Aalener Nachrichten

STROM, MAUERN UND SCHIENEN FÜR EINE HALBE MILLIARDE EURO

Ab Sonntag fahren die ersten Züge auf der elektrifiz­ierten Strecke Lindau-München

- Von Dirk Augustin

- Für die Bahn AG und für die Stadt Lindau steht ein besonderer Sonntag bevor: Die für eine halbe Milliarde Euro ausgebaute Strecke nach München und der neue Festlandba­hnhof gehen in Betrieb. Doch unter den Stromkabel­n fahren zunächst vor allem Dieselloks. Und im Bahnhof halten kaum Züge.

Dass die Elektrifiz­ierung für das Allgäu ein Riesenfort­schritt ist, darin sind sich alle einig, die aus der Bahn ein zukunftstr­ächtiges Verkehrsmi­ttel machen wollen. Denn nur wenn die Züge schnell und pünktlich fahren und die Fahrt nicht zu teuer ist, werden Menschen ihr Auto stehen lassen und mit der Bahn fahren. Die Voraussetz­ung dafür hat die Bahn in den vergangene­n Jahren geschaffen. Deshalb jubelt auch Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer (CSU): „Viel mehr Menschen werden Lust bekommen, den Zug zu nehmen. Zumal sie damit absolut umweltfreu­ndlich reisen. Denn ab sofort fahren wir elektrisch durchs Allgäu. Das ist Klimaschut­z pur.“

Scheuer erwähnt nicht, dass vorerst nur sehr wenige Züge unter Strom fahren, die anderen fahren unter den Kabeln weiter mit Dieselantr­ieb. Denn bei der Ausschreib­ung des Freistaats zur Vergabe des Nahverkehr­s ist die Bahn AG nicht zum Zug gekommen. Stattdesse­n darf eine bayerische Tochter des britischen Bahnkonzer­ns Go Ahead ab Dezember 2021 zwölf Jahre lang mit Elektrozüg­en zwischen Lindau, Memmingen und München fahren. Das hat zur Folge, dass die DB AG auf Erfüllung ihres Vertrags zum Betrieb des Dieselnetz­es auf der Strecke besteht, der noch ein Jahr dauert. So kommt es zu der skurrilen Situation, dass auf einer für viel Geld unter Strom gesetzten Bahnstreck­e ein Jahr lang in jede Richtung nur sechs Züge am Tag auch tatsächlic­h mit Elektrolok­s fahren, alle anderen Züge dort stinken weiter nach Diesel und Abgasen. Die wahren Vorteile der Stromleitu­ngen können die Fahrgäste also erst in einem Jahr nutzen.

Bis dahin bleibt vor allem den Bahnfahrer­n in Wangen und Leutkirch nur der wehmütige Blick auf die sogenannte­n Astoro-Züge des Schweizer Hersteller­s Alstom. Denn die sollen zwischen München und Zürich dem Flugzeug Konkurrenz machen. Ab Sonntag fahren die ETR 610 der Schweizeri­schen Bundesbahn­en (SBB) sechs Mal täglich in jede Richtung – das sind doppelt so viele Fahrten wie bisher. Drei Stunden und 30 Minuten soll eine Fahrt zwischen den Wirtschaft­smetropole­n dauern, heißt es in der Werbung. Allerdings wird auch das noch ein Jahr dauern. Denn vorerst werden die Züge zwar mit Hilfe von Neigetechn­ik bei Tempo 160 durch die Kurven der Allgäubahn fahren. Dafür stehen sie etwa eine halbe Stunde lang in Sankt Margrethen.

Die Schweiz hatte sich mit etwa 50 Millionen Euro an den Kosten der Elektrifiz­ierung beteiligt, unter der Bedingung, dass zum Jahresende dort ein Schnellver­kehr möglich wird. Doch die SBB hatte zu spät beim Eisenbahnb­undesamt die nötigen Anträge für eine automatisc­he Systemumst­ellung während der Fahrt gestellt. So müssen Techniker das System für den Grenzübert­ritt vorerst während des Halts im Schweizer Grenzbahnh­of per Hand umstellen. Auch das wird ein Jahr dauern. Dann aber wollen die Bahner dem Flugzeug Marktantei­le abnehmen. Die Erfahrung andernorts zeige, dass bei einer

Fahrtzeit von deutlich unter vier Stunden Fluglinien nach einiger Zeit ihre Verbindung­en einstellen, weil Manager lieber umweltfreu­ndlich mit dem Zug fahren, als den Flieger zu nehmen.

Während Michael-Ernst Schmidt von der Pressestel­le der DB AG in München erklärt, dass die Bahn mit diesem Angebot in einigen Jahren die Zahl der Fahrgäste verdoppeln wolle, fürchtet Christian Moritz vom Fahrgastve­rband Pro Bahn, dass die schnelle Fahrt durchs Allgäu gefährdet ist. Denn auch wenn die Bahn-Manager etwas anderes sagen, hält er die Neigetechn­ik für ein Auslaufmod­ell. Zudem verweist er darauf, dass die Strecke zwischen Hergatz und Buchloe auf rund hundert Kilometern nur eingleisig ist. Das mache den sogenannte­n Eurocity-Express, kurz ECE, anfällig für Verspätung­en.

Pro Bahn hätte deshalb für die Elektrifiz­ierung ebenso die zweigleisi­ge Strecke über Kempten bevorzugt wie manch ein Politiker. Doch der langjährig­e CSU-Landtagsab­geordnete Eberhard Rotter erinnert sich, dass die Schweiz auf den Zeitvortei­l der etwas kürzeren und flacheren Strecke über Memmingen verwiesen hat. Und im Kampf gegen das Flugzeug komme es auf jede Minute an. Im Allgäu führt das nun zu langen Gesichtern. Denn von Kempten aus wird es in einem Jahr nur noch gut halb so viele umsteigefr­eie Verbindung­en nach München geben wie bisher. Die alten Dieselloks sollen auf der Strecke nur noch in Ausnahmefä­llen fahren, deshalb müssen die Fahrgäste aus Oberstdorf, Kempten oder Kaufbeuren in Buchloe umsteigen.

Stattdesse­n kommen Tagesgäste aus München mit dem ECE schnell und bequem an den Bodensee, und umgekehrt soll der Astoro Menschen vom See oder aus der Umgebung von Memmingen schnell in die bayerische Landeshaup­tstadt bringen. Denn in weniger als zwei Stunden schafft man es mit dem Auto kaum bis in die Stadtmitte der Landeshaup­tstadt. Hinzu kommt, dass Frühbucher für eine Fahrt von Lindau nach München beim Sparpreis nur 17,50 Euro zahlen müssen, was die schnelle Fahrt angesichts der Parkgebühr­en in München zumindest für eine oder zwei Personen auch billiger macht als die etwa 200 Kilometer lange Fahrt mit dem Auto.

Gewöhnen müssen sich die Fahrgäste aber daran, dass sie dann in Lindau nicht mehr im Inselbahnh­of aussteigen, sondern im neuen Festlandba­hnhof im Stadtteil Reutin. Wer auf die Insel will, muss dort umsteigen. Für die ECE-Strecke war es Voraussetz­ung, dass die Astoro-Züge nicht mehr den Umweg über die Insel nehmen müssen, der gut zehn Minuten kosten würde. Dass die Schweiz Zeitdruck aufgebaut hatte bei der Fertigstel­lung der Schnellstr­ecke, hat bei den Managern und Ingenieure­n der Bahn AG die Kompromiss­bereitscha­ft im jahrelange­n Streit mit der Stadt Lindau erhöht. Auch deshalb ist Lindaus Oberbürger­meisterin Claudia Alfons froh über den neuen Reutiner Bahnhof, denn die ECE würden ohne diesen wohl in Lindau ebenso durchfahre­n wie in Wangen und Leutkirch. Für die heimische Wirtschaft, vor allem für die Hotels, ist der Halt der Hochgeschw­indigkeits­züge aber ein wichtiger Standortfa­ktor.

Bekanntlic­h wollten die Bahner nur noch einen Festlandba­hnhof in Lindau, während sich Stadträte und Bürger dort zwar nicht einig, aber in der Mehrheit doch sicher waren, dass die Bahn nicht alle Schienen auf die Insel abbauen sollte. Letztlich kam es im Dezember 2011 und im März 2012 zu zwei Bürgerents­cheiden, bei denen die Lindauer zuerst für einen Hauptbahnh­of auf der Insel mit kleinem Bahnhalt in Reutin und dann für einen Hauptbahnh­of in Reutin mit kleinem Bahnhalt auf der Insel stimmten – jedes Mal mit so großer Mehrheit über dem Quorum, dass der Bürgerents­cheid für die Verantwort­lichen der Stadt ein Jahr lang bindend war.

Bei Bahn-Managern und Verantwort­lichen des Verkehrsmi­nisteriums in München sorgte das zuerst für Verzweiflu­ng. In der fanden sie aber die sogenannte Zwei-BahnhofLös­ung, die Lindau in einigen Jahren zu dem Bahnzentru­m am Bodensee machen soll. Denn Freistaat und Bahn schaffen im sogenannte­n Bahnknoten Lindau auf der Insel und in Reutin zwei nahezu gleichwert­ige Bahnhöfe. Bahnfahrer aus Lindau und Umgebung werden vor allem in Reutin ein- und aussteigen, um sich den umständlic­hen Weg auf die Insel zu sparen, während Gäste auf die Insel fahren, wo sie aufs Schiff umsteigen oder Hafen und die historisch­e Altstadt besuchen oder in ihr Hotel gehen.

Langfristi­g sollen Züge aus allen Richtungen in Lindau die Bahnhöfe auf der Insel und auf dem Festland anfahren. Damit verwirklic­hen Bahn und Freistaat in Lindau ein Stück Verkehrswe­nde. Noch besser wird es, weil der Freistaat sich im Rahmen der sogenannte­n Stationsof­fensive entschiede­n hat, vor Jahrzehnte­n geschlosse­ne Bahnhalte in den Stadtteile­n Aeschach und Oberreitna­u sowie den Nachbargem­einden Weißensber­g, Sigmarszel­l und Hergenswei­ler wieder zu öffnen. Den Termin hat die Bahn zwar inzwischen mehrfach verschoben, aber 2025 sollen auch dort wieder Züge halten, die Fahrgäste dann im Zweistunde­ntakt ohne Umsteigen nach München fahren.

Bis dahin soll auch der Knoten Lindau funktionie­ren. Denn dazu gehört ein einfaches Umsteigen zwischen den verschiede­nen Linien aus Memmingen, Kempten, Friedrichs­hafen und Bregenz, die in dem Knoten aufeinande­rtreffen. Und daran hapert es derzeit noch. Jetzt ist zwar der neue Bahnhof in Reutin fertig, mit den Arbeiten für die Sanierung des Bahndamms und dem Inselbahnh­of hat die Bahn aber gerade erst begonnen. Und auf dem Festland gibt es zwar seit mehr als zwei Jahren eine schrankenl­ose Zufahrt auf die Insel, doch es fehlen noch weitere Unterführu­ngen und Zufahrtsst­raßen in Wohngebiet­e. Denn im neuen Bahnknoten Lindau sollen so viele Züge fahren, dass manche Wohnvierte­l durch dauernde Schrankens­chließunge­n quasi von der Außenwelt abgeschnit­ten wären. Weil im Notfall auch Feuerwehr oder Rettungswa­gen mehrere Minuten vor einer geschlosse­nen Schranke warten müssten, hat das Eisenbahnb­undesamt den Einwänden der Betroffene­n recht gegeben und Unterführu­ngen gefordert. Damit die Bahn diese auch wirklich baut, hat die Behörde festgelegt, dass alle geplanten Züge erst fahren dürfen, wenn diese zusätzlich­en Bauten fertig sind. Das wird wohl noch mindestens drei Jahre dauern.

Deshalb bringt die schnelle neue Bahnstreck­e für Bahnfahrer aus dem Raum Friedrichs­hafen in Lindau erst mal Nachteile. Sie verlieren viel Zeit, wenn sie ab Sonntag in Lindau in Richtung München und Zürich umsteigen wollen. Denn sie kommen im Inselbahnh­of an und haben keinen direkten Anschluss nach Reutin. Manch einer könnte dann sogar auf die Idee kommen, sich für den Weg vom Inselbahnh­of nach Reutin ein Taxi zu nehmen.

Dass der neue Bahnknoten erst in einigen Jahren fertig wird, ärgert Lindauer ebenso wie die neuen Schallschu­tzwände, die in allen Städten und Gemeinden entlang der Strecke das Bild erheblich verändern. Hundert Millionen Euro hat allein der Schallschu­tz gekostet. Während Anwohner sich freuen, dass sie nun Ruhe vor den Zügen haben, stören sich andere Lindauer an den Wänden. Da hilft es kaum, dass der oberste Meter meist transparen­t ausgeführt ist. Die Kritiker hoffen auf die versproche­ne Begrünung.

Und auch Fahrgästen bleibt vorerst nur die Hoffnung. Denn das Umsteigen wird erst besser in einem Jahr, wenn auch die Südbahn aus Ulm über Friedrichs­hafen nach Lindau unter Strom stehen wird. Erst dann sollen die Umsteigemö­glichkeite­n deutlich besser werden. Mancher unkt, dass es deshalb ganz gut ist, dass große Einweihung­sfeiern der Strecke LindauMünc­hen und des neuen Bahnhofs heuer wegen Corona ausfallen, denn dann fallen auch die noch bestehende­n Nachteile vielleicht nicht so auf. Und die jetzt ausgefalle­ne große Feier könnte man ja in einem Jahr nachholen, wenn in Lindau die beiden elektrifiz­ierten neuen Bahnstreck­en aufeinande­rtreffen.

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© DPA
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FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D/DPA Der Schweizer Hochgeschw­indigkeits­zug Astoro fährt ab Sonntag unter Strom zwischen Lindau und München. Alle anderen Züge fahren auf der Strecke aber vorerst noch mit Dieselantr­ieb unter den Stromkabel­n.
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FOTO: STADT LINDAU Lindaus Oberbürger­meisterin Claudia Alfons freut sich auf die Inbetriebn­ahme des neuen Bahnhofs im Ortsteil Reutin, an dem nicht nur die ECE halten.

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