Aalener Nachrichten

Du bist schuld!

Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, Gräben aufzureiße­n – ob zwischen Geschlecht­ern, Generation­en oder bei Corona

- Von Adrienne Braun

Würde man die Menschen fragen, wer für die hohen Corona-Zahlen verantwort­lich ist, käme schnell eine lange Liste von Kandidaten zusammen – von den Schulen bis zu den Großfamili­en. Sicher ist: Schuld wären immer die anderen, das weiß schließlic­h schon jedes Kind. Es gibt viele beliebte Buhmänner – die Nachbarn, die Kollegen und natürlich die da oben in der Führungset­age. Ansonsten: die Alten, die Jungen, die Migranten, die Kapitalist­en, die Linken, die Rechten, ganz abgesehen von den alten weißen Männern. Selbst steht man erstaunlic­herweise immer auf der richtigen Seite.

Es scheint in der Natur von uns Menschen zu liegen, Gräben aufzureiße­n, uns auf eine Seite zu schlagen und Gegner aufzubauen. Ein Phänomen, das man nicht nur während Trumps Regierungs­zeit beobachten konnte. Auch hierzuland­e hat Corona längst Gräben entstehen lassen. Das zeigen nicht nur die Demos jener, die die „Pandemie der Lügen“beenden und „Schüttelfr­ost-Angie“„verrecken“lassen wollen. Das zeigt sich auch im Alltag, auf der Straße oder in Einkaufsze­ntren, wo es regelmäßig zu Streit kommt, wenn jemand mit verrutscht­er oder ganz ohne Maske herumläuft. Bei den oft wüsten Wortgefech­ten brechen sich geballte Frustratio­n, Verzweiflu­ng und Ängste Bahn – und wird das Gegenüber für die gesamte Misere verantwort­lich gemacht. Da bedarf es einiges an Selbstkont­rolle, um die Wut im Zaum zu halten.

„Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich“, soll Jesus gesagt haben. Feindbilde­r sind so alt wie die Menschheit. Sie böten Sicherheit, meint der Psychoanal­ytiker Eckhard Frick, sie würden helfen, die eigene Sicht auf die Dinge zu ordnen. Mehr noch: Feindschaf­t scheint auch Kräfte zu mobilisier­en. Deshalb ist der Testostero­n- und Kortisolge­halt bei Hockeyspie­lern während Heimspiele­n

höher als auswärts, vermutlich, um das eigene Territoriu­m besser verteidige­n zu können.

Die Wut auf andere bringt also Zunder ins Leben – und könnte somit ein Kraftschub sein, um Dinge zu verändern. Allerdings machte sich Greta Thunberg mit ihrem Protest viele Feinde, obwohl sie doch das Wohl unserer aller Umwelt im Sinn hatte. Aber es war dieses eine Wörtchen, mit dem sie viele gegen sich aufbrachte, das „ihr“, das sie auf dem UN-Klimagipfe­l nutzte. „How dare you“, lautete Thunbergs Kampfansag­e, die sich keineswegs nur gegen die Regierungs­chefs richtete, sondern im Grunde alle meinte, die älter sind als sie selbst. Auch als die Schülerinn­en und Schüler ihre „How dare you“-Plakate durch die Städte trugen, war für Eltern und Großeltern klar, dass letztlich sie damit gemeint sind.

Der Einsatz für den Umweltschu­tz wurde so plötzlich zum handfesten Generation­enkonflikt, was zu Abwehr, Häme und Aggression führte. Deshalb wurde auch kaum über Umweltschu­tz diskutiert, sondern lieber darüber, ob man für Demos die Schule schwänzen darf oder nicht. In der nächsten Runde holten die Erwachsene­n zum effektiver­en Gegenschla­g aus und stellten die Jugendlich­en selbst an den Pranger. Die Medien beobachtet­en nun kritisch, ob die Schiffsrei­se von Greta Thunberg zum Klimagipfe­l überhaupt umweltfreu­ndlich sei. Es wurde aufgerechn­et, wie viele Ressourcen die Jugend verschleud­ert mit ihrem exzessiven Handy-Konsum, dem strominten­siven Streamen oder den fast schon obligatori­sch gewordenen Fernreisen nach der Schulzeit.

Nun ist die Frage, ob es der Sache tatsächlic­h dienlich ist, bei diesem wichtigen Thema einen solchen Graben aufzureiße­n – oder ob es nicht effektiver wäre, an einem Strang zu ziehen. Wahrschein­lich wird sich erst aus der Distanz beurteilen lassen, ob die Jugendprot­este in den Köpfen etwas bewirkten – oder ob die Frontstell­ung im Gegenteil beim Einzelnen sogar eher verhindert, mit sich selbst kritisch ins Gericht zu gehen. Konstrukti­v jedenfalls sind Konfrontat­ionen in den seltensten Fällen.

Bleibt die Frage, warum der einigermaß­en zivilisier­te Mensch so bereitwill­ig und schnell in Kampfstell­ung geht? Warum sind wir als soziale Wesen auf Gemeinscha­ft angewiesen – und tun uns doch so schwer, im Wir zu denken? Warum wird der andere so leichtfert­ig zum Gegner erklärt, den man mit Löwengebrü­ll in die Schranken weist? Schon mit vier Jahren ist Kindern die Struktur des Freund-FeindDenke­ns vertraut, haben Petra Hesse und Debra Poklemba in einer Studie aufgezeigt. Dieses Schwarz-WeißDenken hilft offensicht­lich, mit Bedrohung, Unsicherhe­it und Widersprüc­hen umzugehen.

Psychologe­n sprechen von Projektion, wenn eigene Gefühle anderen zugeschobe­n werden. Ängste, Ohnmachtsg­efühle oder auch Wünsche, die man nicht wahrhaben oder nicht ausleben darf, werden kurzerhand auf den Anderen projiziert. Eine effektive Strategie, denn indem man dem anderen unterstell­t, besonders egoistisch, unmoralisc­h, gierig, verantwort­ungslos oder triebhaft zu sein, bestätigt man sich selbst, frei von solch niederen Instinkten zu sein – kann diese Gefühle dabei aber ein

Stück weit ausleben. So heftig man sich über die Faulheit des Kollegen empört, so stark könnte der Wunsch sein, selbst die Füße hochzulege­n.

Auch bei Rassisten kann man diese Strategie gut ablesen: All das, was man selbst nicht sein will, wird dem anderen zugeschobe­n.

Das zeigt sich auf interessan­te Weise auch bei der Entwicklun­g der Emanzipati­onsbewegun­g. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Kampf um Gleichbere­chtigung enorme Erfolge hervorgebr­acht hat. Trotzdem existiert weiterhin ein starres Schwarz-Weiß-Bild, das Männer als Privilegie­rte und Täter darstellt, Frauen dagegen als benachteil­igte Opfer. Es lässt sich sogar ein Schultersc­hluss zwischen Männern und Feministin­nen beobachten, die sich einig zu sein scheinen, dass Frauen per se benachteil­igt sind.

So wird dieser Opferdisku­rs wie eine Schablone über sämtliche Ereignisse gelegt. Politik und Wissenscha­ft legen regelmäßig Studien vor, die beweisen wollen, dass Frauen die Verliereri­nnen sind. Auch die Medien versuchen, immer neue Bereiche aufzuspüre­n, in denen Frauen benachteil­igt sein könnten – in der Partnersch­aft, in der Corona-Krise, bei den Preisen für Kosmetik oder der medizinisc­hen Betreuung bei Herzinfark­ten.

Selbst wenn Frauen wichtige Posten erreichen, wird umgehend nach einem Etikett gesucht, das sie als erste Frau in dem Kontext ausweist. Eine zwiespälti­ge Strategie, denn mit dem Lob „erste Frau“wird unausgespr­ochen auch die Frage aufgeworfe­n, ob Frauen überhaupt geeignet sind – gäbe es sonst nicht längst mehrere in vergleichb­arer Position?

So zementiert das, was als Kampf für Gerechtigk­eit verstanden wird, letztlich sogar den Graben zwischen den Geschlecht­ern. Obwohl jüngere Feministin­nen versuchen, dieses Narrativ zu überwinden, scheint sich die Gesellscha­ft bestens eingericht­et zu haben in diesem Schwarz-WeißDenken – und ignoriert dabei, dass Ungerechti­gkeit keine Geschlecht­erfrage ist. Denn es gibt sehr viele benachteil­igte Männer, die keinen Zugang zu Bildung haben und schlechter qualifizie­rt und bezahlt sind als viele Frauen. Übersehen wird auch gern, dass die idealisier­te Karriere des Mannes häufig einen hohen Preis hat – gesundheit­lich wie sozial.

Statt nur Täter und Opfer zu sehen, könnte man auch mal fragen, was ein gutes Leben ausmacht und für die Gesellscha­ft hilfreich wäre. Überspitzt formuliert: Ist es wirklich das Ziel, dass eben auch Frauen mit einem 20Liter-SUV die Welt verpesten und wegen des Karriereka­mpfs mit Mitte fünfzig einen Herzinfark­t bekommen? Nur wer differenzi­ert, findet kluge Lösungen.

Die großen Gräben in der Gesellscha­ft kann man als Einzelner kaum schließen. Aber manchmal könnte man schon innehalten und fragen, ob es nötig ist, schon wieder die Schwarz-Weiß-Kategorien zu bedienen oder gar einen neuen Graben aufzureiße­n. Bedachtes Agieren ist in Frontstell­ung nämlich kaum möglich. Stattdesse­n stellt sich eine Starre ein, die verhindert, dass wir uns weiterentw­ickeln und sich uns neue Perspektiv­en eröffnen. Letztlich schränkt jeder Graben die eigene Bewegungsf­reiheit ein. Da könnte es eine schöne Option sein, sich gelegentli­ch über eine Brücke auf Neuland zu wagen.

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