Wirtschaft warnt vor zweitem Lockdown
Minister Altmaier nennt Corona-Zahlen „alarmierend“– Forderung nach regionalen Lösungen
(AFP/dpa) Die steigenden Corona-Zahlen in Deutschland befeuern Ängste vor einem zweiten Lockdown. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) nannte den Anstieg der Neuinfektionen auf mehr als 1000 Fälle pro Tag „alarmierend“. „Wir müssen diesen Trend abflachen und umkehren, denn es geht um die Gesundheit aller, die Rückkehr der Kinder in die Schulen und den Aufschwung unserer Wirtschaft“, sagte Altmaier den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Einen zweiten Lockdown gelte es „mit aller Macht“zu verhindern. Auch die Wirtschaft
warnte vor einem solchen Schritt. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer plädierte in der „Bild am Sonntag“für kleinere Schließungen, Quarantäne und zeitlich begrenzte regionale Reaktionen. „Wir haben gelernt, dass bei größeren Infektionsherden nicht alles stillgelegt werden muss“, sagte Kramer.
Diese Position vertritt auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Ein weiteres Mal das ganze Land herunterzufahren, könnte „nicht die Lösung“sein, sagt Laschet am Sonntag nach einem Treffen mit Sachsen-Anhalts Ministerpräsident
Reiner Haseloff (CDU) in Naumburg. Ein Lockdown richte auch Schäden wie Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Insolvenzen an.
Der Ärzteverband Marburger Bund warnte indes vor wachsender Nachlässigkeit in der Corona-Pandemie. „Wir sehen schon einen kontinuierlichen Anstieg der Infektionszahlen – er ist flach, aber er ist da“, sagte die Vorsitzende Susanne Johna. Gleichzeitig scheine die Bereitschaft zum Einhalten der Schutzregeln bei einem kleineren Teil der Bevölkerung abzunehmen. Auch am Wochenende gingen wieder mehrere Tausend
Menschen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen auf die Straße. In Stuttgart versammelten sich am Samstag einige Hundert zu einer „Querdenken“-Demo, in Dortmund demonstrierten am Sonntag nach Polizeiangaben knapp 2800 Menschen.
Der Start der Pflichttests für Rückkehrer aus Risikogebieten verlief am Wochenende reibungslos. An Flughäfen wie in München, Stuttgart, und Frankfurt ließen sich Tausende Rückkehrer registrieren. In ein bis anderthalb Prozent der Fälle seien die Testergebnisse positiv gewesen, hieß es aus Frankfurt.
- Die Straße direkt am Bodensee ist gegen zehn Uhr an diesem Samstag noch so befahrbar, dass die Sonnen- und Wasserhungrigen ganz gut durchkommen. Der See trägt heute sein tiefstes Blau, der Himmel sein himmlischstes. Und die Sonne legt an diesem Vormittag über alles ein glänzendes Licht, das auf der Wasseroberfläche im Rhythmus der kleinen Wellen tanzt. Jetzt kommt am Straßenrand ein gelbes Schild in Sichtweite, auf dem steht „Sipplingen“. Ein paar Meter weiter gibt es da noch ein Schild, und darauf ist „Erholungsort“zu lesen. Also etwas, an dem sich Menschen einfinden, um eher in ruhiger Gangart zu sich selbst zu finden und sich – im besten aller möglichen Fälle – also zu erholen.
Dass da vor der kleinen Seegemeinde so ein Schild angebracht ist, weiß Edeltraud Schillinger vielleicht gar nicht mehr so richtig, weil sie als Anwohnerin schon ungezählte Male daran vorbeigefahren ist. Da übersieht man die Details, gerade wenn die Realität des alsbald in allen Nebenstraßen bedrohlich stockenden Verkehrs der Erholung grob zuwiderläuft. Jedenfalls kneift Frau Schillinger die Augen zu Schlitzen zusammen, wenn sie daran denkt, was in dem kleinen Ort so los ist an einem sonnigen Sommersamstag. Sprichwörtlich vor ihrer etwas höher über Sipplingen gelegenen Haustür schlängelt sich so eine Art Drei-Länder-Blechkolonne am Friedhof vorbei. „Die Parkplätze vor dem Friedhof sind ja eigentlich für die Friedhofsbesucher gedacht“, stellt die Dame unmissverständlich klar. Die Autos, die da stehen, kommen aber aus Tuttlingen, Tübingen, Aalen, Darmstadt, Frankfurt und Konstanz. Eher unwahrscheinlich, dass diese Autos mit Trauernden besetzt waren. Der Friedhof jedenfalls ist gegen 11
Uhr leer, was Straßen und vor allem der Uferstreifen mit Liegewiesen nicht von sich behaupten können. „Und jetzt noch der Streit zwischen Landratsamt und Bürgermeister“, sagt Edeltraud Schillinger und schüttelt den Kopf.
Wäre der Landrat Lothar Wölfle ein Geistlicher und hieße Don Camillo, dann wäre Sipplingens Bürgermeister so etwas wie sein Gegenspieler Peppone. Warum? Die Geschichte ist schnell erzählt: Weil Bürgermeister Oliver Gortat fand, dass wegen der Menschenmassen an den großzügigen öffentlichen Uferbereichen – die zudem gratis zugänglich sind – die Corona-Regeln kaum eingehalten werden können, hat er die Sperrung der Ufer samt Liegewiesen zwischen 11 und 17 Uhr verfügt. Und zwar von jeweils Freitag bis Sonntag. Das Landratsamt hat diese Ufersperrung aber mit Hinweis darauf gekippt, dass Gortats Vorgehen einerseits juristisch nicht haltbar sei und andererseits „das lokale Infektionsgeschehen in Sipplingen“die Maßnahme nicht rechtfertige, wie es in einer Erklärung des Bodenseekreises heißt. Als Reaktion darauf spielt Gortat nun wiederum einen Trumpf – und sperrt den großen Parkplatz P 1 für Besucher, außerdem die Zufahrten zum Ortskern. Um den Tagesgästen die Lust an Sipplingen zu vergällen – und damit wiederum das Infektionsrisiko zu mindern.
„Richtig so!“, findet Roswitha Keller, eine Bekannte von Frau Schillinger und ebenfalls Anwohnerin. Auch wenn das nun bedeute, dass der Parksuchverkehr, der auch mit offenem P 1 schon erheblich sei, jetzt eben noch deutlich zunähme. Wie zur Bestätigung dampft gerade ein roter BMW mit brachial wummernden Bässen an den beiden Frauen vorbei, sodass sie sich kurz die Ohren zuhalten.
Inzwischen ist es 11.30 Uhr – und der eigentlich gesperrte Parkplatz P 1, der laut Beschilderung nur für Hafenanlieger mit Berechtigungsausweis geöffnet ist, wird von den Autofahrern trotz des Verbots lebhaft genutzt. Ein Mercedesfahrer mit Frankfurter Kennzeichen kommentiert den Hinweis auf das Verbot mit Schulterzucken und fragt: „Ja wo soll ich denn sonst parken?“Wie ihm geht es vielen. Des Bürgermeisters schärfste Waffe bleibt an diesem Tag jedenfalls stumpf – zumal die anderen beiden größeren Parkplätze P 2 und P 3 regulär offen sind. Das an diesem Tag herrschende Verkehrschaos sei die ganz normale Katastrophe Sipplingens wie an jedem anderen Feriensommertag auch, bestätigen nicht nur Roswitha Keller und Edeltraud Schillinger.
Doch das Vorgehen von Bürgermeister Oliver Gortat finden nicht alle Menschen in Sipplingen gut. So etwa die Sonnenanbeter am Uferstreifen, die jetzt zur Mittagszeit immer mehr werden und sich dennoch nicht zu Infektionsherden ballen. Eine Familie mit zwei Kindern aus Villingen-Schwenningen zeigt kein Verständnis für die Sorge des Rathauschefs. Die Mutter sagt: „Gucken Sie sich doch um, das verteilt sich sehr gut. Es ist doch jede Menge Platz.“Tatsächlich halten die Menschen Abstand, nach Überfüllung sieht es nicht aus. Ganz anders das Bild bei Edeltraud Schillinger und Roswitha Keller. Gerade ist Daniela Zeiger aus Tuttlingen angekommen und hat sich einen Schattenparkplatz am Friedhof gesichert. Sie packt alles Nötige für einen Badetag zusammen und sagt: „Ich komme schon seit 42 Jahren nach Sipplingen – meine Kinder haben hier schwimmen gelernt.“Sie sehe die Gefahr durch Corona und habe Verständnis für die Anwohner, aber: „Einfach das Ufer sperren, das kann man doch nicht machen! Wenigstens die Stammgäste sollten kommen dürfen“, womit sie offenbar sich selbst meint.
Im Gespräch mit weiteren Anwohnern wird schnell klar: Sipplingen hat weniger ein Problem mit Virusinfektionen, sondern vielmehr eines mit Verkehr und Parkplätzen, die durch Corona und den Streit zwischen Landratsamt und Rathaus nur noch stärker hervortreten. Frau Schillinger berichtet, dass manche Auswärtigen weder davor zurückschreckten, sich in fremde Carports zu stellen, noch Tore oder Einfahrten zuzuparken. „Wir haben 2100 Einwohner – und manchmal 3000 Tagesgäste. Das ist einfach zu viel“, sagt die Anwohnerin. Und Daniela Zeiger behauptet sogar, es seien am vergangenen Wochenende 6000 gewesen.
Wie lange der Bürgermeister an der Sperrung des Parkplatzes P 1 sowie des Ortskerns festhalten will und ob er mit diesen Maßnahmen sein Ziel, die Infektionsgefahr zu verringern, erreicht sieht, ist an diesem Wochenende nicht zu erfahren. Oliver Gortat ist nicht vor Ort und hat bereits am Freitag auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“ausrichten lassen, nicht erreichbar zu sein – auch nicht per Handy. In einer Mitteilung vom Freitag heißt es: „Die Weisung des Landratsamtes ist für mich nicht nachvollziehbar.“Er halte die Weisung des Landratsamtes für „absolut bedenklich“für die Gesundheit der Bevölkerung. „Ebenso verwundert der Hinweis des Landratsamtes, es gäbe nicht genügend Infektionszahlen, die diese Maßnahme rechtfertigen würden. Nach meinem Verständnis gilt es doch, gerade Derartiges zu verhindern.“
Das geteilte Stimmungsbild vor Ort lässt keinen eindeutigen Schluss zu, welcher nun der richtige Weg ist: der Versuch des Bürgermeisters, Sipplingen vor Massenansammlungen zu bewahren, wie sie nach seiner und der Aussage vieler Bürger zwangsläufig an heißen Tagen immer wieder vorkommen. Oder die Haltung des Landratsamts, das solche Eingriffe ablehnt, weil das Infektionsgeschehen sie nicht rechtfertige. Ein Anwohner gegenüber des Uferstreifens äußert den Verdacht, dass „das Landratsamt nicht dulden kann, wenn ein kleiner Bürgermeister für seine Gemeinde allein entscheidet.“Er wittert einen Machtkampf, bei dem es gar nicht um Corona, sondern um Kompetenzen geht.
Anwohnerin Edeltraud Schillinger hat jetzt erst mal genug von ihrem „Erholungsort“Sipplingen. Sie und ihr Mann haben die Sachen schon gepackt und fahren mit ihrem Campingmobil heute noch los. In den Schwarzwald soll es gehen, an den schönen Titisee.
„Wir haben 2100 Einwohner – und manchmal 3000 Tagesgäste.“
Anwohnerin Edeltraud Schillinger