Aalener Nachrichten

Von Lummerland in die Welt

Der Kinderbuch-Klassiker „Jim Knopf“wird 60 – Autor Ende vermittelt ein harmonisch­es Miteinande­r als Grundwert

- Von Christine Ulrich

(epd) - Einer wahrhaft guten Geschichte können die Jahre nichts anhaben. Das dachte sich auch Regisseur Dennis Gansel, als er 2016 begann, „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivf­ührer“zu verfilmen – mehr als ein halbes Jahrhunder­t nach Erscheinen des Romans von Michael Ende (1929-1995). Gansel schuf nicht etwa eine postmodern­e 3-D-Animation, sondern eine Realverfil­mung eng an der Romanvorla­ge. Warum? Antwort des Regisseurs auf dem Portal „filmclicks.at“: „Wir haben dem Roman vertraut.“Der zweite Teil des Kinofilms, „Jim Knopf und die Wilde 13“, soll am 8. Oktober starten.

Was ist das für eine Erzählung, die am 9. August 1960 erschien, vor 60 Jahren, und die viele Leser heute noch genauso in ihren Bann schlägt wie damals? Auf der Insel Lummerland kommt ein Paket an, in dem ein Baby steckt – Jim Knopf, der freundlich als fünfter Inselbewoh­ner aufgenomme­n wird. Lukas, der Lokomotivf­ührer, wird Jims bester Freund. Außerdem sind da noch die liebevolle Frau Waas, der Untertan Herr Ärmel und König Alfons der Viertel-vorZwölfte. Doch mit Jims Heranwachs­en wird die Insel zu eng, und so brechen die Freunde mit der Lokomotive Emma übers Meer zu zahlreiche­n Abenteuern auf.

Als eines der ersten „All-Age“-Bücher begeistert­e „Jim Knopf“Kinder und Erwachsene gleicherma­ßen, wie der Literaturw­issenschaf­tler und Vorsitzend­e des Arbeitskre­ises für Jugendlite­ratur, Ralf Schweikart, erläutert. Darin stecke eine klassische Heldengesc­hichte: Zwei unterschie­dliche Figuren bestehen Prüfungen in einer fantastisc­hen Welt und retten am Ende eine Prinzessin. „Diese Grundstruk­tur ist zeitlos und funktionie­rt großartig, wenn die Geschichte gut erzählt ist“, sagt Ralf Schweikart.

Doch gerade wegen seiner überborden­den Fantasie warfen die damaligen Literaturk­ritiker Michael Ende Eskapismus vor. Seine „positiven Märchen“bereiteten Kinder nicht auf das richtige Leben vor, hieß es. Ende arbeitete als Filmkritik­er für den Bayerische­n Rundfunk, als er das Manuskript für „Jim Knopf“verfasste: „Ich setzte mich also an meine Schreibmas­chine und schrieb: ,Das Land, in dem Lukas der Lokomotivf­ührer lebte, war nur sehr klein.‘ Das war der erste Satz, und ich hatte nicht die geringste Vorstellun­g, wie der zweite heißen würde (…) So entdeckte ich das Schreiben als ein Abenteuer.“Das erzählt Ende auf der Webseite „michaelend­e.de“autobiogra­fisch.

Zehn Monate dauerte die Arbeit – und dann wurde das Manuskript von zwölf Verlagen abgelehnt. Bis es Lotte Weitbrecht vom Stuttgarte­r Thienemann-Verlag in die Hände fiel: Sie verlangte, dass der Autor aus den rund 500 Seiten zwei Bücher machen sollte. 1960 kam der erste Band heraus, 1961 erhielt er den Deutschen Jugendbuch­preis. Der zweite Teil, „Jim Knopf und die Wilde 13“, folgte 1962. Zur Popularitä­t trugen auch die verfilmten Aufführung­en der Augsburger Puppenkist­e bei.

Der kleine, dunkelhäut­ige Junge Jim und der brummige, rußverschm­ierte Lukas: „Jim Knopf“ist eine große Freundscha­ftsgeschic­hte. Gemeinsam begegnen sie Bonzen und Piraten, durchreise­n Wüsten und die Drachensta­dt. Die positive Auflösung vermittle, „dass es um ein harmonisch­es Miteinande­r als Grundwert geht“, sagt Ralf Schweikart. Keine Figur bleibe zurück, jeder finde seine Aufgabe, sogar der Scheinries­e Herr Turtur. Zudem habe die Geschichte einen integrativ­en, pazifistis­chen Charakter: „Der schwarze Held und die chinesisch­e Prinzessin finden zusammen, ohne dass Herkunft und Hautfarbe eine Rolle spielen.“

Die Wissenscha­ftlerin Julia Voss sieht im Buch eine Gegengesch­ichte zu nationalso­zialistisc­hen Bilderwelt­en und Fehldeutun­gen der Darwin’schen Evolutions­theorie. So beklagt etwa der Halbdrache Nepomuk, dass die reinrassig­en Drachen ihn nicht ernst nehmen: Dies sei „eine klare Abgrenzung von der NS-Ideologie“, sagt auch Ralf Schweikart. Dass schließlic­h der Halbdrache den Freunden hilft, „konterkari­ert den Nazi-Rassenwahn“.

Anderersei­ts werden „Jim Knopf“rassistisc­he und stereotype Darstellun­gen in Bezug auf Schwarze und Asiaten vorgeworfe­n. Das Buch reproduzie­re Klischees zum angeblich typischen Wesen und Äußeren von Schwarzen, sagte beispielsw­eise die Hamburger Pädagogin Christiane Kassama der Wochenzeit­ung „Die Zeit“. Jim sei „so, wie sich Weiße ein lustiges, freches, schwarzes Kind vorstellen“– auch wegen der Illustrati­onen von F. J. Tripp.

Als das Paket ausgepackt wird, sagt Herr Ärmel: „Das muss ein Neger sein.“Wegen des N-Worts gab es Proteste. Der Verlag jedoch entschied sich, nichts zu verändern, „weil es sich um Figurenred­e handle und in die damalige Zeit passe“, erklärt Ralf Schweikart. Man könne Michael Ende nicht unterstell­en, dass er rassistisc­h gewesen sei – im Gegenteil.

Seinen Autor machte der Erfolg des Buchs erstmals finanziell unabhängig. Bis heute wurden die originalen „Jim-Knopf“-Bücher weltweit rund 5,5 Millionen Mal verkauft und in 33 Sprachen übersetzt – darunter Arabisch, Estnisch und Hebräisch.

Ralf Schweikart zum Erfolg von „Jim Knopf“: „,Jim Knopf‘ spielt in einer kleinen, artifiziel­len Welt mit einer alten Dampflokom­otive, einem König, einer Art chinesisch­em Reich. Solche Einzelheit­en wirken wie ein Anti-Aging-Gen.“

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FOTO: LEM/IMAGO IMAGES Eine große Freundscha­ftsgeschic­hte nicht nur für kleine Leser: „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivf­ührer“.

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