„Journalismus gehört zur Demokratie wie sauberes Wasser zum Leben“
Journalismusforscher Klaus Meier über die Rolle und die Zukunft von Regionalzeitungen und ihre Bedeutung in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und in der Corona-Pandemie
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RAVENSBURG/EICHSTÄTT - Laut seinen Berechnungen gibt es die gedruckte Zeitung wohl nur noch bis zum Jahr 2033: Journalismusforscher Prof. Klaus Meier. Seit 2011 leitet er den Lehrstuhl für Journalistik I an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Im Gespräch mit Simon Schwörer erklärt Meier, warum er sich vielfältigen Journalismus wünscht, welche Bedeutung Regionalzeitungen haben und warum Journalismus zukünftig auch staatlich finanziert werden könnte.
Herr Professor Meier, die „Schwäbische Zeitung“feiert dieses Jahr ihr 75-jähriges Bestehen. Welche Bedeutung hatten und haben Regionalzeitungen in Deutschland?
Journalismus gehört zur Demokratie wie sauberes Wasser zum Leben. Daraus leitet sich auch die Bedeutung der Regionalzeitung ab. Die Menschen in der Region brauchen eine verlässliche Stimme, die ihnen Orientierung in der Nahwelt gibt, Missstände aufdeckt und mit kritischer Distanz auf die Machthaber in der Region blickt.
Was hat sich in den vergangenen 75 Jahren an der Aufgabe von Journalisten im lokalen und regionalen Bereich geändert?
Der Nationalsozialismus war geprägt durch radikale und perfide Propaganda. Darum wurde die Medienlandschaft in Deutschland von den Alliierten – völlig zu Recht – plattgemacht. Nach Ende des Naziregimes war die Herausforderung, nicht nur Journalismus neu mit professioneller Unabhängigkeit zu beleben, sondern auch Demokratie zu lernen. Journalisten lernten gemeinsam mit den Lesern, Demokratie mit Inhalten zu füllen. Da lassen sich durchaus Parallelen zur heutigen Situation ziehen. Denn wir laufen ein bisschen Gefahr, unsere Demokratie zu vernachlässigen, weil wir sie als zu selbstverständlich ansehen. Wir müssen Demokratie aber auch heute leben – jeder von uns. Etwa indem wir gemeinschaftlich Lösungen finden, in der Öffentlichkeit konstruktiv und faktenbasiert diskutieren und nicht, indem wir Verschwörungsmythen hinterherlaufen oder uns von Populisten in die Irre führen lassen. Dafür braucht es den Journalismus als unabhängige Stimme, der diesen öffentlichen Diskurs moderiert.
Die Medienlandschaft ist im Wandel, viele Zeitungen verlieren Leser. Es scheint, als ob die Zeitung heute für manche weniger wichtig ist als etwa vor 75 Jahren. Stimmt das?
Es kommt darauf an, wie wir Zeitung definieren. Zeitung als gedrucktes Produkt hat in der Tat kontinuierlich bei vielen Menschen an Bedeutung verloren. Aber die Zeitung als Institution des Journalismus, auf vielfältigen Kanälen, erreicht viele Menschen. Sie hat also nicht an Bedeutung verloren, im Gegenteil: Die Reichweite der Regionalzeitungen auf ihren digitalen Kanälen ist inzwischen zum Großteil sogar höher als die der gedruckten Zeitung.
Im Netz gibt es Nachrichten aus aller Welt oft kostenlos. Welche Auswirkungen hätte es, wenn es keine lokale Berichterstattung mehr geben würde?
Ohne Lokalzeitungen informiert die Öffentlichkeit vielleicht noch der Bürgermeister, die Opposition im Gemeinderat oder interessierte Aktivisten. Aber es fehlt die unabhängige Stimme, der neutrale Beobachter. Diese professionelle Aufgabe kann aber nicht kostenlos sein. Das Bewusstsein muss sich noch stärker verankern, dass eine gute, unabhängige Information auch im Lokalen Geld kostet. Es sind zudem immer mehr Menschen bereit, für diese wichtige Funktion auch im Internet zu bezahlen.
Die Corona-Pandemie zeigt: Das Bedürfnis nach Nachrichten wird immer größer, gleichzeitig gibt es auch Kritiker, die die Glaubwürdigkeit von journalistischen Inhalten anzweifeln. Woran liegt das und wie können wir dem entgegenwirken?
Am Anfang der Corona-Pandemie war gerade überregionaler Journalismus eher Verkündungsjournalismus: Entscheidungen der Regierungen wurden verkündet und nicht kritisch gegenrecherchiert, ob etwa alle Einschränkungen von Freiheitsrechten notwendig oder nicht auch zum Teil willkürlich waren. Vielleicht war das ein Aspekt, weshalb einige Menschen skeptisch geworden sind, ob man den Medien trauen kann. Den Sommer hindurch und auch jetzt größtenteils im Herbst war der Journalismus distanzierter, vielfältiger und kritischer als noch im März und April. Auch in Krisenzeiten brauchen wir vielfältigen Journalismus, der alle Perspektiven aufgreift und recherchiert. Gerade jetzt gilt, dass Journalismus
nicht Sprachrohr der Virologie, sondern immer Sprecher der Demokratie sein muss.
In Zeiten von Corona vermischen manche Menschen Meinung und
Fakten. Wie können Journalisten dem begegnen?
Meinung findet man im Internet an jeder Ecke – auch manipulierende Meinung. In dieser Informationsflut aus Meinung und Fakten muss unabhängiger Journalismus versuchen, die alte Regel wieder stärker zu beachten, dass Nachricht und Meinung zu trennen sind. Als Zeitung ist es gerade in dieser Zeit ein ganz guter Ansatz, unabhängig zu sein und Meinung aus Berichten herauszuhalten. Andere sagen aber, gerade jetzt müsse Journalismus Meinung liefern: faktisch begründete, recherchierte Meinung – aber sauber ausgezeichnet und getrennt.
Die „Tagesthemen“der ARD haben ihren „Kommentar“in „Meinung“umbenannt. Müssen auch Zeitungen hier deutlicher klar machen, was Meinung ist und was Bericht?
Zeitungsleser haben schon verstanden, dass es die Meinung des Autors ist, wenn über dem Text Kommentar steht. Aber Journalisten sollten bei der Formulierung von Berichten, vor allem auch bei Überschriften, achtsam sein, dass nicht unabsichtlich oder schlampig Meinung darin landet. Zeitungen müssen täglich beweisen, dass sie distanziert und unabhängig berichten.
Zeitungen setzen auch auf soziale Netzwerke wie Facebook und Instagram. Dort versuchen sie auch junge Leser anzusprechen. Aber zahlt sich das aus?
„Auszahlen“ist ein schönes Wort. Das bedeutet ja zunächst, ob am Ende hinten Geld herunterfällt, mit dem man das Ganze finanzieren kann. Wenn man den Begriff aber weiter fasst, meint er, dass soziale Netzwerke die Reichweite und eventuell auch das Image der Zeitungen bei jungen Menschen erhöhen. Bisher entsteht daraus aber kein finanzieller Erlös. Zwar wollen soziale Netzwerke künftig Informationslieferanten und Medienhäuser stärker an ihren Gewinnen beteiligen. Letztlich sind das aber Peanuts und es entstehen neue Abhängigkeiten von diesen Plattformen. Es ist für Medienhäuser wirklich eine zwiespältige Angelegenheit, sich auf die sozialen Netzwerke einzulassen.
Sie haben berechnet, dass 2033 die letzte gedruckte Zeitung in Deutschland erscheinen könnte. Wie kommen Sie auf dieses Datum und wie geht es in naher Zukunft für den Journalismus weiter?
Diese Jahreszahl beruht auf der simplen Berechnung der gedruckten Auflagenzahl aller Zeitungen in Deutschland. Diese fiel in den vergangenen 25 Jahren stetig. Wenn man diese Kurve mit einem Statistikprogramm verlängert, schneidet sie im Jahr 2033 die Nulllinie. Aber das ist natürlich total pauschal, die Situation ist in den Regionen unterschiedlich. Es wird Regionen geben, in denen die Zeitung deutlich länger als 2033 gedruckt ausgeliefert wird. Wir werden in den kommenden fünf bis zehn Jahren allerdings auch Zeitungen sterben sehen und erleben, dass Gemeinden in dünn besiedelten Regionen nicht mehr mit einer gedruckten Zeitung beliefert werden können. Der Wandel des Journalismus hängt auch von künftigen technischen Entwicklungen und Endgeräten ab. Wer hätte sich etwa vor 15 Jahren vorstellen können, dass wir heute auf einem Telefon unsere Nachrichten rezipieren, Videos anschauen und dass dies zum Alltag gehört?
Welche Prognose geben Sie dazu ab, wie Medienhäuser in 75 Jahren aufgestellt sind und finanziert werden?
Wenn wir dann noch in einer Demokratie leben, wird es definitiv auch Journalismus geben. In welcher Form er gelebt und finanziert wird, ist allerdings schwer vorherzusagen. Selbstständige Journalisten können dabei nur Nischenbereiche ausfüllen. Professioneller Journalismus braucht Organisation, braucht das Rückgrat eines Verlags oder einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt. Ich bin überzeugt davon, dass auch in 75 Jahren der Großteil der Informationen institutionell aus einem Medienhaus oder Verlagshaus kommen muss – auch wenn wir das dann vielleicht anders nennen. Ich gehe davon aus, dass wir in den kommenden Jahren digitale journalistische Inhalte noch stärker über Nutzer finanzieren können. Aber wir werden durchaus diskutieren müssen, ob wir diese gesellschaftliche Aufgabe Journalismus nicht auch staatlich über Steuermittel finanzieren wollen. Das darf natürlich nicht zu einer politischen Abhängigkeit und Einflussnahme führen, Mittel müssten von unabhängigen Gremien nach ganz klaren Kriterien vergeben werden.