Vom Glück der Daheimgebliebenen
Kein Buchungsstress, kein Planungsdruck und keine fremden Haare im Hotelbett: Doch Urlaub zu Hause ist alles andere als billig
Es gibt da dieses rot-braune Eichhörnchen in unserem Garten, das immer pünktlich jeden Morgen von unserem Walnussbaum kerzengrade den Stamm hinunterläuft. Dann balanciert es über ein von den Kindern gespanntes Band rüber zum Stamm der Schwedischen Mehlbeere, dem zweiten Baum in unserem Garten. Dort wuselt es wieder schnurgerade in die Höhe, um in der Baumkrone zu verschwinden. Warum ich überhaupt weiß, dass dieses Eichhörnchen existiert und sein Ritual tagtäglich vollführt, hat etwas damit zu tun, dass die Anbindung ans eigene Zuhause in diesen merkwürdigen Zeiten stärker geworden ist. Und damit sind die Momente mehr geworden, in denen wir einfach dastehen und durch die Terrassenscheibe ins kleine Grün hinausschauen, ohne eine bestimmte Erwartung zu haben. Oder anders gesagt: Wir als Familie entdecken durch das Fehlen fest definierter Reisepläne, so wie es die Jahre zuvor immer war, eine neue Langsamkeit in unserem Leben, das doch sonst immer so atemlos ist. Im Rhythmus unserer Verpflichtungen – auch derer meiner Töchter: Theaterkurs am Donnerstag, Kinderturnen am Mittwoch, Freundesbesuche jederzeit im Stand-byModus und all die anderen kleinen Zeitfresser, getarnt als Bestandteile eines erfüllten Lebens, das in Wahrheit schon lange ein überfülltes ist.
Und jetzt also Ferien daheim: Kaffeetasse in der Hand, Füße im taufeuchten Rasen, der seit Jahren nicht so wächst, wie er soll und trotz eifrigen Mähens immer so aussieht, als brauche er dringend einen Haarschnitt. Und warten auf Freund Eichhörnchen. Eine sich merkwürdig anfühlende Terminlosigkeit ohne jeden verbindlichen Reiseplan. Einfach in den Tag hineinleben. Ans Telefon nur rangehen, wenn das Display einen lieben Anrufer verheißt. Niemanden wecken, alle solange liegen lassen, bis ihnen die Knochen wehtun. Auch mal allein bleiben mitten in der Familie. Nur das Eichhörnchen und ich.
So tröpfeln die Tage dahin. Oder würden tröpfeln, könnten wir komplett über unseren Schatten springen. Und unsere Töchter nicht unverdrossen auch ohne Reise an ihrem Anspruch in Sachen Unterhaltung festhalten würden.
Also kaufen wir in Ermangelung eines Hotelpools ein aufblasbares Ungetüm für den kleinen Garten. Für längere Zeit ist die Terrasse erfüllt vom eigentümlichen Ächzen eines in die Jahre gekommenen Blasebalgs, mit dessen Hilfe die Familienmitglieder der Reihe nach das rechteckige Planschbecken aufpumpen, bis ihre Pumpkräfte schließlich nachlassen. Dann Wasser aus dem Gartenschlauch, fast zwei Stunden. Eiskalt. Zunächst kaum zehn Grad. Im großen Topf auf dem Herd kochen wir x-Mal Wasser auf, schütten es ins Becken und heben mühsam die Temperatur auf 15 Grad. Warm genug, um die Kinder eintauchen zu lassen. Den Rest macht die Sonne. Der Garten ist erfüllt vom freudigen Quieken meiner Töchter. Nur der Rasen unter dem Becken leidet still vor sich hin. Ob die geplätteten Halme je wieder aufstehen?
Natürlich gibt es da noch Freibäder, den Bodensee, im Vorjahr noch versteckte und damit ruhigere Seezugänge. Aber Urlaub daheim heißt auch, die Heimat zu teilen mit mehr Menschen. Mit Leuten, die sonst im Flieger sprichwörtlich in alle Welt ausschwärmen. Dieses Schwärmen erleben wir jetzt mehr oder weniger rund ums Haus, denn der Bodensee-Radwanderweg verläuft gleich um die Ecke. Die vermeintlich geheimen Badestellen hat der sogenannte OverTourismus entdeckt. Im konkreten Fall heißt für uns, Ferien daheim zu verleben, gerade eben nicht, dem Trubel der Strände zu entkommen und den Menschenmassen, die im Lichte eines nicht geringer gewordenen Infektionsrisikos etwas seltsam Bedrückendes haben. Zum Glück gibt’s das in unserem kleinen Garten inzwischen reichlich erwärmte Kleinstgewässer, das im Lichte einer hitzigen Sonne zunehmend die Anmutung von Hühnerbrühe bekommt. Tote Insekten schwimmen jetzt am Morgen auf der Wasseroberfläche. Das Eichhörnchen lässt das Planschbecken links liegen.
Daheimbleiben bedeutet auch, Zeit zu finden, um merkwürdige Geräte aus den Tiefen des Kellers zu bergen. Geschenke von irgendwann und irgendwem, die sich nie für den ständigen Alltag in der Küche qualifiziert haben. Und die sich jetzt fragen lassen müssen, ob es nicht besser wäre, sie verschwänden ganz aus unserem Familienleben. Die Eismaschine hat es nach einer interessanten Versuchsreihe mit exotischen Sorten – am Ende lieben alle klassische Vanille am meisten – in den Küchenschrank geschafft. Ein Spiralschneider, der aus Gemüse angeblich Spaghetti macht, verabschiedet sich indes in Richtung Wertstoffhof. Insgesamt ist aber noch mehr Leben in der Küche als sonst: Das fröhlich wuchernde Kräuter-Allerlei aus dem chaotischen Hochbeet lässt sich fabelhaft zu Pesto verarbeiten. Die Kinder experimentieren mit Lebensmittelfarben. Der Versuch, das Nudelwasser und damit die Pasta blau zu färben, schlägt fehl. Die Spaghetti sehen danach grau aus. Und damit entscheiden wir uns spontan, der hiesigen Gastronomie die Ehre zu geben – wie so oft in diesen Tagen. Auch das sorgt dafür, dass die Ferien daheim am Ende kaum billiger sein werden, als weggefahren zu sein.
Die Eröffnung des häuslichen Sommerkinos stößt auf geteiltes Echo: Draußen sitzen und nach drinnen auf den zur Terrasse hin mühsam ausgerichteten Fernseher schauen heißt auch, dass gegen Ende des abendlichen Spielfilms die Mücken um die Flimmerkiste schwärmen und die Zuschauer alsbald vertreiben. Wahrscheinlich ist der mittlerweile merkwürdig riechende Poolersatz im Garten eine gute Brutstätte für die kleinen Blutsauger. Hoffentlich fallen sie nicht auch über unser Eichhörnchen her.
Die angenehm ruhige Zeit daheim führt zur Überprüfung vermeintlicher Wahrheiten. Zum Beispiel: „Mein Fahrrad fährt jetzt schon so lange, das tut’s auch diesen Sommer noch.“Eine Ansicht, die ein ortsansässiger Fahrradreparaturbetrieb überhaupt nicht teilt und frech fragt, was ich denn gewogen hätte, als ich mir das Gefährt vor 20 Jahren kaufte. „23 Jahre“, korrigiere ich ihn mit dem Hinweis, mein gefühltes Idealgewicht sei seit Jahrzehnten in einer Balance, die nur mich allein etwas angehe. Ich verlasse das Geschäft mit einem Bestellzettel über ein neues Fahrrad. Meine Frau hat den Katalog mitgenommen, was auch kein gutes Zeichen ist – in Anbetracht ihres ähnlich nostalgisch anmutenden Drahtesels aber verständlich. Auf der Heimfahrt, bei der wir uns kaum unterhalten können, weil unsere Fahrräder so knarzen und quietschen, sagt die jüngste Tochter: „Papa, meine Wanderschuhe drücken.“
Nein, Urlaub zu Hause muss nicht billiger sein: Plantschbecken, Restaurantbesuche, neue Fahrräder und Kinderwanderschuhe, die eigentlich bereits nach dem Kauf fast schon wieder zu klein sind. Wegfahren ist wahrscheinlich preisgünstiger. Daheimgebliebensein kann aber eindrücklichere und nachhaltigere Erlebnisse bedeuten. Erfahrungen, die uns ein Ferienziel jenseits des eigenen Zuhauses nicht bietet, etwa: das eigene Familieneichhörnchen besser kennen lernen. Erleben, dass man graue Spaghetti zwar essen kann, aber nicht muss. Das Potenzial des eigenen Gartens für den Wassersport auf fünf mal drei Metern entdecken. Und die Erkenntnis, dass Stiche der eigenen Mücken genauso jucken wie jene der Biester im Ausland.
Eines Morgens stellen wir fest, dass über Nacht jemand oder etwas die Luft und damit auch das Wasser aus unserem aufblasbaren Schwimmbecken gelassen hat. Aus dem Gras unter dem erschlafften Badeplatz ist jede Farbe gewichen. Es ist ausgebleicht und wir fragen uns, ob wir in diesem Jahr an der Stelle überhaupt nochmal grün sehen werden. Aus den Ferien daheim ist die Luft aber noch lange nicht raus. Und wir nehmen uns vor, viel öfter Urlaub zu Hause zu machen. Vor allem, wenn gar keine Ferien sind. Und das Eichhörnchen – wir haben es Henry getauft – erinnert uns daran.