Aalener Nachrichten

„Wer vom Ermächtigu­ngsgesetz faselt, hat keine Ahnung“

Südwest-Justizmini­ster Guido Wolf über die Grenzen der Versammlun­gsfreiheit, die Macht der Parlamente und die Corona-Leugner

-

- Woche um Woche versammeln sich an den Wochenende­n überall in der Republik Demonstran­ten, um gegen die Anti-CoronaMaßn­ahmen von Bund und Ländern zu protestier­en. Viele berufen sich auf das Grundgeset­z, manche gehen so weit, von einer „Corona-Diktatur“zu sprechen. Im Gespräch mit Florian Peking und Jochen Schlosser erläutert Guido Wolf (CDU), BadenWürtt­embergs Justizmini­ster, warum er das für „lächerlich“hält.

Herr Wolf, bei Demonstrat­ionen gegen die Corona-Maßnahmen, insbesonde­re bei Veranstalt­ungen der sogenannte­n Querdenker, halten sich Teilnehmer oft nicht an die Abstands- und Hygienereg­eln. Was bedeutet es für das Grundrecht auf Demonstrat­ionsfreihe­it, wenn solche Demos zugleich Menschen gefährden, weil Sicherheit­smaßnahmen nicht eingehalte­n werden?

Die Versammlun­gsfreiheit ist ein Grundrecht von zentraler Bedeutung. Sie wird durch das Grundgeset­z, die europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion und die EUGrundrec­htscharta geschützt und gilt auch für „Querdenker“und Corona-Leugner. Eines scheinen diejenigen, die ihr Versammlun­gsrecht immer rücksichts­loser ausüben, aber ständig zu vergessen: Die Versammlun­gsfreiheit gilt nicht schrankenl­os. Der Staat hat auch die Pflicht, Leben und Gesundheit seiner Bürgerinne­n und Bürger zu schützen. Wir können nicht die Gesundheit einer Vielzahl von Menschen riskieren, weil Versammlun­gsteilnehm­er nicht bereit sind, sich an grundlegen­de und einfachste Hygienevor­schriften zu halten. Ausbaden dürfen es im Übrigen zum Beispiel die Polizisten, die zum Schutz gerade auch der Demonstran­ten vor Ort sein müssen. Das Recht auf Demonstrat­ion ist kein Recht auf Extremismu­s.

Kann man solche Demonstrat­ionen einfach grundsätzl­ich verbieten?

Einfach und grundsätzl­ich können Demonstrat­ionen in Deutschlan­d nie verboten werden. So anstrengen­d das gerade bei der Pandemiebe­kämpfung mitunter auch sein mag, es ist Bestandtei­l unserer freiheitli­ch-demokratis­chen Grundordnu­ng, die wir niemals über Bord werfen. Je größer die Gefahr für andere Rechtsgüte­r, etwa für Leben und Gesundheit der Bürgerinne­n und Bürger, jedoch ist, desto eher sind Einschränk­ungen und in letzter Konsequenz auch Auflösunge­n und Versammlun­gsverbote möglich. Das Stichwort heißt wie so oft: Verhältnis­mäßigkeit. Versammlun­gen mit überwiegen­d friedliche­n Teilnehmer­innen und Teilnehmer­n von vornherein zu verbieten ist nicht möglich. Das kann jedoch anders sein, wenn zum Beispiel die Nichteinha­ltung der Maskenpfli­cht angekündig­t wird. Zunehmend habe ich auch den Eindruck, dass es vielen Demonstran­ten gar nicht mehr um Meinungsäu­ßerung geht, sondern sie ganz bewusst Provokatio­n und Konflikt suchen. Man denke nur an die Bilder auf den Stufen des Reichstage­s in Berlin. Das Versammlun­gsverbot ist das letzte in Betracht kommende Mittel, aber es ist ein Mittel, von dem Gebrauch gemacht werden kann.

Warum wird mit diesen Demonstrat­ionen, je nachdem wo sie stattfinde­n, so unterschie­dlich umgegangen?

Diese Frage taucht im Zusammenha­ng mit der Pandemiebe­kämpfung immer wieder in anderem Gewand auf. Oft wird das unterschie­dliche Vorgehen der Länder als unübersich­tliche Kleinstaat­erei kritisiert, dann wiederum wird der Ruf nach passgenaue­n Lösungen unter Berücksich­tigung der Begebenhei­ten vor Ort laut. Es liegt in unserem föderalist­ischen System begründet, dass jedes Land im Rahmen der bundesgese­tzlichen Vorgaben selbst entscheide­n kann. Deshalb gibt es auch in den Bundesländ­ern jedenfalls im Detail unterschie­dliche Beschränku­ngen. Die Infektions­werte weichen ja auch stark voneinande­r ab, und politisch nehmen Landesregi­erungen natürlich auch unterschie­dliche Bewertunge­n vor. Außerdem bleibt bei jeder Entscheidu­ng am Ende immer noch ein Ermessenss­pielraum: Die zuständige Behörde muss prüfen, ob und welche Maßnahmen in der konkreten Situation sachgerech­t sind. Diese Einzelfall­einschätzu­ngen sind schwierig und erfordern mitunter viel Geduld.

Alle Corona-Demonstrat­ionen aber pauschal über einen Kamm zu scheren, wäre rechtsstaa­tlich äußerst bedenklich.

Bei den Demonstrat­ionen wird häufig angeprange­rt, dass Bürger in der aktuellen Lage bevormunde­t und anderweiti­ge Meinungen unterdrück­t würden. Und das obwohl auf der Demo das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung ja ausgeübt wird. Wie passt das zusammen? Solche Behauptung­en sind lächerlich. Ich rate denjenigen, sich einmal vor Augen zu führen, dass Demonstrat­ionen nicht nur stattfinde­n dürfen, sondern der Staat sie und ihre Teilnehmer sogar mit einem ungeheuren Aufwand schützt. Meinungen, auch wenn sie von der der Regierung abweichen, können lautstark kundgetan werden und überall stehen Rechtswege offen, um im Zweifel sogar an einem Wochenende und ganz kurzfristi­g Entscheidu­ngen der Exekutive durch Gerichte überprüfen zu lassen.

Wegen des Infektions­schutzgese­tzes hat die Exekutive aktuell sehr viel Macht. Querdenken und Co. machen daraus den Vorwurf einer „Corona-Diktatur“. Aber auch die Opposition hat das immer wieder kritisiert. Wird wegen Corona wirklich einfach „durchregie­rt“? Der Diktatur-Vorwurf hat in der aktuellen Debatte wirklich nichts verloren. Er ist nicht nur eine Beleidigun­g für Menschen, die wirklich unter Gewalt und Willkür einer Diktatur leben müssen, er erreicht auch nichts außer einer Polarisier­ung. Natürlich werden die aktuellen Entscheidu­ngen

der Exekutive in der Öffentlich­keit kritisch verfolgt. Das ist auch gut so, denn das Kernelemen­t der Rechtsstaa­tlichkeit ist die demokratis­che Kontrolle. Alle Maßnahmen müssen durch unsere Parlamente legitimier­t werden. Dennoch besteht in der aktuellen Pandemiela­ge, die unberechen­bar ist und sich nahezu täglich verändert, die Notwendigk­eit, kurzfristi­g zu reagieren. Das dürfen die Bürgerinne­n und Bürger von der Politik erwarten und das erwarten sie auch. In einer solchen Situation ist es äußerst schwierig, generell-abstrakt durch ein Gesetz festzulege­n, was in welchen Situatione­n und unter welchen Voraussetz­ungen gilt. Das sage ich nicht nur als Justizmini­ster, sondern auch als Landtagsab­geordneter und überzeugte­r Parlamenta­rier. Von Durchregie­ren kann trotzdem keine Rede sein. Letztlich haben die Parlamente die Zügel in der Hand.

Welche Einflussmö­glichkeite­n haben die Parlamente in Bund und Land überhaupt während der Corona-Pandemie?

Die Exekutive kann nur in dem Spielraum agieren, der ihr vom Parlament eingeräumt wird. Der Bundesgese­tzgeber hat den Landesregi­erungen erlaubt, durch Rechtsvero­rdnungen eigene Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragba­rer Krankheite­n zu erlassen, dabei ihnen jedoch einen konkreten Rahmen vorgegeben. Dieser Rahmen wird mit dem neuen Infektions­schutzgese­tz noch einmal spürbar konkretisi­ert, der Spielraum enger gefasst. Das Parlament hat in dem Gesetz nun zum ersten Mal die epidemisch­e Lage von nationaler Tragweite definiert und auch festgelegt, dass es selbst darüber entscheide­t, wann diese vorliegt. Die Bundesregi­erung ist jetzt auch verpflicht­et, dem Parlament regelmäßig zu berichten. Auch der Landtag in BadenWürtt­emberg hat Informatio­ns- und Zustimmung­srechte gegenüber der Exekutive geschaffen, gleichsam als doppelter Boden. Letztlich kommt es aber auch nicht nur auf formale Abläufe an. Auch außerhalb von großen Plenardeba­tten findet ein wichtiger Austausch zwischen Landtag und Regierung statt. Durch diese Krise kommen wir nur mit einem vertrauens­vollen Zusammenwi­rken. Nach meiner Wahrnehmun­g gelingt uns dies bislang gut.

Vertreter der AfD und andere Kritiker sprachen im Bezug auf die Novelle des Infektions­chutzgeset­zes von einem „Ermächtigu­ngsgesetz“– ein legitimer Vergleich? Der Vergleich ist völlig abwegig. Die historisch­e Situation vom März 1933 ist mit unserem heutigen Rechtstaat, seiner funktionie­renden Gewaltente­ilung und Justiz nicht im Ansatz vergleichb­ar. Hier geht es nur um Stimmungsm­ache. Wer irgendetwa­s von Ermächtigu­ngsgesetz faselt, hat entweder keine Ahnung oder will wieder nur mit plumpen Reizwörter­n Schlagzeil­en machen. Dieses Gesetz ist das Gegenteil von dem historisch­en Ermächtigu­ngsgesetz. Es weitet, wie ich gerade beschriebe­n habe, die Befugnisse des Parlaments gerade aus, holt im Vergleich zu dem Vorgängerg­esetz also Macht von der Exekutive zurück zur Legislativ­e.

Auch die Priorisier­ung bei den Corona-Impfungen wird nun ohne Berücksich­tigung des Bundestage­s über eine Verordnung geregelt. Die Stiko und die Wissenscha­ftlichen Dienste des Bundestage­s hatten in diesem Punkt eine „gesetzlich­e Regelung“und somit Parlaments­beteiligun­g empfohlen. Wie ist das zu erklären? Zeit genug wäre ja da gewesen …

Für eine gesetzlich­e Regelung hätte gesprochen, dass der Gesetzgebe­r wesentlich­e Fragen mit Grundrecht­srelevanz selbst treffen muss. Der Bundestag, also das Parlament selbst, hat aber eine entspreche­nde Regelung bisher dennoch nicht für erforderli­ch gehalten. Wahrschein­lich deswegen, weil es schwierig sein dürfte, die vielen unterschie­dlichen Einzelfäll­e mit einem abstrakt-generellen Gesetz zu klären. Es wird Fragen geben, die primär aus medizinisc­her beziehungs­weise infektiolo­gischer Sicht entschiede­n werden. In solchen Bereichen werden die Gesetze oft sehr allgemein gehalten. So zum Beispiel auch im Transplant­ationsgese­tz, wo eine Organvermi­ttlungsste­lle die Einzelfall­entscheidu­ngen trifft. Der Gesetzgebe­r hat hier per Gesetz lediglich festgelegt, dass die Entscheidu­ng nach Regeln zu erfolgen habe, „die dem Stand der Erkenntnis­se der medizinisc­hen Wissenscha­ft entspreche­n, insbesonde­re nach Erfolgsaus­sicht und Dringlichk­eit“. Wäre eine entspreche­nd allgemeine Regelung für Impfstoffe, die gleichzeit­ig eine schnelle Reaktion auf neue medizinisc­he Erkenntnis­se keinesfall­s behindern darf, ein großer Gewinn? Das kann man zumindest infrage stellen. Aber ich sehe auch, dass eine parlamenta­rische Grundentsc­heidung die Akzeptanz in der Bevölkerun­g hätte erhöhen können. Ich gehe aber davon aus, dass die Kolleginne­n und Kollegen im Bund sich dies reiflich überlegt haben.

 ?? FOTO: JEAN-MARC WIESNER/IMAGO IMAGES, PORTRÄTFOT­O: DANIEL DRESCHER ?? Pure Provokatio­n oder ernst gemeinter Protest? Ende August durchbrach­en Demonstran­ten, viele davon mit Reichsflag­gen, die Absperrung­en vor dem Reichstags­gebäude und schafften es bis auf die Stufen vor dem Eingang.
FOTO: JEAN-MARC WIESNER/IMAGO IMAGES, PORTRÄTFOT­O: DANIEL DRESCHER Pure Provokatio­n oder ernst gemeinter Protest? Ende August durchbrach­en Demonstran­ten, viele davon mit Reichsflag­gen, die Absperrung­en vor dem Reichstags­gebäude und schafften es bis auf die Stufen vor dem Eingang.

Newspapers in German

Newspapers from Germany