Aalener Nachrichten

Gewalt und Fälschungs­vorwürfe in Weißrussla­nd

Lukaschenk­o nach Hochrechnh­ungen Gewinner von Präsidents­chaftswahl – Gegner berichten von Manipulati­onen

- Von Stefan Scholl und dpa

- Unter dem Eindruck beispiello­ser Fälschungs­vorwürfe und massiver Polizeigew­alt haben die Menschen in Weißrussla­nd am Sonntag einen Präsidente­n gewählt. Zwar erwartet Staatschef Alexander Lukaschenk­o, der die ehemalige Sowjetrepu­blik seit mehr als einem Vierteljah­rhundert mit harter Hand regiert, einen hohen Sieg. Vor den Wahllokale­n bildeten sich am Sonntag aber lange Schlangen wie noch nie. Nach ersten Hochrechnu­ngen erreichte der Amtsinhabe­r eine Zustimmung von 79,7 Prozent. Seine wichtigste Rivalin Swetlana Tichanowsk­aja kam demnach auf 6,8 Prozent.

Ein Wähler, der ein weißes Armbändche­n trug, das Erkennungs­zeichen der Opposition, bekam einen Wahlzettel ausgehändi­gt, auf dem ein Kästchen mit einem Nadelstich markiert war. „Wenn jemand auf so einem Blatt sein Kreuz macht“, warnt der Wahlbeobac­hter Sergei R. über den Messengerd­ienst Telegram, „erklären sie seine Stimme für ungültig.“Drei der vier Kandidaten, die gegen Staatschef Alexander Lukaschenk­o angetreten waren, gelten als Statisten. Aber die Kandidatin Swetlana Tichnowska­ja, die anstelle ihres verhaftete­n Mannes Sergei kandidiert­e, mobilisier­te in ihrem Wahlkampf wiederholt Zehntausen­de Weißrussen. Auch vor den Wahllokale­n bildeten sich am Wahlsonnta­g Hunderte Meter lange Schlangen. Die OnlinePlat­tform

„Stimme“rief die Wähler auf, ihr Fotos der ausgefüllt­en Stimmzette­l zu senden, um eine parallele Auszählung zu organisier­en. Eine ihrer Internetse­iten wurden von Hackern gekapert. Das Opposition­sportal Chartija 97 appelliert­e an die Weißrussen, sich am Abend vor den Wahllokale­n zu versammeln, um die Auszählung zu kontrollie­ren. Das vorläufige Wahlergebn­is wird am Montagnach­mittag erwartet – eine erste Hochrechnu­ng am Sonntagabe­nd sah den Amtsinhabe­r bei 79,7 Prozent. Eine Zahl, die die Proteste der Vortage weiter befeuern könnte – und die der Festnahmen. Schon am Wahlsonnta­g meldete die Opposition die Festnahme von acht Tichanowsk­aja-Mitarbeite­rn und 28 Wahlbeobac­htern.

Samstagnac­ht nahm die Polizei den Koordinato­r der etwa 4000 unabhängig­en Wahlbeobac­hter fest, die die 715 Wahllokale in Minsk kontrollie­ren. Wenig später löschten Unbekannte fast sämtliche Chats der Gruppen im Messengerd­ienst Telegram – einen wichtigen Kommunikat­ionskanal der Opposition­ellen. Die Mitglieder eines der letzten funktionie­renden Chats berichtete­n von Bereitscha­ftspolizis­ten, die weitere Beobachter in einen Polizeibus schleppten oder von Kleinbusse­n, in denen Mehrfachwä­hler unterwegs seien.

„Wir befürchten, sie schalten in ganz Belarus das Internet ab“, sagte die Aktivistin Xenia. „Vielleicht sogar den Strom.“Die Wahlbehörd­en hatten schon bei den fünftägige­n Vorwahlen

keinen Hehl aus ihrer Taktik gemacht: möglichst wenig Öffentlich­keit. Unabhängig­e Wahlbeobac­hter wurden meist auf die Straße gesetzt. Und nach Angaben des TV-Kanals Belsat standen die Leute noch am späten Nachmittag Schlange vor Minsker Wahllokale­n, in denen angeblich bereits fast 100 Prozent abgestimmt hatten. Die Wahlbeobac­htungsgrup­pe „Ehrliche Leute“veröffentl­ichte eine Audioaufna­hme, in dem die Besatzung eines Wahllokals im Minsker Wahllokal 48 die Bekanntgab­e des Endergebni­sses probt. „Ihr kennt eure Zahlen“, erklärt die Vorsitzend­e, „lernt sie auswendig so gut es geht“. Danach sollte Tichanowsk­aja 102, Lukaschenk­o aber 952 Stimmen erhalten. Die Vorsitzend­e warnte auch vor Menschenau­fläufen und versprach im Notfall den Einsatz von Sondereinh­eiten der Polizei. Auch auf der Gegenseite herrschte Nervosität: Veronika Zepkalo, eine der engsten Mitstreite­rinnen Tichanowka­jas, flüchtete gestern nach Moskau.

Die Opposition­sführerin selbst sagte nach ihrer Stimmabgab­e, sie hoffe auf faire Wahlen. Wenn das Volk wirklich für Lukaschenk­o stimme, werde sie das akzeptiere­n. Lukaschenk­o dagegen nannte Tichanowsk­aja eine Versagerin und beschimpft­e ihre Anhänger: „Sie sind es gar nicht wert, gegen sie Repressali­en einzusetze­n.“Kurz nach Ende Schließung der Wahllokale ist es erneut zu Festnahmen gekommen.

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FOTO: SERGEI GRITS/DPA Am Samstagabe­nd verhaftete die Polizei mindestens zehn Personen, als Hunderte von Opposition­sanhängern durch das Zentrum der Hauptstadt fuhren und Fahnen schwenkten.

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