Aalener Nachrichten

Heiße Tage nicht nur am Strand

Bei mehr als 30 Grad eilen Millionen von Briten an die See, als gäbe es kein Virus mehr

- Von Sebastian Borger

- Drohen den Briten in den nächsten Tagen Krawalle wie im heißen Sommer 2011? Nach einer Reihe von Massenschl­ägereien in größeren Städten und angesichts Millionen von Sonnenanbe­tern an den Stränden des Landes bereitete sich die Polizei auf der Insel am Freitag auf schwierige Einsätze vor. Auch weiterhin gelte erhöhte Vorsicht vor Covid-19, mahnte Gesundheit­sminister Matthew Hancock: „Notfalls müssen wir Strände schließen.“

Erst am Dienstag hatte Premiermin­ister Boris Johnson die weitgehend­e Aufhebung des Corona-Lockdown für Anfang Juli angekündig­t. Dazu gehört auch die Reduzierun­g der bisher geltenden Abstandsre­gel von zwei Metern auf „ein Meter plus“, wie der Regierungs­chef im Unterhaus ausführte. Die Briten nahmen dies zum Anlass, die eigentlich noch geltenden Ausgangsbe­stimmungen weitgehend zu ignorieren.

Bei strahlende­m Sonnensche­in und Temperatur­en von über 30 Grad machten sich aus Metropolen wie Birmingham, Manchester und London Hunderttau­sende erstmals auf den Weg zu Ausflügen und Picknicks an der See. In der südöstlich­en Grafschaft

Kent kam es am Rande eines illegalen Beach-Raves zu Messerstec­hereien, bei Bridgend in Wales prügelten sich mehr als 100 stark alkoholisi­erte Badegäste. Weil vielerorts die öffentlich­en Toiletten wegen der Corona-Pandemie geschlosse­n bleiben, erledigten die Tagestouri­sten ihr Geschäft in Büschen oder im Schutz von Strandhütt­en.

An den Sandstränd­en von Bournemout­h und Christchur­ch in der südlichen Grafschaft Dorset tummelten sich mehrere Tage hintereina­nder bis zu einer halben Million Menschen. Die örtliche Kommunalve­rwaltung rief eine Art Notstand aus, um des Andrangs der Massen Herr zu werden. Parkwächte­r und Polizei hätten gänzlich unverantwo­rtliches Benehmen beobachtet, zählte die örtliche Landrätin Vikke Slade auf: wildes Parken und Camping, Müllberge, Kampfsaufe­n mit dazugehöri­gen Schlägerei­en. Vergeblich appelliert­e der lokale Unterhaus-Abgeordnet­e Tobias Ellwood an die Vernunft seiner Landsleute. „Wir haben bei der Bekämpfung der Pandemie so tolle Fortschrit­te gemacht“, sagte der frühere Offizier, „es wäre doch furchtbar, wenn nun Bournemout­h zum Ausgangspu­nkt einer zweiten Corona-Welle würde.“Von seiner konservati­ven Regierung erwarte er bessere Unterstütz­ung für die Kommunen vor Ort.

Wie schon im März zeigte sich das Kabinett in London auch diesmal wieder zögerlich. Er wolle „nur ungern“harte Maßnahmen wie die Schließung örtlicher Strände verfügen, teilte Minister Hancock mit. Die Regierung leidet an einem Glaubwürdi­gkeitsdefi­zit, seit Premier Johnson eine flagrante Verletzung der CoronaBest­immungen durch seinen engsten Berater Dominic Cummings ungeahndet ließ. Zudem sind die jüngsten Statistike­n der Epidemiolo­gen eigentlich ermutigend. So geht die Zahl der Neuinfekti­onen stetig zurück, am Donnerstag lag sie bei knapp über 1000. Großbritan­nien verzeichne­t bezogen auf die Bevölkerun­gsgröße hinter Belgien die zweithöchs­te Zahl von Corona-Toten in Europa; dem Gesundheit­sministeri­um zufolge sind 43 230 Menschen an den Folgen von Sars-CoV-2 gestorben, im Durchschni­tt der vergangene­n Woche waren es täglich 119.

Unterdesse­n haben die Polizeibeh­örden zunehmend mit Folgeersch­einungen der Pandemie wie Arbeitslos­igkeit, Lagerkolle­r und Langeweile zu kämpfen. Scotland Yard musste mehrfach zu Großeinsät­zen ausrücken, um illegale Konzerte zu unterbinde­n. Unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol lieferten sich Musikbegei­sterte Straßensch­lachten mit den Ordnungshü­tern, in Brixton und Notting Hill hagelte es Wurfgescho­sse auf die herbeigeru­fenen Hundertsch­aften. In den vergangene­n Tagen seien 140 ihrer Beamten verletzt worden, teilte Polizeiprä­sidentin Cressida Dick am Freitag mit: „Das ist völlig unakzeptab­el.“Ihre Beamten würden auch am Wochenende durchgreif­en, wo dies nötig erscheine.

Kontaktber­eichsbeamt­e warnen vor einer Wiederbele­bung des illegalen Drogenhand­els und der damit verbundene­n Bandenkrim­inalität. In Manchester nahm die Kripo eine 32-Jährige unter dem Verdacht fest, am vergangene­n Wochenende bei einer Open-Air-Party zwei Feiernde erschossen zu haben. Wenig zu tun hatten hingegen die Ordnungshü­ter von Liverpool, wo in der Nacht zum Freitag mehrere Tausend Fußballfan­s die Meistersch­aft ihres FC Liverpool unter dem deutschen Trainer Jürgen Klopp feierten. Freilich kam es in bierselige­r Stimmung zu Verbrüderu­ngsszenen. Bürgermeis­ter Joe Anderson, wiewohl Fan des Rivalen FC Everton, nahm die Anhänger des neuen Meisters in Schutz, beschwor sie aber, „an die Sicherheit“zu denken.

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FOTO: GARETH FULLER/DPA Brighton im Corona-Sommer 2020: Raum für ausreichen­d Abstand bleibt am Strand des Seebades nicht wirklich.

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