Ein erster Schritt in Richtung Normalität
Das Shingal-Abkommen soll die Region im Irak auf die Rückkehr der Flüchtlinge vorbereiten
Als alle Welt im Oktober dieses Jahres gebannt auf die USA blickte, um die neusten Irrungen und Wirrungen im US-Wahlkampf zu verfolgen, vollzog sich im Irak eine erstaunliche Wendung. Eine Delegation aus kurdischen Regierungsmitgliedern reiste von Erbil nach Bagdad, um dort am 9. Oktober ein Abkommen zu unterzeichnen, in dem vereinbart wurde, wer in der Region Shingal künftig das Sagen haben soll – und wer für Sicherheit, Verwaltung und eine funktionierende Infrastruktur sorgen soll. Eine Vertreterin der Vereinten Nationen gab kraft Anwesenheit dem Vorgang internationales Gewicht. Nicht dabei waren hingegen die Jesiden, um deren Heimatregion es eigentlich ging. Aber immerhin: Wenige Wochen später wurde eine jesidische Delegation vom zentralirakischen Ministerpräsidenten Mustafa al-Kadhimi nach Bagdad eingeladen, um sie von seinem Ansinnen zu überzeugen.
Al-Kadhimi will, dass alle Binnenflüchtlinge im Nordirak, nicht nur die Jesiden, sondern auch geflohene Araber, möglichst rasch in ihre Heimat zurückkehren. Für die Jesiden, die derzeit noch zu Hunderttausenden in der Nähe der kurdischen Stadt Dohuk wohnen, eröffnet sich dadurch eine Chance, auf die sie in den vergangenen sechs Jahren nach dem Völkermord im Jahr 2014 sehnlichst gewartet haben. Sie können zurück in ihre Dörfer im Shingal, aus denen sie geflohen sind, als der sogenannte Islamische Staat über sie herfiel. Doch welchen Preis bezahlen sie für diese Rückkehr? Wer hilft ihnen beim Start in ein Leben, das nicht mehr wie ihr altes sein kann?
„Die Jesiden, die aus Dohuk in ihre Dörfer zurückkehren, sind weitgehend auf sich allein gestellt“, sagt Sargon Gorgees Oraha, Projektleiter bei der christlichen Hilfsorganisation Dorcas Aid International, die in den Niederlanden ihren Hauptsitz hat. „Vor allem im Süden des Shingal-Gebietes gibt es viele Dörfer, in denen es an allem fehlt, was man zum Leben braucht.“Es mangele an Strom, Wasser und an einfachster Infrastruktur und Gesundheitsversorgung. Zudem seien viele Häuser der Jesiden inzwischen von anderen Shingal-Bewohnern belegt – was weitere Konflikte zur Folge habe. Warum die Rückkehrer trotz der Aussicht auf Not und Elend die Flüchtlingscamps bei Dohuk verlassen haben? „Die CoronaPandemie hat den Menschen dort den letzten Nerv geraubt. Sie saßen dicht aufeinander, hatten Angst vor Ansteckungen und kein Einkommen mehr, weil sie sich nicht mehr als Tagelöhner verdingen konnten“, sagt Oraha. Deshalb hätten einige Tausend Jesiden den Aufbruch in ihre neue, alte Heimat gewagt.
Sicherheit, Stabilität und Wiederaufbau soll das neue irakisch-kurdische Shingal-Abkommen der Region bringen. Doch das funktioniert nur, auch in diesem Punkt sind sich Kurden und Zentralregierung einig, wenn die kurdische Arbeiterpartei (PKK) und Milizen wie die proiranische Haschd al-Shaabi sich aus der Region zurückziehen. Das Problem dabei ist nur: Die PKK, die dort nach 2017 die Kontrolle übernommen hat, sieht keine Veranlassung dazu. „Sie haben angekündigt, sich auf keinen Fall freiwillig aus diesem Gebiet zurückzuziehen, sie drohen sogar damit, verbrannte Erde zurückzulassen, wenn sie zum Abzug gezwungen werden“, sagt Thomas Shairzid, Irak-Beauftragter der Flüchtlingshilfe Essen, der langjährigen Partnerorganisation der „Schwäbischen Zeitung“. Solange die Sicherheitslage aber so instabil sei im Shingal, halte sich die Weltgemeinschaft mit Hilfen für den Aufbau zurück. „Für die Menschen bedeutet das, sie haben bislang wenig Unterstützung“, sagt Shairzid. „Deshalb ist es so wichtig, dass wir ihnen mit Gewächshäusern, Hühnern, Wasserbehältern, Lebensmittel und Schulmaterial für die Kinder helfen.“Geld von der irakischen Zentralregierung für den Wiederaufbau sei derzeit nicht zu erwarten. „Die irakische Regierung hat massive Geldnot, weil der Ölpreis im Keller ist“, sagt Shairzid. Das trifft natürlich auch die kurdische Regierung, die sich in der Vergangenheit immer wieder mit Bagdad
ums Geld gestritten hat. Immerhin: Frankreich hat bereits angekündigt, im Shingal ein Krankenhaus mit 100 Betten bauen zu wollen. Deutschland unterstützt nach Angaben des Entwicklungsministeriums den Wiederaufbau von Kindergärten, Schulen und Straßen in Shingal und in Niniveh. Und die deutsche Regierung hilft auch mit einem speziellen Projekt jesidischen Frauen in dieser Region. „Wir unterstützen 345 frauengeführte Haushalte mit fast 1600 Familienmitgliedern in 22 Dörfern im ShingalDistrikt“, sagt Susan Leichtweiß von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), die das Projekt leitet.
Die Idee dahinter: Die Frauen sollen dabei unterstützt werden, dass sie für sich und ihre Familien selbst sorgen können. „Je nach Bedarf konnten die Frauen sich fortbilden, wie sie besser ihre Tiere versorgen, die Felder bestellen, Gewächshäuser bepflanzen und Dünger einsetzen“, sagt Leichtweiß. Gewächshäuser, Saatgut, Düngemittel, Bewässerungssysteme für die Felder und insgesamt 124 Kühe, die bislang elf Kälbchen bekommen haben, wurden an die Projekteilnehmerinnen verteilt. Andere Jesidinnen wurden mit einer kleinen Geldsumme unterstützt, über die sie selbst verfügen konnten. „Die meisten Frauen haben das Geld in Schafe oder Ziegen investiert. Sie wissen, dass diese Tiere eine gute Einkommensquelle in dieser zum Teil unwirtlichen Gegend sind“, so die Projektleiterin. „Mit den Gewinnen aus der Landwirtschaft, aus dem Verkauf von Milch und Gemüse, erwirtschaften sie ein kleines Einkommen für ihre Familien“, sagt Leichtweiß. Ein Lichtblick für die jesidischen Frauen, die in dieser von Kriegen und Konflikten erschütterten Weltregion ihr Überleben selbst organisieren müssen.
Die Gräueltaten des IS, die Ermordung Tausender Männer und die Verschleppung und Vergewaltigung von Tausenden Frauen, liegen wie eine schwere Last auf dem gesamten Shingal-Gebiet. Immer wieder kommt es zu Streitigkeiten zwischen Jesiden und ihren arabischen Nachbarn wegen der Geschehnisse im Jahr 2014. „Die Jesiden glauben, dass alle Araber Teil des Völkermordes waren“, sagt Docas-Projektleiter Oraha. „Das stimmt zwar nicht, aber es wird sehr lange dauern, bis es eine Aussöhnung geben kann.“Aber auch innerhalb der Jesiden hat die Vergangenheit zu einer Spaltung geführt. „Beispielsweise in der Frage, wie man mit der auch in Deutschland als terroristische Vereinigung angesehenen PKK umgehen soll, gibt es Differenzen untereinander“, schreibt Gregor Jaecke, Leiter des Auslandsbüros Syrien/ Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“. „Viele sehen in der kurdischen Arbeiterpartei noch immer eine Art ,Schutzmacht‘, der man sich nach dem Genozid anvertrauen konnte – als man sich von vielen anderen Akteuren im Stich gelassen fühlte.“Fakt ist, dass die PKK zusammen mit der syrischen YPG diejenigen waren, die beim Angriff des IS auf die Jesiden Fluchtmöglichkeiten freikämpften. Die kurdischen Peschmerga-Kräfte hatten sich kampflos zurückgezogen. Fakt ist aber auch, dass die Türkei Luftangriffe auf das Shingal-Gebiet fliegt, solange sie dort PKK-Kämpfer vermutet.
Ist das Glas nun halbvoll oder halbleer? „Die Lage ist schwierig, aber nicht hoffnungslos“, sagt Thomas Shairzid. „Wenn, dann ist jetzt der Zeitpunkt, an dem etwas vorangehen kann.“Er versteht, dass die Flüchtlinge trotz der schwierigen Bedingungen im Shingal lieber zurückgehen als in den Camps bei Dohuk zu bleiben. Es wird nach seiner Einschätzung aber noch mindestens zwei Jahre dauern, bis sich die Camps mit mehr als 300 000 jesidischen Flüchtlingen leeren werden. KASRegionalleiter Jaecke sieht in dem Shingal-Abkommen einen „wichtigen ersten Schritt“für die Rückkehr der Flüchtlinge. Die Regierungen in Erbil und Bagdad müssten allerdings „noch stärker als bisher auf die betroffenen Jesiden zugehen“und sie einbinden, um die Akzeptanz in der Bevölkerung für das neue kurdischirakische Miteinander zu erhöhen. Da ist „noch deutlich Luft nach oben“, schreibt er.
„Die Jesiden, die aus Dohuk in ihre Dörfer zurückkehren, sind weitgehend auf sich allein gestellt.“
Sargon Gorgees Oraha, Projektleiter bei der christlichen Hilfsorganisation Dorcas Aid International