Aalener Nachrichten

Stuttgart geht mutig ins Spitzenspi­el

Der VfB Stuttgart könnte heute in Dortmund einen Jugendreko­rd aufstellen, zittert aber um seinen Macher

- Von Jürgen Schattmann

(sz) - Optimistis­ch geht der VfB Stuttgart ins Spitzenspi­el bei Borussia Dortmund am Samstag: Nicolas Gonzalez und Daniel Didavi sind wieder einsatzber­eit, durch den Ausfall des 33-jährigen Kapitäns Gonzalo Castro dürfte eine der jüngsten Mannschaft­en des vergangene­n Jahrzehnts für den VfB an den Start gehen. Für Sportdirek­tor Sven Mislintat ist es eine Rückkehr in die Heimat. Der 48-Jährige zögert noch mit einer Vertragsve­rlängerung und koppelt sie an ein Bleiben von Vorstandsc­hef Thomas Hitzlsperg­er, allerdings schwärmen auch die Dortmunder verdächtig laut von ihrem alten Kaderplane­r.

STUTTGART - Borna Sosa bezeichnet­e den Stuttgarte­r Kapitän Gonzalo Castro kürzlich als „unseren besten Mann in der Kabine“, was durchaus als Kompliment gemeint war, selbst wenn alle Fußballer dieser Welt lieber die besten Männer auf dem Platz wären. Castro, das meinte der Linksverte­idiger, sei für jeden Spieler ein Freund und Ansprechpa­rtner und helfe, wo er nur könne.

Natürlich werden sie ihren gelbgesper­rten Anführer am Samstag im Spitzenspi­el bei Borussia Dortmund (15.30 Uhr/Sky), wo die Stuttgarte­r seit 14 Jahren nicht mehr gewonnen haben, auch auf dem Feld vermissen. Anderersei­ts spielte der VfB nicht unbedingt schlecht, als Castro zuletzt fehlte: Beim 6:0-Kantersieg in Nürnberg machte das Team Ende Juni den Aufstieg perfekt. Und das Fehlen seines 33-jährigen Teamsenior­s gibt dem Trainer Pellegrino Matarazzo immerhin die Chance, einen neuen Rekord zu schreiben. Die Elf von Nürnberg war mit 24,1 Jahren im Schnitt seine jüngste bisher, gut möglich, dass er heute eine Formation bildet, die zu den zehn juvenilste­n in der langen VfB-Historie zählt. Jürgen Sundermann hält mit seiner Zweitliga-Rasselband­e um den 18-jährigen Karlheinz Förster und den 19-jährigen Hansi Müller mit 22,6 Lenzen den 43 Jahre alten Clubrekord.

Wenn er wollte, könnte Matarazzo die Marke auch problemlos toppen. Gleich 17 Spieler aus seinem 34Mann-Kader sind 22 Jahre und jünger, doch vermutlich dürfte er nicht allzu viele Veränderun­gen vornehmen gegenüber dem 2:1-Sieg in Bremen. Nicolas Gonzalez, Daniel Didavi (beide sind wieder fit und stehen im Kader) und Philipp Förster dürften den Castro-Ersatz unter sich ausmachen. Wie schwierig es ist, die Qual der Wahl zu haben, machte der Trainer am Donnerstag deutlich. „Wenn alle fit sind, kann ein großer Kader auch ein Nachteil sein“, sagte der Coach. Es sei „extrem aufwendig, alle Spieler bei Laune zu halten“, stets zu kommunizie­ren, warum manche nicht spielen dürfen, was sie besser machen müssten. Es ist die meistunter­schätzte Arbeit eines Fußballleh­rers – unterlässt er sie, ist schlechte Stimmung garantiert. Matarazzo räumte ein, er habe deshalb keineswegs Spieler auf seinem Weihnachts­wunschzett­el, man werde eher überlegen, wie man manchem Spieler mehr Einsatzzei­t geben kann – verleihen oder verkaufen also. Sven Mislintat, der Kaderplane­r, wird somit wieder gefordert sein.

Für den Sportdirek­tor des Aufsteiger­s und Ligaachten, der so stark spielt wie seit elf Jahren nicht mehr, als der VfB unter Markus Babbel Dritter wurde, ist das Gastspiel beim BVB ein sehr spezielles. „Es ist ein Nachhausek­ommen, ich freue mich ungemein“, sagt Mislintat, auch wenn er lieber wie einst einer von 80 000 Zuschauern wäre. Der 47-Jährige wurde in Dortmund geboren, seine Mutter lebt heute noch dort, elf Jahre arbeitete er in der Scoutingab­teilung des BVB. „Diamantena­uge“nannten sie Mislintat, als sei er der Rivale von James Bond, weil er aus den Untiefen des Spielermar­kts spätere Stars wie Lewandowsk­i, Aubameyang oder Dembélé entdeckte. Sein wichtigste­r Transfer sei allerdings Shinji Kagawa gewesen, sagte er jüngst. Der Japaner, der für 350 000 Euro kam und seinen Marktwert nach sechs Monaten verfünfzig­facht hatte.

In Dortmund haben sie Mislintat und seine Kunst, aus kleinen Mitteln ganz viel zu machen, nicht aus den Augen verloren, es wäre auch schwer, denn alle vier Wochen wird ja derzeit ein neuer Stuttgarte­r zum Bundesliga­Rookie des Monats gewählt. Im Oktober war es Mateo Klimowicz, im November Silas Wamangituk­a. Und auch in Stuttgart war die Entdeckung eines unbeschrie­benen Japaners – Stratege Wataru Endo – sein bisher größter Coup. „Sven hat einen hervorrage­nden Job gemacht. Die Mannschaft ist speziell in der Offensive mit individuel­l guten Spielern besetzt“, sagt Dortmunds Manager Michael Zorc. Und: Alle Mislintat-Transfers hätten enormes Tempo, der VfB wirke aber auch gut organisier­t. „Ich kann da meinem Kollegen und früherem Partner ein großes Kompliment machen.“

Ob Zorc, der 2022 aufhören will, da bereits seinen Nachfolger willkommen heißt? Noch ist es bei Weitem kein Automatism­us, dass der Ex-Nationalsp­ieler und Lizenzspie­lerchef Sebastian Kehl auch als Kaderplane­r und BVB-Mastermind in Zorcs Fußstapfen treten darf. Und noch zögert auch Mislintat, seinen auslaufend­en Vertrag mit dem VfB zu verlängern. Stuttgart habe zwar die klare Pole-Position inne, sagte er vor Wochen. Dass er beim FC Arsenal nach dem Abgang von Teammanage­r Arsene Wenger 2018 jeglichen Einfluss im Club verlor, ist Mislintat allerdings eine Warnung. Gebrannte Kinder scheuen das Feuer. Noch hat er in Stuttgart maximalen Gestaltung­sspielraum („In der aktuellen Konstellat­ion mache ich mir überhaupt keine Sorgen“), bei einem Abgang von Vorstandsc­hef und Sportvorst­and Thomas Hitzlsperg­er aber könnte sich das schnell ändern. „Finanziell sind wir uns im Prinzip einig, jetzt gibt es noch zu besprechen, wie man den Verantwort­ungsbereic­h absichert. Für mich ist es ganz wichtig, den Weg, den wir hier begonnen haben, fortsetzen zu können. Dazu gehört auch die Absicherun­g meiner Kompetenze­n. Denn was passiert, wenn Thomas nur noch Vorstandsv­orsitzende­r ist?“, fragt Mislintat.

Auch der Vertrag mit Hitzlsperg­er, der 2022 endet, solle deshalb verlängert werden, fordert er, alternativ könnte der VfB Mislintat selbst zum Sportvorst­and befördern. Immerhin: Laut Präsident Claus Vogt stehen die Zeichen auf Einigung: „Sven Mislintat macht einen sehr guten Job, natürlich auch Hitzlsperg­er, Matarazzo, Markus Rüdt und viele andere. Wir haben gute sportliche Rahmenbedi­ngungen und eine intakte Mannschaft. Warum sollten wir da etwas ändern?“

Exakt das fragt sich auch Matarazzo vor dem Duell bei der Borussia, die ohne Wunderstür­mer Erling Haaland und womöglich auch ohne Mats Hummels antreten muss. „Wir wollen weiter mutig sein und unsere Idee von Fußball durchsetze­n“, sagt er. Dass der VfB auswärts noch immer ungeschlag­en, dafür zu Hause sieglos ist, sei derweil „ein Zufall. Wir machen auswärts nichts anderes als daheim.“Auch Mislintat will seinem Heimatclub die Stirn bieten. Er sagt: „Wir fahren nicht dahin, um uns zu ergeben.“

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Zwei, die wohl auch in Zukunft zusammenha­lten: VfB-Trainer Pellegrino Matarazzo umarmt den Stuttgarte­r Sven Mislintat.

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