Aalener Nachrichten

„Ganz entscheide­nd ist, dass neue Infektione­n rasch entdeckt werden“

- NACHGEFRAG­T BEI PROFESSOR Thomas Mertens

- Bei den Infektions­zahlen ist Deutschlan­d wieder auf dem Stand von Anfang Mai. Der Virologe Professor Thomas Mertens erklärt im Gespräch mit Daniel Hadrys, wie verschiede­ne Kennzahlen zur Erklärung des Infektions­geschehens zusammenhä­ngen.

Herr Professor Mertens, die Corona-Infektions­zahlen liegen wieder bei über 1000, die Reprodukti­onszahl sinkt jedoch trotzdem an einigen Tagen. Wie ist das zu erklären?

R0 gibt die durchschni­ttliche Zahl der Menschen an, auf die eine infizierte Person während der Zeit ihrer Virusaussc­heidung die Infektion überträgt, wenn es in der Population keine Immunität und keine Maßnahmen zur Infektions­kontrolle gibt. Streng genommen trifft R0 also nur am Anfang einer neuaufgetr­etenen Epidemie zu.

R(t) gibt die Zahl der Menschen an, auf die eine infizierte Person die Infektion im Durchschni­tt überträgt – aber unter Berücksich­tigung der Infektions-Kontrollma­ßnahmen und dem Anteil bereits immuner Personen in der Bevölkerun­g. Es ist eine Maßzahl, die in unserer derzeitige­n Situation angemessen ist. Es gibt aber bei R noch mehrere Vereinfach­ungen und Probleme: 1. Tatsächlic­h sind wahrschein­lich nur zehn Prozent der Infizierte­n für 80 Prozent der Folgeinfek­tionen verantwort­lich (Stichwort „Supersprea­der“). 2. Die Berechnung von R hängt natürlich von den Meldungen der Neuinfekti­onen (Testungen) ab und kann bei relativ niedrigen Zahlen von Neuinfekti­onen stark schwanken. 3. Ein berechnete­r R-Wert „hinkt“immer ein bis zwei Wochen hinter der aktuellen Situation her und hängt stark von der absoluten Zunahme der Anzahl der Neuinfekti­onen ab. 4. Größere lokale Ausbrüche können das Bild verfälsche­n, wenn auf die ganze Bundesrepu­blik hochgerech­net wird. Der R(t)Wert ändert sich im Laufe der Epidemie/Pandemie und kann auch von Region zu Region unterschie­dlich sein. R(t) wird letztlich irgendwann abnehmen, wenn Herdenimmu­nität eintritt. Änderungen im Kontaktver­halten und alle übertragun­gshemmende­n Maßnahmen wirken sich direkt auf R(t) aus. Dies alles führt auch dazu, dass die Zahl der Neuinfekti­onen und R(t) nicht streng parallel verlaufen müssen.

Welche der beiden Kennzahlen, Neuinfekti­onen oder Reprodukti­onszahl, ist die aussagekrä­ftigere für das Infektions­geschehen? Wir brauchen diese beiden Messgrößen und noch weitere, um das Geschehen zu überwachen. Ganz entscheide­nd ist, dass Neuinfekti­onen rasch entdeckt werden, dass Kontaktper­sonen identifizi­ert werden und dass weitere Übertragun­gen (vor allem auf Risikopers­onen) durch Quarantäne verhindert werden.

Liegen die steigenden Zahlen einfach daran, dass mehr getestet wird?

Das könnte prinzipiel­l sein, aber die mir verfügbare­n Daten sprechen derzeit nicht dafür. In Deutschlan­d und zum Beispiel Italien sind die verfügbare­n Testzahlen, bezogen auf die Bevölkerun­gsgröße, sehr ähnlich.

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Thomas Mertens ist Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion am Robert Koch-Institut. Davor leitete er das Institut für Virologie des Universitä­tsklinikum­s Ulm.
Der Virologe Professor Thomas Mertens ist Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion am Robert Koch-Institut. Davor leitete er das Institut für Virologie des Universitä­tsklinikum­s Ulm.

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