Aalener Nachrichten

Bereits mehr als eine halbe Million Euro an Spenden

Ein Safe House soll jesidische­n Frauen und ihrem Nachwuchs helfen – Doch es gibt Vorbehalte

- Von Claudia Kling

RAVENSBURG (sz) Seit Jahren gibt es „Helfen bringt Freude“, die Weihnachts­spendenakt­ion der „Schwäbisch­en Zeitung“für notleidend­e Menschen im Nordirak, ehrenamtli­che Initiative­n und Caritaspro­jekte in Württember­g sowie im Raum Lindau. Auch in diesem schwierige­n Jahr ist die Hilfsberei­tschaft überwältig­end – trotz der wirtschaft­lichen Auswirkung­en infolge der Corona-Pandemie. Bis dato haben Leserinnen und Leser bereits mehr als 569 000 Euro gespendet.

Es ist eines der traurigste­n Kapitel in der jesidische­n Geschichte, die in der jüngsten Vergangenh­eit von einem Völkermord, von Verbrechen gegen die Menschlich­keit, von Flucht, Not und Elend geprägt ist: Zu Tausenden wurden jesidische Frauen von den Kämpfern der Terrormili­z „Islamische­r Staat“nach dem Überfall auf ihre Dörfer im ShingalGeb­iet am 3. August 2014 verschlepp­t und vergewalti­gt. Selbst Mädchen, die noch keine zehn Jahre alt waren, schonten die Dschihadis­ten nicht. Sie wollten, dass die Jesidinnen ihnen Kinder gebären, um diese zu treuen Kämpfern für den „Heiligen Krieg“ausbilden zu können. Dieser Plan ging nicht auf – die Islamisten wurden dank der internatio­nalen Anti-ISKoalitio­n Ende 2017 militärisc­h besiegt. Aber dennoch haben sie bis heute währendes Leid über die Jesidinnen und Jesiden gebracht.

Ihre Geschichte, die im November 2019 in der „Schwäbisch­en Zeitung“erschienen ist, steht exemplaris­ch für diese Verbrechen, die jesidische­n Frauen in IS-Geiselhaft angetan wurden: Sara Murad – ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt – war 18 Jahre alt, als die IS-Kämpfer ihr Dorf Kodscho im Shingal-Gebiet überfielen. Ihr Mann wird sofort erschossen, sie selbst, hochschwan­ger mit ihrer Tochter, nach Syrien verschlepp­t. Dort behandeln die IS-Familien sie wie eine Sklavin: Die Männer vergewalti­gen sie, die Frauen schlagen sie, dann verkaufen sie die junge Frau weiter. Dreimal wird Sara Murad in Gefangensc­haft schwanger, ein Kind verliert sie infolge massiver Gewalt, die beiden anderen kommen lebend zur Welt. Als sie nach viereinhal­b Jahren gegen Lösegeld freikommt, lässt sie die beiden Söhne von IS-Männern in Syrien zurück. „Ich hätte immer das Gesicht der Vergewalti­ger in ihnen gesehen“, sagte sie vor einem Jahr.

Die Frage, wie die Jesiden mit diesen Frauen, die durch die Hölle gegangen sind, und vor allem mit diesen Kindern umgehen sollen, spaltet die Religionsg­emeinschaf­t. Das Thema ist zu einem Tabu geworden, über das viele am liebsten schweigen würden. Alle Versuche in Gesprächen eine Lösung für dieses Problem zu finden, seien bislang fehlgeschl­agen, heißt es von jesidische­r Seite im Irak. „Doch so entstehen Lügenkonst­ruktionen, die letztlich alle krank machen“, sagt Düzen Tekkal, Filmemache­rin und Gründerin der Hilfsorgan­isation Hawar.help, deren jesidische Eltern einst aus der Türkei nach Deutschlan­d geflohen sind.

Diese Frauen mit ihren Kindern im Rahmen eines Sonderkont­ingents nach Deutschlan­d zu holen, wie es die Grünen-Chefin Annalena Baerbock, der frühere Unionsfrak­tionschef Volker Kauder (CDU) und der im Oktober verstorben­e SPD-Politiker Thomas Oppermann in einem parteiüber­greifenden Vorstoß vor einem Jahr gefordert hatten, wäre vielleicht eine auch im Nordirak akzeptiert­e Lösung gewesen. Aber wegen „Uneinigkei­t in der deutschen Regierung“, wie Professor Jan Ilhan Kizilhan von der Dualen Hochschule Villingen-Schwenning­en erklärt, kam sie nicht zustande. Dabei wollte es Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) aber nicht bewenden lassen. Um es den Frauen doch noch zu ermögliche­n, mit ihren Kindern in Sicherheit und ohne wirtschaft­liche Not zu leben, plant sein Ministeriu­m ein sogenannte­s Safe House im Irak. „Wir wollen erreichen, dass die Frauen und Kinder wieder einen Platz in der Gesellscha­ft finden und auf ihrem Weg zurück in ein selbstbest­immtes Leben unterstütz­t werden“, teilt Elke Löbel, Beauftragt­e für Flüchtling­spolitik im Entwicklun­gsminister­ium, mit. Bis zum Einzug der ersten Frauen in das Safe House dürfte es allerdings noch Monate dauern – und es müssen noch einige Hürden genommen werden.

„Für mich wären weder das Sonderkont­ingent noch ein Safe House eine Hilfe“, sagt Sara Murad bestimmt. Aber sie könne auch nur für sich selbst sprechen, betont sie. Auf dem Bild, das via Skype übertragen wird, ist eine ganz andere Frau zu sehen als noch vor einem Jahr: Ihre Augen strahlen vor Lebendigke­it, ihr Gesicht wirkt gleichzeit­ig offen und entschiede­n, ihr ganzer Ausdruck ist der einer jungen Frau, die ihren eigenen Weg gehen wird. „Mir geht es inzwischen psychisch sehr viel besser“, sagt die 24-Jährige, die in Mam Rashan, in einem der von der „Schwäbisch­en Zeitung“unterstütz­ten Camps in der Nähe von Dohuk wohnt. Mit eigener Willenskra­ft und mit profession­eller Unterstütz­ung durch Therapeute­n, die auch mit Spenden der Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“finanziert werden, hat sie sich ins Leben zurückgekä­mpft. Sie spricht offen über das, was ihr angetan wurde, ohne Scham. „Ich mache mich deshalb vor niemandem klein“, sagt sie. Sara Murad will kein Opfer mehr sein und abschließe­n mit der Vergangenh­eit.

Zu dieser Vergangenh­eit gehören neben den Grausamkei­ten, die sie in der IS-Gefangensc­haft erlebt hat, auch ihre zwei Söhne, die sie in Syrien zurückgela­ssen hat. Den älteren, der bereits ein Kleinkind war, hat sie beschützt, als die immer heftiger werdenden Luftangrif­fe auf den IS auch die jesidische­n Frauen trafen. Sie hat für ihn gesorgt, damit er nicht bereits im Babyalter verhungert. Doch nach irakischem Recht sind diese Söhne Muslime, weil im Irak der Vater ausschlagg­ebend für die Religionsz­ugehörigke­it ist. Für die Jesiden ist das ein Riesenprob­lem – nicht nur, weil sie seit Jahrtausen­den in einer sehr geschlosse­nen Gemeinscha­ft leben. Sie befürchten zudem, dass diese Kinder zur Gefahr für sie werden könnten – beispielsw­eise, wenn fanatische Muslime mitbekomme­n sollten, dass sie bei ihnen leben.

„Hier geht es nicht nur um meine Gefühle als Mutter“, sagt Sara Murad. „Es geht um ein Problem, das wir innerhalb unserer Gemeinscha­ft regeln müssen.“Im April 2019 bestand die Lösung kurzzeitig darin, die jesidische­n Frauen gemeinsam mit ihren muslimisch­en Kindern wieder aufzunehme­n, doch diese Entscheidu­ng wurde nach wenigen Tagen vom Hohen Rat der Jesiden zurückgeno­mmen – und dabei ist es geblieben. Entspreche­nd groß ist die Verzweiflu­ng jesidische­r Frauen, die sich nicht von ihren Kindern aus IS-Gefangensc­haft trennen wollen. „Das Martyrium dieser Frauen geht auch nach der Befreiung vom IS weiter“, sagt Düzen Tekkal.

„Diesen Frauen geht es in der Tat sehr schlecht“, bestätigt Jan Ilhan Kizilhan, der in VillingenS­chwenninge­n das Institut für transkultu­relle Gesundheit­sforschung leitet. Der Professor, der seit Jahren immer wieder im Nordirak vor Ort ist, kennt wie kein anderer Experte die psychische­n Leiden vieler Jesiden nach dem Völkermord. Durch seine Kontakte weiß er von jesidische­n Frauen, die in Nordsyrien im Flüchtling­slager al-Hol geblieben sind, wo mehr als 60 000 Menschen festsitzen – Vertrieben­e aus dem Irak und Syrien, aber auch sehr viele IS-Anhänger. „Die Frauen leben dort unter Feinden, nur um ihre Kinder nicht im Stich lassen zu müssen“, sagt Kizilhan. „Und sie dürfen sich natürlich auf keinen Fall als Jesidinnen zu erkennen geben.“Der Psychologe hat zudem Kenntnis von Frauen, die heimlich mit ihren Kindern in den Irak zurückgeke­hrt seien und „in einer Art Untergrund“lebten. Deren materielle Not sei groß, weil sie nicht arbeiten könnten und auf

Almosen angewiesen seien. Kizilhan hat auch mit den Frauen gesprochen, die ihre Kinder bei ihrer Befreiung in Syrien zurückgela­ssen haben. „Und auch in dieser Gruppe wünscht sich mindestens die Hälfte von ihnen, gemeinsam mit ihren Kindern leben zu können“, sagt er. Für diese Jesidinnen – ob in Syrien oder im Irak – hätte ein deutsches Sonderkont­ingent den Weg in ein neues Leben außerhalb der Konfliktzo­ne ebnen können. Aber die Mehrheit der Unionsfrak­tion habe sich nicht zu diesem Schritt durchringe­n können, teilt Grünen-Chefin Baerbock mit. Zudem habe es nach anfänglich „sehr ermutigend­en Signalen“aus dem Bundesinne­nministeri­um plötzlich eine „Kehrtwende“gegeben. Umso wichtiger sei es, so Baerbock, dass nun das Projekt Safe House schnell umgesetzt werde, „da die Frauen und die Kinder kaum eine andere Chance haben“.

Doch auch dagegen gibt es Vorbehalte – in diesem Fall von jesidische­r Seite. Die Vorstellun­g, dass in ihrer unmittelba­ren Nähe ein Ort entstehen könnte, an dem jesidische Mütter mit muslimisch­en Kindern zusammenle­ben, sehen Vertreter der Jesiden mit Sorge. Auch dies könnte zum Vorwand für weitere Angriffe auf die Religionsg­emeinschaf­t werden, befürchten sie. Zudem ist es für die Jesiden, die so viel Leid erfahren haben, ein kaum erträglich­er Gedanke, dass Angehörige der Religionsg­ruppe, die ihnen das angetan hat, ein Teil ihrer Gemeinscha­ft werden könnten. Deshalb wäre es für viele die beste Entscheidu­ng, die jesidische­n Frauen würden sich von ihren muslimisch­en Kindern trennen.

Im Entwicklun­gsminister­ium in Berlin scheint die Skepsis der Jesiden bekannt zu sein. „Wir brauchen in dieser Frage einen langen Atem“, schreibt die Beauftragt­e für Flüchtling­spolitik, Elke Löbel. „Und die Zusammenar­beit mit lokalen Strukturen und Behörden.“Das steht bereits fest: Das Projekt soll von einer irakischen Nichtregie­rungsorgan­isation namens „Emma“umgesetzt werden, die wiederum von der deutschen Hilfsorgan­isation Medica Mondiale, die sich weltweit für Frauenrech­te einsetzt, unterstütz­t wird. „Wenn es diesen Schutzraum für Frauen geben wird, ist das ein großer Fortschrit­t“, sagt Kizilhan. Er geht davon aus, dass auch die Jesidinnen, die bislang mit ihren Kindern in Syrien oder im Untergrund ausharrten, zurückkehr­en würden, wenn sie an einem sicheren Ort leben könnten. „Das hätte für die Frauen eine große Symbolkraf­t“, sagt der Psychologe. „Und ganz praktisch hätten sie einen Ort, an dem sie wirtschaft­lich und medizinisc­h versorgt werden, und die Kinder zur Schule gehen könnten.“

Auch Sara Murads sechsjähri­ge Tochter, die wenige Wochen nach der Eroberung der jesidische­n Dörfer in IS-Gefangensc­haft geboren wurde, geht seit diesem Jahr im Camp Mam Rashan zur Schule. Die Jesidin ist froh, dass ihr Kind, mit dem sie die viereinhal­b schlimmste­n Jahre ihres bisherigen Lebens verbracht hat, diese Möglichkei­t hat. Auch für sich selbst hat sie entschiede­n, noch einmal zur Schule gehen zu wollen. Anfang dieser Woche hat sie sich für die zwölfte Klasse angemeldet mit dem Ziel, Abitur zu machen – eine kleine Sensation nach all dem, was ihr angetan wurde. „Bildung ist mein Weg in die Zukunft“, sagt Sara Murad. Und auf diesem Weg will sie sich nicht aufhalten lassen.

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FOTO: MÖLLERS; BEARBEITUN­G: SZ Aus IS-Gefangensc­haft entkommen: Sara Murad und ihre Tochter (verpixelt).

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