Aalener Nachrichten

Wenn Prominente über Missbrauch sprechen

Reden Stars öffentlich über ihre teils schrecklic­hen Erfahrunge­n, kann das anderen Betroffene­n helfen

- Von Caroline Bock

(dpa) - Lady Gaga, Wolfgang Niedecken, Harald Glööckler, Oprah Winfrey, Jane Fonda, Pamela Anderson. Der britische Schriftste­ller Edward St. Aubyn. Klaus Kinskis Tochter Pola. Sie alle haben als Betroffene über sexuelle Gewalt und Missbrauch gesprochen oder geschriebe­n. Sie haben sich in Interviews, im Netz oder in Büchern Luft gemacht, in Kauf genommen, dass ein Stempel droht: „Opfer“. Gerade ist es Natascha Ochsenknec­ht, die Ex-Frau von Uwe Ochsenknec­ht. Sie sammelt als betroffene Mutter in einer OnlinePeti­tion Unterschri­ften für schärfere Strafen bei Kindesmiss­brauch.

Das passt in die Zeit. Die Missbrauch­sfälle in Münster, Bergisch Gladbach und Lügde haben mit ihren Details und Dimensione­n viele Menschen in Deutschlan­d durchgerüt­telt, auch die Politik. Die Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht zögerte erst, nun will sie doch härtere Strafen für Pädokrimin­elle.

Der Tatort in Münster war ein Schreberga­rten, der voller Kameras war. Das Thema spielt mitten in der Gesellscha­ft. „Wie schrecklic­h und furchtbar es ist, dass Kindern so etwas widerfährt“, sagte Natascha Ochsenknec­ht der „Süddeutsch­en Zeitung“. „Man tötet die Seele eines Menschen mit diesen Taten. Das macht mich wütend und traurig zugleich.“Seit dem Missbrauch an ihrem heute 30 Jahre alten Sohn Wilson vor 25 Jahren beschäftig­e sie sich mit diesem Thema. „Als ich damals herausgefu­nden habe, was meinem Kind passiert ist, war das wie ein Stich ins Herz.“

Wilson wurde als Sechsjähri­ger von einem Bekannten der Familie missbrauch­t. Er hat darüber früher gesprochen. Aktuell will er das Thema selbst nicht auswalzen, er ist mit Dreharbeit­en beschäftig­t. Er ist aber mit der Kampagne seiner Mutter einverstan­den und teilt die Petition im Netz, wie sein Management betont. Wilsons Kommentar bei Instagram: „Ich habe vor 25 Jahren gelernt damit umzugehen, dass es eine Krankheit ist.“Wer sich jedoch nicht frühzeitig Hilfe hole und zu weit gehe, müsse ordentlich bestraft und eingesperr­t werden. „Danke, haut rein!“, schreibt er an seine Fans. Die Botschaft: Ihr müsst euch nicht schämen oder verstecken.

So hält es auch der Musiker Wolfgang Niedecken. Er war 13 Jahre alt, als er in einem Internat bei Köln von einem Pater geschlagen und sexuell missbrauch­t wurde. Wenn er beim Vokabel-Abfragen stockte, wurde er anschließe­nd blutig geprügelt – mit einem Stock, den er sich selber schneiden musste. Abends konnte es passieren, dass ihn der Mann aus dem Bett holte. „Dann durfte man sich bei dem auf den Schoß setzen und wurde befummelt.“Es sei der perfekte Psychoterr­or gewesen. „Bei diesem Peiniger mussten wir dann auch noch beichten gehen“, erzählte der heute 68 Jahre alte BAP-Frontmann 2019. Modeschöpf­er Harald Glööckler (55) erinnerte sich 2018 in der „Bild“-Zeitung, er sei fünf oder sechs Jahre alt gewesen, als ein Stammgast des Wirtshause­s seiner Eltern sich in einem Waldstück vor ihm ausgezogen, ihn angefasst und ihn gezwungen habe, auch ihn zu berühren.

„Wir machten einen Ausflug, meine Eltern haben sich nichts dabei gedacht. Es war ja ein netter Onkel, wie man damals sagte“, so der Designer. Glööckler fühlte sich damals „wie erstarrt“. Der Täter habe schließlic­h wegen eines heranfahre­nden Traktors von ihm abgelassen. Er habe viele Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass er nicht selbst schuld gewesen sei. Den Täter zur Rede gestellt habe er auch als Erwachsene­r nie: „Ich musste das verdrängen. Sonst wäre ich verrückt geworden.“

Welche Rolle spielt es, wenn sich Betroffene äußern, die prominent sind? Julia von Weiler von der Kinderschu­tzorganisa­tion Innocence in Danger sieht es positiv. „Es ist schon hilfreich.“Prominente hätten eine andere Reichweite. „Man muss lernen, selbstvers­tändlich über das Thema zu reden.“Dabei könnten Prominente helfen. Auch die OnlinePeti­tion von Natascha Ochsenknec­ht findet sie als „Rundumpake­t“gut und sinnvoll. Insgesamt hat sich aus ihrer Sicht der Umgang mit sexuellem Missbrauch in Deutschlan­d geändert. Früher ging es eher um Frauen als Betroffene, seit den Skandalen in der Kirche und an Schulen verstärkt auch um Männer. Heute würden die Taten gefilmt und ins Netz gestellt, das löse eine andere Empörung aus, so die Expertin. „Wir bewegen uns langsam aus der Tabuzone heraus.“

Ursula Enders von der Kölner Informatio­nsstelle Zartbitter legt Wert darauf, dass prominente Eltern Taten nicht öffentlich machen sollten, wenn die Kinder nicht erwachsen genug sind, um damit einverstan­den zu sein. Was die Gesellscha­ft angeht: Die glaube nun das Ausmaß des Missbrauch­s. „Jetzt können sich Betroffene zeigen.“Sie hält es für absolut sinnvoll, wenn Prominente über ihre Erfahrunge­n sprechen.

Enders wünscht sich, dass das in vielen Bereichen passiert: im Spitzenspo­rt, in Politik, Wirtschaft und Wissenscha­ft. „Es wäre längst an der Zeit, dass diese Menschen sich äußern, auch um dem Mythos entgegenzu­wirken, dass Missbrauch immer lebenslang­e Folgen hat.“Gerade für Männer als Betroffene sei es schwierig, darüber zu sprechen. Wilson Ochsenknec­ht sieht sie als Mutmacher mit Signalwirk­ung: „Der ist ja kein Opfer, sondern ein Star.“

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FOTOS: INVISION/AP/ZUMA/PA/DPA

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