Ein Zug mit 100 Waggons
Mit nur einem Rucksack, einer Tasche und einem Koffer ist Familie Berger 1945 aus Schlesien geflohen
- Am 24. Oktober 1945 ist in Aalen ein Zug mit schätzungsweise 100 Waggons angekommen. In Viehwaggons sitzen etwa 2000 Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Hubertus Berger, der heute in Aalen lebt, saß damals in jenem Flüchtlingszug.
Es ist Anfang des Jahres 1945, als die SS ins schlesische Sippelsdorf, ein kleines Dorf im damaligen Kreis Löwenberg, dem heutigen Polen kommt. Hubertus Berger ist 12 Jahre alt und lebt mit seiner Mutter und seinen Geschwistern, zwei Schwestern im Alter von 10 und 14 Jahren und einem fünfjährigen Bruder, im dortigen Schulhaus. Der Vater ist Lehrer, zu diesem Zeitpunkt aber an der Front.
Die SS schickt die Dorfbewohner weg, denn die Russen rücken unaufhaltsam in Richtung Westen vor. „Wir hatten etwa 24 Stunden Zeit, um alles zu packen und zu fliehen“, erzählt Berger. Landwirte und ihre Familien stapeln Ihr Hab und Gut auf Fahrzeuge und Fuhrwerke, fliehen mit Pferden und Kühen in Richtung Westen. Was nicht auf die Fuhrwerke passt, müssen die Familien zurücklassen.
Hubertus Berger und seine Familie haben keine Fuhrwerke. Somit können sie nur mitnehmen, was sie tragen können. Ein Rucksack, eine Tasche und ein Koffer: Das war das ganze Gepäck der fünf. Was nimmt man mit, wenn man so gut wie alles zurücklassen muss? „Wichtige Papiere natürlich und vor allem Kleidung“, erzählt Berger.
Zusammen mit zahlreichen anderen Flüchtlingen steigt die Familie in den Zug. In Reichenberg im damaligen Sudetenland, heute Tschchien, werden die Flüchtlinge in einer Fabrikhalle untergracht. „Wir waren etwa 100 Personen, die dort im Strohlager geschlafen haben“, so Berger. Anschließend will man die Menschen nach Bayern bringen, Amberg ist das anvisierte Ziel. Doch dort kommen sie nie an. „Alle wollten nach Westen. Weil unterwegs die Bahnlinie gestört war, hat man den Flüchtlingszug bis nach Österreich geleitet“, wie Berger erzählt.
Im April 1945 kommt die Familie im oberösterreichischen Steyr an. Eine Schule ist dort als Flüchtlingsheim ausgewiesen. Bevor die Familien in leerstehende Häuser ziehen können, wird die Schule ihr neues Zuhause. Dann besetzen amerikanische Truppen die Stadt. „Das ist ganz ohne Kampfhandlung geschehen. Die Amerikaner waren alle freundlich, haben die Wirtschaft wieder belebt und uns mit Lebensmitteln versorgt“, so Berger. Doch dann kommen die Russen. Steyr wird durch zwei Flüsse getrennt. Die Ostseite haben die Amerikaner den Russen überlassen, wie Berger erzählt. Er ergänzt: „Vor den Russen sind wir geflohen und jetzt hatten wir sie doch“, so Berger. Die russischen Truppen sind nicht so freundlich wie ihre amerikanischen Vorgänger. „Die haben sich als Besatzer aufgeführt. Die dortigen österreichischen Automobilwerke, die SteyrWerke, wurden komplett ausgerämt und die Maschinen auf die Eisenbahn verladen. Das Ganze ist wohl nie in Russland angekommen und auf dem Weg irgendwo verrostet“, sagt Berger. Im August 1945 übernehmen die Amerikaner Steyr wieder komplett, wohl im Gegenzug zu einem Gebiet bei Linz, wie Berger erläutert.
Während dieser Zeit hofft die Famile immer noch, wieder nach Hause zu können. „Das hat uns der russische Stadtkommandant in Österreich versprochen“, so Berger. Doch diese Hoffnung wurde zerschlagen. Aber in Österreich konnten die Flüchtlinge nicht bleiben, die Österreicher schicken die so genannten Reichsdeutschen zurück. Mit Bussen und Lastwagen bringt man die Flüchtlinge nach Enz, von wo aus es auf der Schiene weitergeht. „Wir wurden in Viehwaggons mit einem kleinen Strohlager gesetzt“, erinnert sich Berger. Verpflegt wurden die Flüchtlinge unterwegs vom Roten Kreuz und Hilfsorgansisationen.
Über Passau geht es nach Amberg. Die Stadt ist zu diesem Zeitpunkt voll mit Flüchtlingen, man kann keine weiteren Menschen aufnehmen. Nachdem man einen Nachmittag verhandelt hatte, wie Berger erzählt, wird ein zweiter Zug angehängt. Jetzt hängen 100 Waggons an den Lokomotiven, eine vorne, eine hinten. Etwa 2000 Personen, so schätzt Berger, hauptsächlich Frauen, Kinder und Ältere, sitzen in den Waggons.
Am 24. Oktober 1945 erreichen sie nach insgesamt vier Tagen Aalen, ihr Ziel. Vom Ostertag-Gelände bis nach Wasseralfingen erstrecken sich die zahlreichen Waggons, erinnert sich Berger.
Zunächst werden die 2000 Menschen entlaust. „Man hat uns alle mit Pulver bestreut. Das hat natürlich sehr lange gedauert“, wie Berger erzählt. Und dann gab es die erste wame Mahlzeit in Aalen, eine Erbsensuppe im Löwenkeller.
Amerikanische Lastwagen verteilen die Flüchtlinge dann auf die Dörfer und Gemeinden im Ostalbkreis. Berger und seine Familie werden nach Lauterburg gebracht. „Dort hat uns der Bürgermeister auf verschiedene Familien verteilt. Ältere Kinder wurden von den Geschwistern oder Eltern getrennt. Ich kam also allein zu einer Landwirtsfamilie“, so Berger. Mehr als 32 500 Menschen gelangten damals aus den Ost- und Siedlungsgebieten in den Altkreis Aalen, wie Alois Schubert im „Aalener Jahrbuch“schreibt. „Rechnet man die Zahl von 82 000 ,Altbürgern´ des Jahres 1939 als Ausgangsbasis von 100 Prozent, so ergeben die Ankömmlinge zusätzlich 40 Prozent an Einwohnern“, heißt es dort weiter. Trotzdem wurden Berger und seine Familie sehr
75 JAHRE NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG erzählt Hubertus Berger
„Alle wollten nach Westen. Weil die Bahnlinie gestört war, hat man den Zug nach Österreich geleitet“,
gut aufgenommen. „Wir waren alle zusammen in Lauterburg und wurden von den Menschen dort sehr gut aufgenommen und verpflegt“, ist Berger dankbar.
Bergers Vater stirbt schließlich in Gefangenschaft, in der Nähe von Taschkent. Hubertus Berger absolviert eine Gärtnerlehre bei der Gärtnerei Ulrich in Aalen. Heute lebt er im Hüttfeld.
In der alten Heimat war er bisher dreimal, zum ersten Mal nach der Wende. Die Gegend ist heute ein beliebtes Skigebiet, wie Berger erzählt. Ob er sich denn in Aalen wohlgefühlt habe? „Auf jeden Fall. Wir haben hier viele Freunde und Bekannte gefunden und uns sehr gut eingelebt“, sagt er.
Und auch in anderen Teilen des Ostalbkreises ist die Integration gelungen. So schreibt Alois Schubert im „Aalener Jahrbuch“: „Dass sich aus dem quantitativen Zuwachs an Bevölkerung wie aus der qualitativen Unterschiedlichkeit der ,Neubürger’ im Zusammenleben mit den ,Altbürgern’ ein " neues Volk" entwickeln würde, wagte am Anfang der Symbiose wohl kaum jemand bewusst und klar aufzunehmen. Dankbar lässt sich nur vermerken, dass dies alles erfolgreich geschehen ist!“