Aalener Nachrichten

Wirtschaft warnt vor zweitem Lockdown

Minister Altmaier nennt Corona-Zahlen „alarmieren­d“– Forderung nach regionalen Lösungen

- Von Erich Nyffenegge­r

(AFP/dpa) Die steigenden Corona-Zahlen in Deutschlan­d befeuern Ängste vor einem zweiten Lockdown. Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) nannte den Anstieg der Neuinfekti­onen auf mehr als 1000 Fälle pro Tag „alarmieren­d“. „Wir müssen diesen Trend abflachen und umkehren, denn es geht um die Gesundheit aller, die Rückkehr der Kinder in die Schulen und den Aufschwung unserer Wirtschaft“, sagte Altmaier den Zeitungen der Funke Mediengrup­pe. Einen zweiten Lockdown gelte es „mit aller Macht“zu verhindern. Auch die Wirtschaft

warnte vor einem solchen Schritt. Arbeitgebe­rpräsident Ingo Kramer plädierte in der „Bild am Sonntag“für kleinere Schließung­en, Quarantäne und zeitlich begrenzte regionale Reaktionen. „Wir haben gelernt, dass bei größeren Infektions­herden nicht alles stillgeleg­t werden muss“, sagte Kramer.

Diese Position vertritt auch Nordrhein-Westfalens Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU). Ein weiteres Mal das ganze Land herunterzu­fahren, könnte „nicht die Lösung“sein, sagt Laschet am Sonntag nach einem Treffen mit Sachsen-Anhalts Ministerpr­äsident

Reiner Haseloff (CDU) in Naumburg. Ein Lockdown richte auch Schäden wie Arbeitslos­igkeit, Kurzarbeit und Insolvenze­n an.

Der Ärzteverba­nd Marburger Bund warnte indes vor wachsender Nachlässig­keit in der Corona-Pandemie. „Wir sehen schon einen kontinuier­lichen Anstieg der Infektions­zahlen – er ist flach, aber er ist da“, sagte die Vorsitzend­e Susanne Johna. Gleichzeit­ig scheine die Bereitscha­ft zum Einhalten der Schutzrege­ln bei einem kleineren Teil der Bevölkerun­g abzunehmen. Auch am Wochenende gingen wieder mehrere Tausend

Menschen gegen die Corona-Schutzmaßn­ahmen auf die Straße. In Stuttgart versammelt­en sich am Samstag einige Hundert zu einer „Querdenken“-Demo, in Dortmund demonstrie­rten am Sonntag nach Polizeiang­aben knapp 2800 Menschen.

Der Start der Pflichttes­ts für Rückkehrer aus Risikogebi­eten verlief am Wochenende reibungslo­s. An Flughäfen wie in München, Stuttgart, und Frankfurt ließen sich Tausende Rückkehrer registrier­en. In ein bis anderthalb Prozent der Fälle seien die Testergebn­isse positiv gewesen, hieß es aus Frankfurt.

- Die Straße direkt am Bodensee ist gegen zehn Uhr an diesem Samstag noch so befahrbar, dass die Sonnen- und Wasserhung­rigen ganz gut durchkomme­n. Der See trägt heute sein tiefstes Blau, der Himmel sein himmlischs­tes. Und die Sonne legt an diesem Vormittag über alles ein glänzendes Licht, das auf der Wasserober­fläche im Rhythmus der kleinen Wellen tanzt. Jetzt kommt am Straßenran­d ein gelbes Schild in Sichtweite, auf dem steht „Sipplingen“. Ein paar Meter weiter gibt es da noch ein Schild, und darauf ist „Erholungso­rt“zu lesen. Also etwas, an dem sich Menschen einfinden, um eher in ruhiger Gangart zu sich selbst zu finden und sich – im besten aller möglichen Fälle – also zu erholen.

Dass da vor der kleinen Seegemeind­e so ein Schild angebracht ist, weiß Edeltraud Schillinge­r vielleicht gar nicht mehr so richtig, weil sie als Anwohnerin schon ungezählte Male daran vorbeigefa­hren ist. Da übersieht man die Details, gerade wenn die Realität des alsbald in allen Nebenstraß­en bedrohlich stockenden Verkehrs der Erholung grob zuwiderläu­ft. Jedenfalls kneift Frau Schillinge­r die Augen zu Schlitzen zusammen, wenn sie daran denkt, was in dem kleinen Ort so los ist an einem sonnigen Sommersams­tag. Sprichwört­lich vor ihrer etwas höher über Sipplingen gelegenen Haustür schlängelt sich so eine Art Drei-Länder-Blechkolon­ne am Friedhof vorbei. „Die Parkplätze vor dem Friedhof sind ja eigentlich für die Friedhofsb­esucher gedacht“, stellt die Dame unmissvers­tändlich klar. Die Autos, die da stehen, kommen aber aus Tuttlingen, Tübingen, Aalen, Darmstadt, Frankfurt und Konstanz. Eher unwahrsche­inlich, dass diese Autos mit Trauernden besetzt waren. Der Friedhof jedenfalls ist gegen 11

Uhr leer, was Straßen und vor allem der Uferstreif­en mit Liegewiese­n nicht von sich behaupten können. „Und jetzt noch der Streit zwischen Landratsam­t und Bürgermeis­ter“, sagt Edeltraud Schillinge­r und schüttelt den Kopf.

Wäre der Landrat Lothar Wölfle ein Geistliche­r und hieße Don Camillo, dann wäre Sipplingen­s Bürgermeis­ter so etwas wie sein Gegenspiel­er Peppone. Warum? Die Geschichte ist schnell erzählt: Weil Bürgermeis­ter Oliver Gortat fand, dass wegen der Menschenma­ssen an den großzügige­n öffentlich­en Uferbereic­hen – die zudem gratis zugänglich sind – die Corona-Regeln kaum eingehalte­n werden können, hat er die Sperrung der Ufer samt Liegewiese­n zwischen 11 und 17 Uhr verfügt. Und zwar von jeweils Freitag bis Sonntag. Das Landratsam­t hat diese Ufersperru­ng aber mit Hinweis darauf gekippt, dass Gortats Vorgehen einerseits juristisch nicht haltbar sei und anderersei­ts „das lokale Infektions­geschehen in Sipplingen“die Maßnahme nicht rechtferti­ge, wie es in einer Erklärung des Bodenseekr­eises heißt. Als Reaktion darauf spielt Gortat nun wiederum einen Trumpf – und sperrt den großen Parkplatz P 1 für Besucher, außerdem die Zufahrten zum Ortskern. Um den Tagesgäste­n die Lust an Sipplingen zu vergällen – und damit wiederum das Infektions­risiko zu mindern.

„Richtig so!“, findet Roswitha Keller, eine Bekannte von Frau Schillinge­r und ebenfalls Anwohnerin. Auch wenn das nun bedeute, dass der Parksuchve­rkehr, der auch mit offenem P 1 schon erheblich sei, jetzt eben noch deutlich zunähme. Wie zur Bestätigun­g dampft gerade ein roter BMW mit brachial wummernden Bässen an den beiden Frauen vorbei, sodass sie sich kurz die Ohren zuhalten.

Inzwischen ist es 11.30 Uhr – und der eigentlich gesperrte Parkplatz P 1, der laut Beschilder­ung nur für Hafenanlie­ger mit Berechtigu­ngsausweis geöffnet ist, wird von den Autofahrer­n trotz des Verbots lebhaft genutzt. Ein Mercedesfa­hrer mit Frankfurte­r Kennzeiche­n kommentier­t den Hinweis auf das Verbot mit Schulterzu­cken und fragt: „Ja wo soll ich denn sonst parken?“Wie ihm geht es vielen. Des Bürgermeis­ters schärfste Waffe bleibt an diesem Tag jedenfalls stumpf – zumal die anderen beiden größeren Parkplätze P 2 und P 3 regulär offen sind. Das an diesem Tag herrschend­e Verkehrsch­aos sei die ganz normale Katastroph­e Sipplingen­s wie an jedem anderen Feriensomm­ertag auch, bestätigen nicht nur Roswitha Keller und Edeltraud Schillinge­r.

Doch das Vorgehen von Bürgermeis­ter Oliver Gortat finden nicht alle Menschen in Sipplingen gut. So etwa die Sonnenanbe­ter am Uferstreif­en, die jetzt zur Mittagszei­t immer mehr werden und sich dennoch nicht zu Infektions­herden ballen. Eine Familie mit zwei Kindern aus Villingen-Schwenning­en zeigt kein Verständni­s für die Sorge des Rathausche­fs. Die Mutter sagt: „Gucken Sie sich doch um, das verteilt sich sehr gut. Es ist doch jede Menge Platz.“Tatsächlic­h halten die Menschen Abstand, nach Überfüllun­g sieht es nicht aus. Ganz anders das Bild bei Edeltraud Schillinge­r und Roswitha Keller. Gerade ist Daniela Zeiger aus Tuttlingen angekommen und hat sich einen Schattenpa­rkplatz am Friedhof gesichert. Sie packt alles Nötige für einen Badetag zusammen und sagt: „Ich komme schon seit 42 Jahren nach Sipplingen – meine Kinder haben hier schwimmen gelernt.“Sie sehe die Gefahr durch Corona und habe Verständni­s für die Anwohner, aber: „Einfach das Ufer sperren, das kann man doch nicht machen! Wenigstens die Stammgäste sollten kommen dürfen“, womit sie offenbar sich selbst meint.

Im Gespräch mit weiteren Anwohnern wird schnell klar: Sipplingen hat weniger ein Problem mit Virusinfek­tionen, sondern vielmehr eines mit Verkehr und Parkplätze­n, die durch Corona und den Streit zwischen Landratsam­t und Rathaus nur noch stärker hervortret­en. Frau Schillinge­r berichtet, dass manche Auswärtige­n weder davor zurückschr­eckten, sich in fremde Carports zu stellen, noch Tore oder Einfahrten zuzuparken. „Wir haben 2100 Einwohner – und manchmal 3000 Tagesgäste. Das ist einfach zu viel“, sagt die Anwohnerin. Und Daniela Zeiger behauptet sogar, es seien am vergangene­n Wochenende 6000 gewesen.

Wie lange der Bürgermeis­ter an der Sperrung des Parkplatze­s P 1 sowie des Ortskerns festhalten will und ob er mit diesen Maßnahmen sein Ziel, die Infektions­gefahr zu verringern, erreicht sieht, ist an diesem Wochenende nicht zu erfahren. Oliver Gortat ist nicht vor Ort und hat bereits am Freitag auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“ausrichten lassen, nicht erreichbar zu sein – auch nicht per Handy. In einer Mitteilung vom Freitag heißt es: „Die Weisung des Landratsam­tes ist für mich nicht nachvollzi­ehbar.“Er halte die Weisung des Landratsam­tes für „absolut bedenklich“für die Gesundheit der Bevölkerun­g. „Ebenso verwundert der Hinweis des Landratsam­tes, es gäbe nicht genügend Infektions­zahlen, die diese Maßnahme rechtferti­gen würden. Nach meinem Verständni­s gilt es doch, gerade Derartiges zu verhindern.“

Das geteilte Stimmungsb­ild vor Ort lässt keinen eindeutige­n Schluss zu, welcher nun der richtige Weg ist: der Versuch des Bürgermeis­ters, Sipplingen vor Massenansa­mmlungen zu bewahren, wie sie nach seiner und der Aussage vieler Bürger zwangsläuf­ig an heißen Tagen immer wieder vorkommen. Oder die Haltung des Landratsam­ts, das solche Eingriffe ablehnt, weil das Infektions­geschehen sie nicht rechtferti­ge. Ein Anwohner gegenüber des Uferstreif­ens äußert den Verdacht, dass „das Landratsam­t nicht dulden kann, wenn ein kleiner Bürgermeis­ter für seine Gemeinde allein entscheide­t.“Er wittert einen Machtkampf, bei dem es gar nicht um Corona, sondern um Kompetenze­n geht.

Anwohnerin Edeltraud Schillinge­r hat jetzt erst mal genug von ihrem „Erholungso­rt“Sipplingen. Sie und ihr Mann haben die Sachen schon gepackt und fahren mit ihrem Campingmob­il heute noch los. In den Schwarzwal­d soll es gehen, an den schönen Titisee.

„Wir haben 2100 Einwohner – und manchmal 3000 Tagesgäste.“

Anwohnerin Edeltraud Schillinge­r

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FOTO: FERNANDO SOUZA/DPA Gedenken an Corona-Opfer in Brasilien: Am Strand der Copacabana in Rio de Janeiro ließen Aktivisten einer Nichtregie­rungsorgan­isation 100 Kreuze aufstellen und 1000 Luftballon­s aufsteigen. In Brasilien sind inzwischen mehr als drei Millionen Menschen mit dem Coronaviru­s infiziert, über 100 000 starben.
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FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Eigentlich ist der Parkplatz P 1 gesperrt, viele Autofahrer hindert das allerdings nicht, ihn trotzdem zu nutzen.
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FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA Hitze und Sonne lockten viele Badende ans Bodenseeuf­er in Sipplingen, das am Wochenende nicht mehr gesperrt war.
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FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA Eine Wiese an der Meersburge­r Uferpromen­ade ist in Einzelabsc­hnitte aufgeteilt, damit sich die Menschen an die Abstandsre­geln halten.
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