DER DUNKLE SCHATTEN VON BIBERACH
Ein rätselhaftes Gewaltverbrechen in Biberach ist seit Jahren ungeklärt – Wie das Opfer heute damit umgeht
Ein ungeklärtes Gewaltverbrechen beschäftigt die Stadt seit acht Jahren
- 1. November 2012, 4.10 Uhr: Wie andernorts haben auch in Biberach die Menschen auf Partys in dieser Nacht Halloween gefeiert. Eine junge Frau ist allein zu Fuß auf dem Heimweg von einer dieser Partys und gerät aus der Feierlaune heraus plötzlich hinein in eine der rätselhaftesten Gewalttaten, die sich in den vergangenen Jahren in Oberschwaben ereignet haben. Lässt sie sich nach mehr als sieben Jahren doch noch aufklären?
Biberach ist in diesen Tagen im Herbst 2012 voller Leben: Am 31. Oktober beginnen die 34. Filmfestspiele glanzvoll in der Stadthalle mit der Verleihung des Ehrenpreises an „Lindenstraßen“-Erfinder Hans W. Geißendörfer. Wie immer feiern die Filmschaffenden bis spät in die Nacht an der Bar des Festivalhotels. Auch die 26-jährige Iris, gelernte Hotelfachfrau, arbeitet dort an diesem Abend. „Nach Feierabend habe ich mich mit Freunden noch zum Halloween feiern in einer Biberacher Disco verabredet“, erzählt sie.
Im Podcast „Sag’s Pauly“spricht Iris über die Nacht, die sie fast das Leben gekostet hätte. Sie schildert, welchen Einfluss die Tat des Unbekannten auf sie hatte – und erzählt, was sie sich von dem Täter heute wünschen würde. Zu Gast ist auch Gerd Mägerle, Redaktionsleiter der „Schwäbischen Zeitung“in Biberach.
Das ganze Gespräch ist ab Samstag, 8 Uhr, kostenfrei im Netz unter www.schwäbische.de/sagspauly zu hören. Außerdem gibt es den Podcast „Sag’s Pauly“auf allen üblichen Plattformen wie Spotify, Apple-Podcasts oder Google-Podcasts. Alle Infos finden Sie online auf: www.schwäbische.de/podcasts
Von dort aus macht sie sich dann gegen 4 Uhr morgens zu Fuß auf den Nachhauseweg zum Haus ihrer Eltern. Den um diese Zeit nahezu menschenleeren Straßen schenkt die junge Frau kaum Beachtung. Sie schreibt mit ihrem damaligen Freund, der nicht in der Stadt wohnt, SMS hin und her.
Als sie kurz darauf auf dem Gehweg an der Backsteinmauer des evangelischen Stadtfriedhofs entlanggeht, kommt ihr aus der Dunkelheit ein Mann entgegen und huscht an ihr vorüber. „Einen Augenblick später spüre ich einen dumpfen Schlag und denke im ersten Moment, mir ist etwas auf den Kopf gefallen“, schildert Iris die Situation. Es folgt der nächste Schlag gegen ihren Kopf, sie reißt schützend die Hände nach oben, als sie realisiert, dass der Unbekannte wie von Sinnen weiter mit einem harten Gegenstand – so Iris‘ Wahrnehmung – auf ihren Kopf einprügelt. „Es folgte Schlag auf Schlag, ich schrie und merkte, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.“Die 26-Jährige geht zu Boden, tritt in ihrer Verzweiflung mit den Füßen nach dem Angreifer, bis dieser von ihr ablässt und davonrennt. „Es waren vermutlich nur Sekunden, mir kam es vor wie Minuten“, sagt sie.
Als sie die Hände vom Kopf nimmt, sind sie voller Blut, ihr ist schwindlig, sie kommt nicht mehr auf die Beine und ist dabei, das
Bewusstsein zu verlieren. Mit letzter Kraft wählt sie den Notruf, „aber ich habe es nicht mehr zusammengebracht, denen zu sagen, wo ich liege“.
Die Polizei beginnt im Stadtgebiet nach der jungen Frau zu suchen, die irgendwo an einer Straße liegen muss. Ein zufällig vorbeikommender Autofahrer sieht Iris auf dem Gehweg liegen, alarmiert den Rettungsdienst – und rettet ihr das Leben. Denn wie sich kurz darauf in der Klinik herausstellt, hat sie nicht nur viele Platzwunden am Kopf, bei der Attacke ist auch eine Arterie geplatzt. Ohne die schnelle Hilfe wäre die junge Frau auf dem Gehweg in kürzester Zeit verblutet.
Zu den körperlichen Verletzungen kommen in den Tagen nach der Tat auch die seelischen. Dazu trägt auch die Polizei bei. Sie befragt die junge Frau immer wieder zum Tathergang. Iris kann aber keine genaue Beschreibung des Täters geben, weiß nicht, wer ein Motiv für eine solche Tat gehabt hätte. „Ich hatte zu dieser Zeit mit niemandem Streit.“In Biberach wächst neben der Erschütterung über die nicht gekannte Brutalität des Angriffs auch die Angst, dass da möglicherweise ein Mann in den Straßen unterwegs ist, der jederzeit wieder eine Frau attackieren könnte. Schließlich fragt die Polizei Iris mehrfach, ob sie nicht vielleicht einfach eine Treppe heruntergefallen sei oder ob sie sich die Verletsich zungen selbst zugefügt habe. „Das war für mich noch schlimmer als die Tat selbst. Da ist für mich eine Welt zusammengebrochen“, sagt sie. „Du denkst, dass dir die Leute helfen wollen, und dann kommt so eine Frage.“Irgendwann habe sie begonnen, an sich selbst zu zweifeln.
Mit einem Phantombild des Täters und einer Zeichnung der Jacke mit markantem V-Muster, die der Mann getragen haben soll, macht sich die Polizei an die Fahndung. Es gehen zwar Hinweise ein, die heiße Spur ist aber nicht dabei. Ein unbekannter Mann, möglicherweise ein Zeuge oder sogar der Täter, der kurz vor der Tat auf einer Fußgängerbrücke über die Riß gesehen worden sein soll, lässt sich nicht ausfindig machen. Und auch der Hinweis auf eine Gruppe Jugendlicher, die sich zur Tatzeit auf dem evangelischen Stadtfriedhof aufgehalten haben soll, entpuppt sich später als Falschbehauptung.
Um doch noch an Hinweise auf den Täter zu kommen, entschließt
Iris auf Anraten der Polizei zu einem ungewöhnlichen Schritt: Sie stimmt einer forensischen oder rückführenden Hypnose zu: Dabei erlebt sie die Tat noch einmal, allerdings in der Rolle des Zuschauers. „Das hat mir im Nachgang beim Verarbeiten sehr geholfen“, sagt Iris.
Die Hypnose habe das Phantombild bestätigt, sagt die Polizei später, hinzu kamen der Hinweis auf einen Schlagstock oder ein ähnliches Werkzeug sowie auf ein Muttermal rechts der Oberlippe.
Die Hinweislage bleibt jedoch weiter diffus. Eine Verbindung zu einem Fall wenige Monate zuvor in Altenstadt, zu dem das Phantombild ebenfalls passt, bestätigt sich nicht.
Dort hatte sich eine Frau durch einen Sprung in die Iller vor einem Angreifer gerettet.
Im September 2013 wird die Tat als Filmfall für die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY... ungelöst“rekonstruiert. In der Folge gehen knapp 80 Hinweise bei der Polizei ein. Anrufer nennen dabei sogar die Namen von möglichen Tätern. Aber auch sie führen nicht zu dem erhofften Erfolg.
Die Polizei beendet daraufhin ihre aktiven Ermittlungen zunächst. Bewegung kommt in die Sache dann kurzzeitig nochmals 2015. „Damals wurde im Zusammenhang mit einer anderen Tat ein Schlagwerkzeug sichergestellt“, sagt eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Ravensburg. Die Polizei entsinnt sich an Iris’ Aussage und untersucht das Schlagwerkzeug auf ihre DNA – erfolglos. Es ist der bislang letzte Hinweis, der in ihrem Fall in den Akten dokumentiert ist. Inzwischen sind mehr als sieben Jahre seit der Tat vergangen. Dass sich aufgrund des Phantombilds oder der Hinweise heute noch Zeugen melden, die die Polizei auf eine heiße Spur setzen, scheint eher ausgeschlossen. Bleibt die Hoffnung, wie in vielen solcher Altfälle, dass es möglicherweise Mitwisser geben könnte, denen sich der Täter irgendwann einmal anvertraut hat und die sich, möglicherweise aus falsch verstandener Solidarität, bislang nicht trauten, sich gegenüber der Polizei zu offenbaren. Oft ist ihnen nicht bewusst, wie schwer die Opfer solcher Gewalttaten auch noch nach Jahren leiden.
Iris ist heute 34 Jahre alt und hat lange gebraucht, bis für sie das Leben wieder einigermaßen normal war. „Das, was ich vor der Tat leisten konnte, war irgendwie weg“, sagt sie. „Ich konnte nicht mehr ich sein, und das hat mich sehr beeinträchtigt.“
Sich das selbst einzugestehen, sei sehr schwer gewesen. Lange Zeit leidet sie unter Angst- und Panikattacken und der Vorstellung, plötzlich sterben zu müssen. „Zum Beispiel: Ich fahre auf der Autobahn und denke: Gleich passiert etwas und dann bist du weg.“Diese Phase habe sie aber nun überwunden. Die Dinge, die sie über die Jahre so belastet haben, hat sie inzwischen gut im Griff.
Bis heute ist da aber die Frage, warum gerade sie zum Opfer wurde. „War es Zufall oder habe ich doch jemandem etwas getan, was mir nicht bewusst ist?“Sie wünscht sich, dass sie diesem dunklen Schatten, der an jenem 1. November 2012 an ihr vorbeihuschte und anschließend auf sie einprügelte, ein Gesicht geben könnte. „Das würde mir für meinen Seelenfrieden helfen und mir am meisten bringen, damit ich für mich endlich damit abschließen kann.“
Wer Hinweise zu dem Fall geben kann, wendet sich an die Polizei in Ulm, Telefon 0731/188-0.