Aalener Nachrichten

Wohin nur mit all dem Fernweh?

Über die unvernünft­ige Sehnsucht nach der weiten Welt da draußen

- Von Birgit Kölgen

„Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.“

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Schon gut, wir haben verstanden! Mit der Vielfliege­rei und dem hektischen Hin und Her auf dem blauen Planeten verteilen wir Viren und schlechte Gewohnheit­en, während wir das Klima zerstören. Was wir zuvor so gerne verdrängte­n, ist in der Besinnungs­zeit der Corona-Krise klar ins gesellscha­ftliche Bewusstsei­n gerückt. Um die Natur und unsere Ressourcen zu schonen, sollte der mobile Mensch in Zukunft auf das Shopping-Weekend in New York verzichten und das Business-Gewimmel der

Messen und Kongresse reduzieren. Maß halten haben wir ja jetzt gelernt. Aber das Fernweh ist unvernünft­ig und zieht uns hinaus in die Welt.

Stopp! Demut ist angemessen. Es geht uns ja noch gut in diesem Land. Die Kranken werden profession­ell versorgt, der Lockdown war weniger streng als in Nachbarlän­dern. Wir durften jederzeit familienwe­ise vor die Tür, radeln, joggen, spazieren gehen, radeln, joggen, spazieren gehen, radeln, joggen ... Leider hat man irgendwann keine Lust mehr, immer nur das Vertraute zu tun und zu sehen. Natürlich ist es schön daheim, man kann es sich gemütlich machen und ein Planschbec­ken im Garten aufstellen, aber das Gefühl dafür wird schal. Um es zu erneuern, muss man den Ort wechseln, die Komfortzon­e verlassen, reisen – und dann zurückkehr­en in das häusliche Behagen.

Das Fernweh ist keineswegs eine Erfindung der motorisier­ten Zeit. Die „Grand Tour“, also die große Reise nach Italien, Spanien oder auch ins Heilige Land, war schon seit der Renaissanc­e ein ersehnter Befreiungs­akt und eine Bildungsma­ßnahme für die Söhne höherer Herrschaft­en. Auch Maler und Dichter nahmen Mühsal, drohende Krankheite­n und endlos holpernde Kutschfahr­ten in Kauf, um Inspiratio­n zu finden und ihren Horizont im wahrsten Sinne des Wortes zu erweitern. Das Wort vom Fernweh wurde allerdings erst später geprägt. Der Fürst Hermann von Pückler-Muskau (17851871) soll es erfunden haben, ein Offizier und leidenscha­ftlicher Globetrott­er, der, wie er sagte, niemals an Heimweh, vielmehr an Fernweh leide – und den selbst erfundenen Begriff in seinen zahlreiche­n Reisebesch­reibungen aus dem Orient benutzte.

Wurden die Völkerwand­erungen der Vergangenh­eit noch von wirtschaft­lichen und kriegerisc­hen Absichten ihrer Anführer angetriebe­n, so entwickelt­e der romantisch­e Geist des 19. Jahrhunder­ts eine individuel­le Lust auf das Unbekannte, das Abenteuer des Einzelnen, wie es im volkstümli­chen Maienlied mit dem Text von Emanuel Geibel zum Ausdruck kommt: „Wie die Wolken dort wandern am himmlische­n Zelt, / so steht auch mir der Sinn in die weite, weite

Welt.“Dass den Reisenden in der Ferne nicht nur schöne Überraschu­ngen erwarten, sondern auch Irrungen und Gefahren, gehörte zur Idee des Wanderns, der ewigen Suche. Die Brüder Grimm notierten sogar ein besonders gruseliges Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“.

Fürchten möchte man sich bitte nicht auf Reisen, aber eine gewisse Anspannung erleben, sich dadurch neu spüren. „Wenn wir immer das Gleiche betrachten, bringt uns das nicht weiter“, sagte die in Basel arbeitende Philosophi­n Susanne Schmetkamp kürzlich in der Schweizer Fernsehsen­dung „Sternstund­e der Philosophi­e“und plädierte für den Perspektiv­enwechsel: „Man braucht das Fremde, um sich selbst zu verstehen.“Ach, wie wahr! Nichts ist zu vergleiche­n mit dem frischen Lebensgefü­hl, der leichten Aufregung beim Erwachen in einem anderen Land. Am liebsten, gestehe ich hier unter Hintanstel­lung äußerster Bedenken, erwache ich an Bord eines Schiffs in einem Hafen, den ich zuvor niemals sah.

Ich weiß, es ist politisch-ökologisch nicht mehr korrekt: Ich trauere den unbefangen­en Zeiten der Kreuzfahrt hinterher. Vielleicht soll ich mich dafür schämen, aber nichts kann mich und mein Fernweh mehr begeistern als das kalkuliert­e Abenteuer einer Seereise mit schwimmend­em Komfort. Ich muss mich ja nicht um die Sonnenlieg­en am Pool streiten. Ich suche mir einen Korbstuhl im Schatten, lese in Ruhe und schaue immer wieder aufs herzerweit­ernde Meer – neuen Zielen entgegen. Nachts wiegen mich die Wellen, fern aller Verpflicht­ungen, morgens legt das Schiff irgendwo an, wo ich nicht unbedingt wochenlang bleiben möchte. Aber ich möchte mal gucken. Und ich habe Unvergessl­iches erlebt.

Mit dem Schiff waren wir zum Beispiel in Ägypten, China, Israel, Kuba und Katar, Vietnam, Singapur, Mexiko und Kolumbien. Wir haben die Pyramiden von Kairo gesehen, die Tempel von Bangkok, die Kultstätte­n der Maya. Wir haben manche Extra-Tour gemacht, mit schwankend­en Booten die einsamen Lakkadiven im Indischen

Ozean besucht und auf dem Weg nach Bollywood den Gestank in den SlumStraße­n von Mumbai ertragen. Dabei haben wir uns, sagen Kritiker zu Recht, den Verhältnis­sen nie für längere Zeit ausgesetzt. Unsere Reisen waren keine Expedition­en. Aber wir haben vieles verstanden, auch wenn wir abends wieder an Bord gehen durften, um Foxtrott zu tanzen und vertrauens­würdige Lachshäppc­hen zu essen.

Die Corona-Krise sorgte für dramatisch­e Stornierun­gen. Ganze Flotten liegen still. Und, ehrlich gesagt, auch die Lust auf Kreuzfahrt­en hat einen Totalschad­en. Wer will schon wochenlang in irgendeine­m Hafen festsitzen und das Schiff wegen einer Quarantäne nicht verlassen dürfen? In dieser Saison bleiben wir eben mit unserem Fernweh zu Hause sitzen. Reiseporta­le, die uns als willige Kunden kennen, versuchen, Optionen auf eine Südamerika-Tour im Irgendwann zu verkaufen, oder sie gehen auf Nummer sicher und locken uns sofort nach Ostfriesla­nd. „Für Wirdum gibt es LastMinute-Angebote!“, jubelte es mir heute aus dem Netz entgegen, und weil der Algorithmu­s offenbar gerade bei „W“unterwegs war, wird auch noch Wertingen (Bayern), Weißenberg (Sachsen) und Warnemünde an der Ostsee angeboten.

Das Fernweh ist damit natürlich nicht zufrieden, es drängt gen Süden, will wenigstens mal eine andere Sprache hören, mit Einheimisc­hen radebreche­n, unverständ­liche Speisekart­en entziffern. Aber, sorry: Die Berichte über die ersten deutschen Touristen, die jetzt mit Sondergene­hmigungen wieder nach Mallorca fliegen durften, maskiert und desinfizie­rt, scheinen wenig verlockend. Tatsächlic­h steht uns der Sinn in dieser Saison eher nach kleinen Fluchten.

Man sollte versuchen, der Wanderlust (im Englischen ist „wanderlust“übrigens das Wort für Fernweh) auf bescheiden­ere Art zu folgen – um den Bodensee laufen, auf einem Berg die frische Luft suchen und hinter dem Horizont in die Zukunft schauen, wo es hoffentlic­h wieder einmal auf große Reise geht.

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