und Umwelt“seien zu beurteilen – die Nutzung der Gentechnik wird also nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Der Wunsch vieler Grüner nach Kassenfinanzierung der Homöopathie fand dagegen keinen Eingang in den Text. Nur „Leistungen, deren Wirksamkeit wissenschaftlich erforscht ist, müssen von der Solidargemeinschaft übernommen werden“, heißt es unmissverständlich.
Wie weit sich die Grünen von manchen früheren Positionen verabschiedet haben, zeigt das Kapitel Globale Sicherheit. Die Nato sei unverzichtbar, heißt es da. Viele Altvordere waren da ganz anderer Meinung.
Das neue Grundsatzprogramm ist ein doppeltes Geburtstagsgeschenk. Die Grünen selbst schenken es sich zum 40. Geburtstag, den sie im Januar gefeiert haben.
Und der CDU schenkten sie es am Freitag zum 75., und zwar im Wortsinn: Zusätzlich zu einem Gastbeitrag in der „FAZ“, in dem Baerbock und Habeck die CDU als „Garant für Stabilität und Verlässlichkeit“bezeichneten, gab es einen Präsentkorb mit Rhabarberschorle, Ingwerknolle – und einer Fassung des Entwurfs. Ob man das als „Kampfansage“verstehe, müsse jeder selbst entscheiden, scherzte Baerbock.
Dabei ist der Kampfansage-Charakter ziemlich eindeutig. Schon die Überschrift: „ …zu achten und zu schützen … – Veränderung schafft Halt“bezieht sich auf Artikel eins des Grundgesetzes. In dem heißt es, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, sei Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Schon länger kokettieren die Grünen damit, dass sie, die sich einst als Anti-Parteien-Partei gegründet hatten, nun als Verfassungsschützer gebraucht würden – eine Rolle, die sich sonst die Konservativen zuschreiben.
Baerbock beschrieb als einen Leitgedanken des Grundsatzprogramms das progressive Nach-vorn-Denken mit dem Schützen und Bewahren zu kombinieren. Also mit dem „Konservativen“. Sie und Habeck sind auch schon unter dem Motto „Des Glückes Unterpfand“, einem Zitat aus der Nationalhymne, durch Deutschland getourt, übrigens zum Ärger vieler vor allem im linken Parteiflügel. Praktischerweise ist das nicht nur ein Angriff auf die Union, es dürfte auch das Anbahnen einer künftigen Koalition erleichtern.