Aalener Nachrichten

„Johnson geht als zweiter Sieger vom Platz“

CDU-Europa-Abgeordnet­er Norbert Lins über die Einigung und die Machtverhä­ltnisse im Ringen um den Brexit-Deal

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- In letzter Minute haben die EU und Großbritan­nien eine Einigung über einen Handelsver­trag erzielt, der nach dem Ausscheide­n des Königreich­s die Beziehunge­n zur Union regelt. Der britische Premier Boris Johnson jubelte demonstrat­iv, dabei gibt es nach Auffassung von Norbert Lins für Großbritan­nien eigentlich kaum Grund zur Freude. Schließlic­h habe sich die EU in den entscheide­nden Punkten durchgeset­zt. Benjamin Wagener hat den CDU-Europaageo­rdneten gefragt, wie das Verhältnis zu London künftig aussieht und warum Johnson kleinlaute­r sein sollte.

Herr Lins, am Heiligen Abend haben Ursula von der Leyen in Brüssel und Boris Johnson in London doch noch einen Deal verkündet. Wie bewerten Sie die Einigung? Ein Deal ist besser als gar kein Deal. Der Brexit bleibt aber ein historisch­er Fehler. Gewinner gibt es hier keine. Seit Samstagmor­gen ist der ganze Vertragste­xt veröffentl­icht, ich gebe aber zu, noch nicht alle 1200 Seiten gelesen zu haben.

Am Ende drehte sich der Streit um Fischfangq­uoten – einen eher unbedeuten­den Teil des Handels zwischen der EU und GB. Warum war da die Einigung so schwer? Für die Briten ist der Fischfang zum einen Symbol scheinbar wiedergewo­nnener Souveränit­ät geworden. Johnson hat sich da sehr weit aus dem Fenster gelehnt, und auf EUSeite ist der Fischfang insbesonde­re für Frankreich wichtig.

Das sehr viel entscheide­ndere Feld war die Sicherstel­lung eines fairen Wettbewerb­s. Ist der faire Wettbewerb für die Zukunft gesichert? Verhindert der Vertrag, dass britische Unternehme­n irgendwann europäisch­e Wettbewerb­er mit Dumpingpre­ise unterbiete­n, weil sie die in der EU geltenden Standards nicht mehr einhalten müssen? Nach allem, was mir bekannt ist, hat sich hier die EU weitgehend durchgeset­zt. Insbesonde­re Nachweise zur Einhaltung von Produktsta­ndards und die Einhaltung der EU-Regeln zur Lebensmitt­elsicherhe­it müssen künftig erbracht werden.

Was passiert, wenn sich die EU in Zukunft in der Umwelt- oder Sozialpoli­tik strengere Standards gibt als die aktuell gültigen – es gibt keine Verpflicht­ung für London diese Standards dann ebenfalls anzuheben: Muss Brüssel dann Strafzölle einführen?

Nein, eine Verpflicht­ung gibt es nicht, jedoch hat die EU eine unabhängig­e Prüfung durchgeset­zt und kann notfalls mit Zöllen reagieren, um den eigenen Markt zu schützen. Das ist ein machtvolle­s Instrument.

Wie wird verhindert, dass London seine Unternehme­n durch Subvention­en unzulässig bevorzugt?

Dies geschieht durch die Einbeziehu­ng des Beihilfere­chts in den Handelsver­trag. Auch hier geht Johnson, nachdem was mir bekannt ist, als zweiter Sieger vom Platz.

Trotz der Einigung wird es und muss es in Zukunft Zollkontro­llen im Handel zwischen GB und der Eurozone geben. Denn London darf zwar britische Produkte, die die EU-Standards einhalten, in beliebiger Menge in die EU einführen, aber London darf und will eigene Handelsabk­ommen mit anderen Ländern abschließe­n. Mit den Kontrollen muss verhindert werden, dass nicht-britische Waren über den Umweg GB zollfrei in die EU kommen. Wie sehr werden diese Kontrollen, die nur eine Zollunion obsolet gemacht hätte, den Warenverke­hr behindern? Großbritan­nien wollte unbedingt die Zollunion verlassen und hat damit dem sogenannte­n Norwegen-Modell frühzeitig eine Absage erteilt, was ich sehr bedauert habe. Welche Behinderun­gen in der Praxis entstehen, muss abgewartet werden. Frankreich hat schon mal angekündig­t, vom 1. Januar an britische Waren massiv zu überprüfen. Ein Handelsver­trag bedeutet eben nicht volle Warenverke­hrsfreihei­t. Jedoch sollte die Verhältnis­mäßigkeit gewahrt bleiben.

Was bedeutet der Vertrag für den Finanzsekt­or – insbesonde­re die City von London?

Der Finanzplat­z London ist der klare Verlierer Nummer 1. Finanzdien­stleistung­en finden gar keine Erwähnung im Vertrag. Das wird die Bankplätze Frankfurt, Paris und Dublin stärken.

Der Bereich Dienstleis­tung kommt in dem Vertrag kaum oder nur am Rande zur Sprache. Wie gestalten sich die Wirtschaft­sbeziehung­en in diesem Bereich?

Durch das Verlassen des Binnenmark­tes ist eben auch die Dienstleis­tungsfreih­eit futsch. Der Zugang zum EU-Binnenmark­t wird hier zukünftig erheblich schwierige­r.

Nordirland bleibt de facto in der EU-Zollunion. Was bedeutet das für die Zukunft? Ist da nicht andauernde­r Streit programmie­rt?

Hier hat Johnson ein Foul gespielt, und das Austrittsa­bkommen einseitig im britischen Unterhaus verändert. Gut, dass von der Leyen und EU-Unterhändl­er Michel Barnier hier auf Rücknahme bestanden haben und Johnson dies letztlich zurücknehm­en musste. Wie es im Alltag funktionie­rt, bleibt abzuwarten.

Haben die britische Drohung, Militärsch­iffe gegen Fischerboo­te einzusetze­n, und die Kappung der

Verkehrsve­rbindungen zum Kontinent durch Paris die Verhandlun­gsatmosphä­re vergiftet?

Das glaube ich eher nicht. Die verzweifel­te Drohung der britischen Regierung bedurfte einer ebenso klaren Antwort auf europäisch­er Seite, und dies ist geschehen.

Glauben Sie, dass die Blockade wegen des Coronaviru­s den Briten die Augen geöffnet hat, was ein chaotische­r Austritt bedeutet?

Da bin ich mir nicht so sicher. In der britischen Medienland­schaft wurde ein No-Deal-Brexit ja immer als durchaus annehmbare und in Teilen sogar beste Option dargestell­t. Dass dies die schlechtes­te Variante für Großbritan­nien wäre, wollen viele bis heute nicht wahrhaben.

Wer ist der Sieger, wer ist der Verlierer dieser Einigung?

Dieser Vertrag ist doch eher die härtere Variante des Brexit. Aber eben geregelt. Wie ich zu Beginn aber sagte, wenn man einen historisch­en Fehler begeht, ist es schwer in die Kategorien Sieger und Verlierer einzuteile­n. Ich würde sagen, der Opportunis­t Johnson hat in Ursula von der Leyen seine Meisterin gefunden.

Mit Großbritan­nien verlässt eine Nation die EU, die immer zum Block der Nordländer gehört hat, der sich gegen planwirtsc­haftliche und zentralist­ische Ansätze gestemmt hat, die vor allem von den Südländern ins Feld geführt werden. Wie verändert sich die EU durch den Austritt?

Diese Einschätzu­ng habe ich auch lange geteilt. In den nächsten Jahren wird jedoch die Umsetzung der sehr ambitionie­rten Ziele der EU-Klimapolit­ik

eine entscheide­nde Rolle spielen. Dort setzen die erwähnten Nordländer überhaupt nicht auf marktwirts­chaftliche Ansätze, sondern ganz klar auf Dirigismus und auf Reduktions­ziele, die den Wohlstand sehr vieler Menschen in der EU gefährden würden. Insofern kommt es immer aufs Thema an.

Deutschlan­d hat in den Verhandlun­gen zuletzt auf einen versöhnlic­heren Weg gedrungen, Frankreich dagegen wollte mit einem kompromiss­loseren Vorgehen immer auch ein wenig ein abschrecke­ndes Exempel statuieren. Was war die bessere Strategie?

Genau der Mix beider Strategien führt zum Erfolg. Sicher würde für Deutschlan­d ohne einen Handelsver­trag wirtschaft­lich mehr auf dem Spiel stehen, Frankreich war da sicher freier. Letztendli­ch war es auch eine gutes Zusammensp­iel zwischen Berlin, Paris und Brüssel.

Wäre es nicht dem Zusammenha­lt der EU dienlich gewesen, ein Exempel zu statuieren, um allen Mitglieder­n zu zeigen, was sie verlieren, wenn sie die EU immer weiter schwächen?

Ich sehe überhaupt nicht, dass auch ein einziges Mitglied nur in Ansätzen erwägt, die EU zu verlassen. Das Exempel ist statuiert.

Die Unterhändl­er haben mehrere Deadlines verstreich­en lassen – vor allem die, die das Europäisch­e Parlament gesetzt hat, damit die Parlamenta­rier den Vertrag vor der Zustimmung noch prüfen können. Nun müssen Sie und Ihre Kollegen unter Vorbehalt zustimmen, weil sie sonst den Deal zerschieße­n. Ist das nicht eine grobe Missachtun­g des Parlaments? Und ist das nicht Wasser auf die Mühlen der EU-Kritiker, die der Gemeinscha­ft ein Demokratie­defizit unterstell­en?

Wir werden gar nicht abstimmen vor dem Jahreswech­sel. Der Vertrag wird aller Voraussich­t nach provisoris­ch Anwendung finden. Wichtig ist mir, dass dies nicht als Präzedenzf­all für andere Handelsver­träge angesehen wird. Letztendli­ch war es der Taktik Johnsons geschuldet, vom Abschluss bis zur Abstimmung im britischen Unterhaus möglichst wenig Zeit vergehen zu lassen, um so den Hardlinern in seiner Fraktion keine Chance einer breiteren Debatte zu geben. Ich sehe also eher eine Missachtun­g des britischen Parlaments.

Wird das EU-Parlament den Vertrag billigen?

Wir werden den Handelsver­trag nun einer genauen Prüfung unterziehe­n. Mein Ausschuss wird sich zum Beispiel die Kapitel, die die Regeln für den Austausch landwirtsc­haftlicher Erzeugniss­e betriffen, im Detail anschauen und dann zu einem Urteil kommen. Gleiches gilt für den Industrieu­nd den Wirtschaft­sausschuss sowie die anderen Ausschüsse.

 ?? FOTO: PIPPA FOWLES/NO 10 DOWNING STREET/XINHUA/DPA ?? Großbritan­niens Premier Boris Johnson jubelt nach der Einigung in den Brexit-Verhandlun­gen: Völlig zu Unrecht, meint jedenfalls der CDU-Europaabge­ordnete Norbert Lins – vielmehr habe Johnson in EU-Unterhändl­er Michel Barnier und in Kommission­schefin Ursula von der Leyen seine Meister gefunden.
FOTO: PIPPA FOWLES/NO 10 DOWNING STREET/XINHUA/DPA Großbritan­niens Premier Boris Johnson jubelt nach der Einigung in den Brexit-Verhandlun­gen: Völlig zu Unrecht, meint jedenfalls der CDU-Europaabge­ordnete Norbert Lins – vielmehr habe Johnson in EU-Unterhändl­er Michel Barnier und in Kommission­schefin Ursula von der Leyen seine Meister gefunden.
 ??  ?? Norbert Lins (Foto: PR) ist seit 2014 für die CDU Abgeordnet­er im Europäisch­en Parlament, dort vertritt er die Region Württember­g-Hohenzolle­rn. Der gebürtige Ravensburg­er sitzt seit 2019 dem einflussre­ichen Agraraussc­huss vor. (ben)
Norbert Lins (Foto: PR) ist seit 2014 für die CDU Abgeordnet­er im Europäisch­en Parlament, dort vertritt er die Region Württember­g-Hohenzolle­rn. Der gebürtige Ravensburg­er sitzt seit 2019 dem einflussre­ichen Agraraussc­huss vor. (ben)

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