Aalener Nachrichten

Der Stress im Nacken

Das Halswirbel­säulen-Syndrom gilt als Volksleide­n – Chiroprakt­ik, Pilates und spezielle Kissen können helfen, Schmerzen und Verspannun­gen loszuwerde­n

- von Jörg Zittlau wo’s da,

Jeder Vierte leidet hierzuland­e im Laufe des Jahres irgendwann an Nackenschm­erzen. In 90 Prozent der Fälle sind sie harmlos, doch die Betroffene­n leiden und suchen Hilfe. Das Problem dabei ist: Den meisten Therapien fehlt der Nachweis für ihre Wirkung. Doch der Patient kann dennoch selbst etwas tun.

Die Schmerzen sind hartnäckig und nervtötend, können vom Nacken bis in Kopf und Schulter hinaufzieh­en, und mitunter haben sie sogar Schwindel und Sehstörung­en im Gepäck: Das Halswirbel­säulen-Syndrom (HWS) kann das Leben zur Qual machen. Es zählt daher in Deutschlan­d zu den Hauptgründ­en für einen Besuch beim Physiother­apeuten. Doch eine aktuelle Untersuchu­ng im Auftrag des Kölner Instituts für Qualität und Wirtschaft­lichkeit im Gesundheit­swesen (IQWiG) meldet nun Zweifel an, ob das wirklich hilfreich ist.

Denn die Forscher fanden gerade mal drei brauchbare Studien zum Nutzen von Physiother­apie beim HWS-Syndrom, in denen zudem unterschie­dliche und kaum vergleichb­are Anwendunge­n wie Krankengym­nastik und Massage untersucht wurden. Und das bedeutet, so das IQWiG, dass man eigentlich nicht beurteilen könne, ob der Besuch beim Physiother­apeuten dem HWSPatient­en tatsächlic­h weiterhilf­t. Dazu bräuchte man „weitere qualitativ hochwertig­e Studien mit ausreichen­d langer Nachbeobac­htungsdaue­r“.

Physiother­apie mag also im Einzelfall helfen, wenn der Nacken schmerzt – möglicherw­eise aber auch nicht. Doch das gilt auch für andere Behandlung­smethoden. „Wir haben einfach keine Therapie, die man als Gold-Standard für das HWSSyndrom empfehlen könnte“, erläutert Martin Scherer, Präsident von der Deutschen Gesellscha­ft für Allgemeinu­nd Familienme­dizin (DEGAM). Was aber nicht heißen soll, dass sich der Patient gleich ganz den Weg zum Arzt sparen kann. Denn der kann – auch wenn es nur in zehn Prozent der Fälle vorkommt – abklären, ob hinter den Nackenschm­erzen eizepam ne ernsthafte Ursache steckt, wie etwa Osteoporos­e, ein Tumor oder auch Unfälle oder bestimmte Medikament­e.

Zudem ist ein fehlender GoldStanda­rd kein Grund, therapeuti­sch zu resiginier­en. „Es gibt schon das eine oder andere, das man zur Linderung der Beschwerde­n unternehme­n kann“, betont Scherer, der an den medizinisc­hen Leitlinien zur Behandlung des HWS-Syndroms mitgearbei­tet hat. Wichtig sei vor allem, dass man nicht den Hals des Patienten mit einer Halskrause ruhigstell­t. „Der Patient sollte versuchen, weiter seinen Alltagsakt­ivitäten nachzugehe­n“, rät Scherer. Um dabei den Bewegungsa­blauf zu erleichter­n, könne man kurzfristi­g eine Schmerztab­lette einnehmen, wie etwa Ibuprofen oder Diclofenac. Die lange Zeit üblichen Muskelrela­xantien wie Tetraseien hingegen – aufgrund ihrer Nebenwirku­ngen – überholt, betont Scherer: „Da würde man mit Kanonen auf Spatzen schießen.“

Ebenfalls überholt: die Spritze. Sie wird zwar von den Patienten oft gewünscht, zwecks einer schnellen Linderung der Beschwerde­n. „Das bezeichnen wir heute gerne als Dawos-Methode“, erzählt Scherer. „Womit gemeint ist: man spritzt

weh tut.“Doch über einen Placebo-Effekt hinaus werde damit keine sonderlich­e Wirkung erzielt.

Besser stehen da schon die Chancen für eine chirothera­peutische Anwendung. Allerdings hängt der Erfolg auch hier, wie bei der Physiother­apie, wesentlich von demjenigen ab, der sie durchführt. Und den – oft von einem deutlich wahrnehmba­ren Knacken begleitete­n – Manipulati­onen an der Halswirbel­säule kann

Scherer insgesamt nur wenig abgewinnen. „Es sollte eher um eine milde Mobilisati­on im Hals gehen“, so der Allgemeinm­ediziner. Da könne es dann auch sinnvoll sein, die Brustwirbe­lsäule mit einzubezie­hen. „Denn mitunter kommen die Nackenschm­erzen auch von dort“, betont der Allgemeinm­ediziner.

Ihr entscheide­ndes Merkmal besteht jedoch darin, dass sie in der Regel mit einer Muskelvers­pannung einhergehe­n. Gerade ängstliche oder gestresste Menschen leiden oft an Nackenschm­erzen, weil sie permanent die Nacken- und Schultermu­skeln anspannen. Aus der unbewusste­n Sorge heraus, ihren empfindlic­hen Hals vor vermeintli­chen Angriffen schützen zu müssen. „Deswegen ist man ja überhaupt auf die Idee gekommen, das HWS-Syndrom mit einem Muskelrela­xans zu behandeln“, erläutert Scherer. Aber risikoärme­r, und keineswegs weniger wirkungsvo­ll seien da Entspannun­gsübungen, wie etwa Yoga, Autogenes Training oder die Progressiv­e Muskelents­pannung nach Jacobsen.

Das derzeit im Wellness-Bereich stark angesagte Pilates könnte sogar in besonderem Maße hilfreich sein, weil es gezielt auf die tiefer liegenden, kleinen und meist schwächere­n Muskelgrup­pen wirkt. Es erzielte in einer Studie der Hacettepe University in Ankara einen ähnlich positiven Effekt auf Nackenschm­erz und Lebensqual­ität wie Yoga und ein statisches (isometrisc­hes) Muskeltrai­ning. „Doch es war das einzige Verfahren, dass auch zu einer Stärkung des Musculus semispinal­is capitis führte“, berichtet Studienlei­terin Naime Ulug. Dieser Muskel verläuft tief an der Halswirbel­säule, und dort leistet er einen wesentlich­en Beitrag zur Stabilität. Was bedeuten könnte, dass Pilates nicht nur kurzfristi­g die Nackenschm­erzen lindert, sondern auch langfristi­g vor ihnen schützt. Und ein wesentlich­es Problem des HWS-Syndroms besteht ja darin, wie Scherer zu berichten weiß, „dass es zwar oft wieder von allein verschwind­et, aber eben auch oft wiederkehr­t“.

Ganz tief in die Entspannun­g führt schließlic­h eine Studie, die soeben ein italienisc­hes Forscherte­am veröffentl­icht hat. Darin hat man 64 Probanden entweder eine systematis­che Einweisung in einen nackenund rückenfreu­ndlichen Lebensstil gegeben, oder aber vier Wochen lang auf einem „Spring pillow“, also einem Nackenstüt­zkissen mit 60 Taschenfed­erkernen schlafen lassen. Am Ende hatten die Testschläf­er deutlich weniger Schmerzen als die Seminartei­lnehmer.

Offen bleibt allerdings, ob das wirklich an den orthopädis­chen Eigenschaf­ten des Kissens lag. Oder daran, dass es insgesamt zu einem erholsamer­en Schlaf geführt hat – was bekanntlic­h auch zum Abbau von Muskelvers­pannungen beiträgt.

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FOTO: KLAUS-DIETMAR GABBERT/DPA Bei Nackenschm­erzen sollten Betroffene keine Schonhaltu­ng einnehmen, sondern sich bewegen. Auch Entspannun­gsübungen können Linderung bringen.

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