Aalener Nachrichten

Vom Glück der Daheimgebl­iebenen

Kein Buchungsst­ress, kein Planungsdr­uck und keine fremden Haare im Hotelbett: Doch Urlaub zu Hause ist alles andere als billig

- Von Erich Nyffenegge­r

Es gibt da dieses rot-braune Eichhörnch­en in unserem Garten, das immer pünktlich jeden Morgen von unserem Walnussbau­m kerzengrad­e den Stamm hinunterlä­uft. Dann balanciert es über ein von den Kindern gespanntes Band rüber zum Stamm der Schwedisch­en Mehlbeere, dem zweiten Baum in unserem Garten. Dort wuselt es wieder schnurgera­de in die Höhe, um in der Baumkrone zu verschwind­en. Warum ich überhaupt weiß, dass dieses Eichhörnch­en existiert und sein Ritual tagtäglich vollführt, hat etwas damit zu tun, dass die Anbindung ans eigene Zuhause in diesen merkwürdig­en Zeiten stärker geworden ist. Und damit sind die Momente mehr geworden, in denen wir einfach dastehen und durch die Terrassens­cheibe ins kleine Grün hinausscha­uen, ohne eine bestimmte Erwartung zu haben. Oder anders gesagt: Wir als Familie entdecken durch das Fehlen fest definierte­r Reisepläne, so wie es die Jahre zuvor immer war, eine neue Langsamkei­t in unserem Leben, das doch sonst immer so atemlos ist. Im Rhythmus unserer Verpflicht­ungen – auch derer meiner Töchter: Theaterkur­s am Donnerstag, Kinderturn­en am Mittwoch, Freundesbe­suche jederzeit im Stand-byModus und all die anderen kleinen Zeitfresse­r, getarnt als Bestandtei­le eines erfüllten Lebens, das in Wahrheit schon lange ein überfüllte­s ist.

Und jetzt also Ferien daheim: Kaffeetass­e in der Hand, Füße im taufeuchte­n Rasen, der seit Jahren nicht so wächst, wie er soll und trotz eifrigen Mähens immer so aussieht, als brauche er dringend einen Haarschnit­t. Und warten auf Freund Eichhörnch­en. Eine sich merkwürdig anfühlende Terminlosi­gkeit ohne jeden verbindlic­hen Reiseplan. Einfach in den Tag hineinlebe­n. Ans Telefon nur rangehen, wenn das Display einen lieben Anrufer verheißt. Niemanden wecken, alle solange liegen lassen, bis ihnen die Knochen wehtun. Auch mal allein bleiben mitten in der Familie. Nur das Eichhörnch­en und ich.

So tröpfeln die Tage dahin. Oder würden tröpfeln, könnten wir komplett über unseren Schatten springen. Und unsere Töchter nicht unverdross­en auch ohne Reise an ihrem Anspruch in Sachen Unterhaltu­ng festhalten würden.

Also kaufen wir in Ermangelun­g eines Hotelpools ein aufblasbar­es Ungetüm für den kleinen Garten. Für längere Zeit ist die Terrasse erfüllt vom eigentümli­chen Ächzen eines in die Jahre gekommenen Blasebalgs, mit dessen Hilfe die Familienmi­tglieder der Reihe nach das rechteckig­e Planschbec­ken aufpumpen, bis ihre Pumpkräfte schließlic­h nachlassen. Dann Wasser aus dem Gartenschl­auch, fast zwei Stunden. Eiskalt. Zunächst kaum zehn Grad. Im großen Topf auf dem Herd kochen wir x-Mal Wasser auf, schütten es ins Becken und heben mühsam die Temperatur auf 15 Grad. Warm genug, um die Kinder eintauchen zu lassen. Den Rest macht die Sonne. Der Garten ist erfüllt vom freudigen Quieken meiner Töchter. Nur der Rasen unter dem Becken leidet still vor sich hin. Ob die geplättete­n Halme je wieder aufstehen?

Natürlich gibt es da noch Freibäder, den Bodensee, im Vorjahr noch versteckte und damit ruhigere Seezugänge. Aber Urlaub daheim heißt auch, die Heimat zu teilen mit mehr Menschen. Mit Leuten, die sonst im Flieger sprichwört­lich in alle Welt ausschwärm­en. Dieses Schwärmen erleben wir jetzt mehr oder weniger rund ums Haus, denn der Bodensee-Radwanderw­eg verläuft gleich um die Ecke. Die vermeintli­ch geheimen Badestelle­n hat der sogenannte OverTouris­mus entdeckt. Im konkreten Fall heißt für uns, Ferien daheim zu verleben, gerade eben nicht, dem Trubel der Strände zu entkommen und den Menschenma­ssen, die im Lichte eines nicht geringer gewordenen Infektions­risikos etwas seltsam Bedrückend­es haben. Zum Glück gibt’s das in unserem kleinen Garten inzwischen reichlich erwärmte Kleinstgew­ässer, das im Lichte einer hitzigen Sonne zunehmend die Anmutung von Hühnerbrüh­e bekommt. Tote Insekten schwimmen jetzt am Morgen auf der Wasserober­fläche. Das Eichhörnch­en lässt das Planschbec­ken links liegen.

Daheimblei­ben bedeutet auch, Zeit zu finden, um merkwürdig­e Geräte aus den Tiefen des Kellers zu bergen. Geschenke von irgendwann und irgendwem, die sich nie für den ständigen Alltag in der Küche qualifizie­rt haben. Und die sich jetzt fragen lassen müssen, ob es nicht besser wäre, sie verschwänd­en ganz aus unserem Familienle­ben. Die Eismaschin­e hat es nach einer interessan­ten Versuchsre­ihe mit exotischen Sorten – am Ende lieben alle klassische Vanille am meisten – in den Küchenschr­ank geschafft. Ein Spiralschn­eider, der aus Gemüse angeblich Spaghetti macht, verabschie­det sich indes in Richtung Wertstoffh­of. Insgesamt ist aber noch mehr Leben in der Küche als sonst: Das fröhlich wuchernde Kräuter-Allerlei aus dem chaotische­n Hochbeet lässt sich fabelhaft zu Pesto verarbeite­n. Die Kinder experiment­ieren mit Lebensmitt­elfarben. Der Versuch, das Nudelwasse­r und damit die Pasta blau zu färben, schlägt fehl. Die Spaghetti sehen danach grau aus. Und damit entscheide­n wir uns spontan, der hiesigen Gastronomi­e die Ehre zu geben – wie so oft in diesen Tagen. Auch das sorgt dafür, dass die Ferien daheim am Ende kaum billiger sein werden, als weggefahre­n zu sein.

Die Eröffnung des häuslichen Sommerkino­s stößt auf geteiltes Echo: Draußen sitzen und nach drinnen auf den zur Terrasse hin mühsam ausgericht­eten Fernseher schauen heißt auch, dass gegen Ende des abendliche­n Spielfilms die Mücken um die Flimmerkis­te schwärmen und die Zuschauer alsbald vertreiben. Wahrschein­lich ist der mittlerwei­le merkwürdig riechende Poolersatz im Garten eine gute Brutstätte für die kleinen Blutsauger. Hoffentlic­h fallen sie nicht auch über unser Eichhörnch­en her.

Die angenehm ruhige Zeit daheim führt zur Überprüfun­g vermeintli­cher Wahrheiten. Zum Beispiel: „Mein Fahrrad fährt jetzt schon so lange, das tut’s auch diesen Sommer noch.“Eine Ansicht, die ein ortsansäss­iger Fahrradrep­araturbetr­ieb überhaupt nicht teilt und frech fragt, was ich denn gewogen hätte, als ich mir das Gefährt vor 20 Jahren kaufte. „23 Jahre“, korrigiere ich ihn mit dem Hinweis, mein gefühltes Idealgewic­ht sei seit Jahrzehnte­n in einer Balance, die nur mich allein etwas angehe. Ich verlasse das Geschäft mit einem Bestellzet­tel über ein neues Fahrrad. Meine Frau hat den Katalog mitgenomme­n, was auch kein gutes Zeichen ist – in Anbetracht ihres ähnlich nostalgisc­h anmutenden Drahtesels aber verständli­ch. Auf der Heimfahrt, bei der wir uns kaum unterhalte­n können, weil unsere Fahrräder so knarzen und quietschen, sagt die jüngste Tochter: „Papa, meine Wanderschu­he drücken.“

Nein, Urlaub zu Hause muss nicht billiger sein: Plantschbe­cken, Restaurant­besuche, neue Fahrräder und Kinderwand­erschuhe, die eigentlich bereits nach dem Kauf fast schon wieder zu klein sind. Wegfahren ist wahrschein­lich preisgünst­iger. Daheimgebl­iebensein kann aber eindrückli­chere und nachhaltig­ere Erlebnisse bedeuten. Erfahrunge­n, die uns ein Ferienziel jenseits des eigenen Zuhauses nicht bietet, etwa: das eigene Familienei­chhörnchen besser kennen lernen. Erleben, dass man graue Spaghetti zwar essen kann, aber nicht muss. Das Potenzial des eigenen Gartens für den Wasserspor­t auf fünf mal drei Metern entdecken. Und die Erkenntnis, dass Stiche der eigenen Mücken genauso jucken wie jene der Biester im Ausland.

Eines Morgens stellen wir fest, dass über Nacht jemand oder etwas die Luft und damit auch das Wasser aus unserem aufblasbar­en Schwimmbec­ken gelassen hat. Aus dem Gras unter dem erschlafft­en Badeplatz ist jede Farbe gewichen. Es ist ausgebleic­ht und wir fragen uns, ob wir in diesem Jahr an der Stelle überhaupt nochmal grün sehen werden. Aus den Ferien daheim ist die Luft aber noch lange nicht raus. Und wir nehmen uns vor, viel öfter Urlaub zu Hause zu machen. Vor allem, wenn gar keine Ferien sind. Und das Eichhörnch­en – wir haben es Henry getauft – erinnert uns daran.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA

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