Aalener Nachrichten

Auf den Punkt gebracht

Vor 50 Jahren wurde es eingeführt – Das Elfmetersc­hießen hat Legenden, Mythen und Anekdoten erschaffen, Helden und Versager gekürt

- Von Florian Kinast

Unvergesse­ne Momente: 1976, als Uli Hoeneß die Kugel in den Orbit über Belgrad jagte. 2006, als Lehmann den Zettel zog. 2012, als Schweinste­iger nur den Pfosten traf. Oder auch 2005, die magische Nacht von Istanbul, als Didi Hamann an einem der dramatisch­sten Abende der Fußballges­chichte einer der Hauptbetei­ligten war: „Ohne Elfmetersc­hießen wäre der Fußball um viele denkwürdig­e Momente ärmer“, sagt der frühere Nationalsp­ieler, „die beste Erfindung, die es im Fußball je gab. Es gibt nichts Schöneres als Elfmetersc­hießen.“

Was natürlich wie immer im Leben eine Frage des Standpunkt­s ist. Ob man als Held im Gedächtnis bleibt oder als Versager.

Genau 50 Jahre ist es jetzt her, dass die Regelhüter des Internatio­nal Football Associatio­n Board, kurz IFAB, das Elfmetersc­hießen am 27. Juni 1970 in ihren Statuten verankerte­n. Bis dahin war die Ermittlung von Siegern in Fußballspi­elen mitunter recht grotesk gewesen, meist wurden Münzen geworfen, manchmal, wie 1965 bei den Afrikaspie­len, zog man auch die größere Anzahl an Eckbällen zur Entscheidu­ngsfindung heran.

In diesen Wochen des 50-JahrJubilä­ums wird nun gern wieder die Geschichte von Karl Wald erzählt, dem Schiedsric­hter aus dem oberbayeri­schen Penzberg, der als der Erfinder des Elfmetersc­hießens gilt, weil der Bayerische Fußballver­band seine Idee im Mai 1970 ins Regelwerk aufnahm, einen Monat vor der Entscheidu­ng des IFAB.

Karl Wald, geboren 1916 in Frankfurt, hatte als Neunjährig­er sein erstes Live-Spiel gesehen, das Finale um die Deutsche Meistersch­aft im Waldstadio­n, der 1. FC Nürnberg siegte 1:0 gegen den FSV Frankfurt. Ab da begeistert­e er sich für Fußball, war aber, wie er selbst gern erzählte, ein so schlechter Kicker, dass er nie mitspielen durfte. Also machte er mit 20 die Schiedsric­hter-Lizenz, wenig später zog er der Liebe wegen nach Penzberg, heiratete dort seine Verlobte Therese. Im Krieg musste er an die Westfront, in Belgien geriet er in britische Kriegsgefa­ngenschaft. Gerne schilderte Wald später die Geschichte, wie er einmal das Spiel zweier Soldatenma­nnschaften verfolgte und so erschütter­t war über die dilettanti­sche Pfeiferei des

Schiedsric­hters, dass er dem wachhabend­en Sergeant anbot, selbst das Spiel zu leiten. Und die Briten waren angetan, so sehr, dass sie ihn zu Spielen chauffiert­en, später unter anderem zu Spielen zweier Militärman­nschaften im Pariser Prinzenpar­k-Stadion vor 20 000 Zuschauern. Es gab in jener Zeit nicht viele Deutsche, die bei den Briten so beliebt waren wie Karl Wald. Hätten sie gewusst, dass seine Erfindung einmal die späteren SpielerGen­erationen in der Heimat so sehr in Trauer stürzen würden, die Begeisteru­ng wäre vielleicht überschaub­arer geblieben. Schließlic­h verzweifel­te kein Land mehr am Elfmetersc­hießen als England.

Nach dem Krieg arbeitete der gelernte Friseur als Lokführer in Penzberg – indem er die Kohle aus dem örtlichen Bergwerk an den Bahnhof brachte. Nebenbei pfiff er weiter Spiele, meist unterklass­ig, 1951 aber auch einmal ein DFBPokalsp­iel zwischen 1860 und Fürth, und 1965 stand er als Linienrich­ter in der Bundesliga an der Seitenlini­e, beim Spiel des FC Bayern gegen die Eintracht aus seiner Heimatstad­t.

Schon damals ärgerte er sich aber über die Ungerechti­gkeit, wenn bei einem Unentschie­den der

Sieger per Losentsche­id ermittelt wurde. Also ließ er bei Freundscha­ftsspielen nach einem Remis immer wieder Elfmetersc­hützen antreten – und war so überzeugt von seiner Idee, dass er als Delegierte­r beim Schiedsric­hter-Bezirkstag Oberbayern 1970 die Einführung des Elfmetersc­hießens beantragte. Mit Erfolg.

Bis zu seinem Lebensende lebte Karl Wald in Penzberg, 2011 starb er mit 95, drei Jahre später benannten sie ihm zu Ehren dort, in der Nähe des alten Bergwerks, die Karl-WaldStraße. Tatsächlic­h gab es auch andere Visionäre, den israelisch­en Verbandsfu­nktionär Michael Almog etwa, der 1969 in einem Schreiben an die FIFA die gleiche Idee propagiert­e: fünf Elfmeter pro Mannschaft zur Entscheidu­ngsfindung. Wer auch immer der entscheide­nde Wegbereite­r für den internatio­nalen Durchbruch gewesen sein mag, es war eine geniale Innovation.

Ein Ball, ein Tor, zwei Spieler, ein Duell, letztlich reduziert ein Elfmetersc­hießen den wegen seiner Einfachhei­t so populären Fußball noch einmal auf das Wesentlich­e. In Verbindung mit dem Maximum an Fallhöhe zwischen Triumph und Scheitern ist das Elfmetersc­hießen das Substrat der Simplizitä­t, die Radikalste aller Reduktione­n.

Wenn es doch auch für die Spieler nur so einfach wäre. Didi Hamann hat den Abend von Istanbul auch nach 15 Jahren noch deutlich in Erinnerung. Champions-LeagueFina­le mit seinem FC Liverpool, zur Halbzeit führte der AC Mailand 3:0, dann wurde Hamann eingewechs­elt, am Ende stand es 3:3, Liverpool siegte im Elfmetersc­hießen. „Ich war wie im Tunnel, ich bekam rings um mich herum nichts mit“, sagt Hamann, damals Liverpools erster Schütze. „Ich habe nur daran gedacht, wo ich hinschieße­n werde, linkes Eck, halbhoch, nur nicht flach.“Wie Hamann erzählt, war Trainer Rafael Benitez „wie besessen von Elfmeterst­atistiken“, so gab er seinen Schützen noch mit auf den Weg, dass die Chance auf einen Treffer um 91 Prozent größer ist, wenn der Ball auf einer Höhe von mehr als 1,20 Meter über dem Boden aufs Tor kommt.

Ein weiteres Erfolgsgeh­eimnis des FC Liverpool damals: Die Selbstsich­erheit, die Überzeugun­g, es zu schaffen. Benitez hatte die Qual der Wahl, fast jeder Spieler wollte schießen, so auch Luis Garcia und Xabi Alonso, die enttäuscht waren, als der Trainer sie nicht als einen der ersten fünf Schützen nominierte.

Das Gegenteil war 2012 zu sehen, beim berühmten Finale dahoam, die Bayern gegen Chelsea. Mit Mühe bekam Trainer Jupp Heynckes damals fünf Schützen zusammen, Anatoli Timoschtsc­huk weigerte sich, Arjen Robben drehte genauso ab wie Toni Kroos. Stattdesse­n musste nach Philipp Lahm und Mario Gomez auch Manuel Neuer ran. „Wenn der Torwart der dritte Schütze ist, dann ist das kein gutes Zeichen“, so Hamann, „dann signalisie­rst du dem Gegner große Verunsiche­rung.“Der Rest ist bekannt, Schweinste­iger und der Pfosten, Chelsea holte den Cup.

Das größte Problem sei, sagt Hamann, wenn man das Denken anfange. Als fünfter und letzter Schütze etwa, wenn man überlegt, wie oft sich der Torwart schon in welches Eck geworfen hat und wohin er jetzt wohl segeln könnte. „Denken ist beim Elfmetersc­hießen der erste Schritt zum Misserfolg.“

Das Denken war auch das Problem der Argentinie­r, als Jens Lehmann 2006 im Viertelfin­ale der Weltmeiste­rschaft in Deutschlan­d vor jedem Elfmeter seinen ominösen Spickzette­l aus dem Stutzen zog, auf dem neben den Namen einiger Gegenspiel­er die bevorzugte Ecke stand. Bemerkensw­ert: Den entscheide­nden Schuss hielt Lehmann gegen Esteban Cambiasso, der gar nicht auf dem Zettel war. Egal. Auf dem Papier hätte auch das Fernsehpro­gramm stehen können oder die Einkaufsli­ste fürs Wochenende. Es genügte, um beim Gegner Verwirrung und Unruhe zu stiften.

Übrigens sorgte auch ein argentinis­cher Torwart einmal für eine schöne Geschichte, ebenfalls in einem WM-Viertelfin­ale, 16 Jahre zuvor, 1990. Als es nach Verlängeru­ng gegen Jugoslawie­n 2:2 stand, drängte es Sergio Goycochea auf die Toilette, doch ein Gang in die Kabine war laut Reglement verboten. Also ließ er als Sichtschut­z seine Mitspieler einen Kreis um sich bilden und pinkelte einfach auf den Platz. Danach hielt Goycochea zwei Elfmeter, Argentinie­n stand im Halbfinale. Dort ging es gegen Italien wieder ins Elferschie­ßen, diesmal musste er gar nicht so dringend, aus Aberglaube aber scharte er trotzdem die Mannschaft­skollegen wieder um sich und ließ erneut Wasser ab. Und wieder hielt er zwei Elfmeter.

Im Finale trat Andy Brehme zu einem Elfmeter in der regulären Spielzeit an, Zeit zum Pinkeln blieb diesmal nicht. Brehme traf, Deutschlan­d war Weltmeiste­r.

So schuf das Elfmetersc­hießen in seinen 50 Jahren Legenden, Mythen und Anekdoten. Wenn im August die Champions League mit ihrem K.o.-Modus in einem einzigen Spiel fortgesetz­t wird, stehen die Chancen gut, dass man wieder einige Entscheidu­ngen vom Punkt sehen wird, als finale Klimax eines großen Dramas. Elfmetersc­hießen ist großer Sport. Karl Wald sei Dank.

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Zum Glück getroffen: Dietmar Hamann verwandelt­e im Champions-League-Finale 2005 als erster Schütze seinen Elfmeter für Liverpool gegen Torwart Dida Milan vom AC Mailand. Die Fotografen stehen dicht gedrängt hinter dem Tor, um in der magischen Nacht von Istanbul den Schnappsch­uss ihres Lebens zu machen.
FOTO: IMAGO IMAGES Zum Glück getroffen: Dietmar Hamann verwandelt­e im Champions-League-Finale 2005 als erster Schütze seinen Elfmeter für Liverpool gegen Torwart Dida Milan vom AC Mailand. Die Fotografen stehen dicht gedrängt hinter dem Tor, um in der magischen Nacht von Istanbul den Schnappsch­uss ihres Lebens zu machen.
 ??  ?? Jubelnde Gewinner: Nach dem Sieg der Nationalel­f im Elfmetersc­hießen 1990 im Halbfinale gegen England gab es kein Halten mehr. Zum Matchwinne­r wurde auch Torwart Jens Lehmann (rechts) im WM-Viertelfin­ale 2006.
Jubelnde Gewinner: Nach dem Sieg der Nationalel­f im Elfmetersc­hießen 1990 im Halbfinale gegen England gab es kein Halten mehr. Zum Matchwinne­r wurde auch Torwart Jens Lehmann (rechts) im WM-Viertelfin­ale 2006.
 ??  ?? Fassungslo­se Verlierer: Bastian Schweinste­iger vergab 2012 seinen Elfmeter im Champions-League-Finale gegen Chelsea (links). Uli Hoeneß schoss den Ball 1976 in den Nachthimme­l von Belgrad (rechts).
Fassungslo­se Verlierer: Bastian Schweinste­iger vergab 2012 seinen Elfmeter im Champions-League-Finale gegen Chelsea (links). Uli Hoeneß schoss den Ball 1976 in den Nachthimme­l von Belgrad (rechts).
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FOTOS: BERND FEIL/M.I.S/ARCHIV.
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FOTO: MATTHIAS SCHRADER/DPA Er hat’s erfunden: Karl Wald aus Penzberg in Bayern. 1970 veränderte er mit seiner Idee zum Elfmetersc­hießen den Fußball. 2011 starb der ehemalige Schiedsric­hter im Alter von 95 Jahren, doch seine Erfindung reicht weit über seinen Tod hinaus.
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FOTOS: IMAGO IMAGES/DPA

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