Aalener Nachrichten

Warum der Brexit eine Chance für die EU sein könnte

Mit dem Ausscheide­n Großbritan­niens geht es mit schwierige­n EU-Projekten wieder voran – Spannungen mit Osteuropa erwartet

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(AFP) - Der Austritt Großbritan­niens bringt neben dem großen Verlust auch eine große Chance für die verbleiben­den 27 Mitgliedst­aaten der EU – dies zumindest ist die einhellige Einschätzu­ng zahlreiche­r Experten, die sich seit Langem mit der Geschichte der Europäisch­en Union befassen.

Dass der Austritt der nach Deutschlan­d größten Volkswirts­chaft der EU gravierend­e wirtschaft­liche Folgen auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s haben wird, bestreitet niemand – auch wenn die an Heiligaben­d erzielte Einigung auf ein Post-BrexitHand­elsabkomme­n diese erheblich abfedern wird. In vielen Regierungs­zentralen war eine deutliche Erleichter­ung zu vernehmen, als der weiße Rauch in Brüssel aufgestieg­en war. „Endlich können wir den Brexit hinter uns lassen und nach vorne schauen“, erklärte Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen. Der Blick richtet sich auf die Chancen, die sich nach der Scheidung für die verbleiben­den 27 EU-Staaten auftun. So hat der Bruch mit Großbritan­nien, die neben Frankreich einzige Atommacht in Europa, den lange lahmliegen­den Plan zum Aufbau einer gemeinsame­n Verteidigu­ngspolitik schon deutlich beflügelt. „Großbritan­nien war nie für den Aufbau einer autonomen europäisch­en Sicherheit­spolitik, sondern hat stattdesse­n auf die zentrale Rolle der Nato verwiesen“, sagt Pierre Vimont, EU-Kenner und früherer diplomatis­cher Vertreter Frankreich­s in Brüssel. „Das britische Brexit-Referendum war genau der Moment, an dem das Europa der Verteidigu­ng begann.“Nach dem Referendum von 2016 verhindert­e London nicht mehr, dass die anderen EU-Staaten gemeinsame Rüstungs- und Verteidigu­ngsprojekt­e angingen. Heute gibt es rund 50 solcher Vorhaben – von der Entwicklun­g einer Eurodrohne über die Schaffung eines EU-Sanitätsko­mmandos bis zum Aufbau schneller

Krisenreak­tionskräft­e. Was für die gemeinsame Verteidigu­ngspolitik zutrifft, gilt nach Ansicht des Historiker­s Robert Frank auch für die Pandemie-Bekämpfung­spolitik. Das gigantisch­e Corona-Hilfspaket im Umfang von 750 Milliarden Euro, für das auch Deutschlan­d über seinen Schatten sprang und zum ersten Mal in der EUGeschich­te gemeinscha­ftliche europäisch­e Schulden akzeptiert­e, wäre mit London im Boot wohl nicht zustande gekommen – „darüber hätte man mit den Briten gar nicht erst sprechen können“, sagt Frank. „Sie hätten sofort Nein gesagt.“

Nach Erwartung des französisc­hen Diplomaten Vimont werden die Briten künftig „um die EU kreisen“und versuchen, enge bilaterale Beziehunge­n zu einzelnen Staaten oder Staatengru­ppen aufzubauen, etwa den Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei. Viel beschworen wurde in den zurücklieg­enden Brexit-Jahren daher die Einheit

der 27 verbleiben­den EU-Staaten – auch aus der Sorge heraus, andere könnten dem Beispiel Großbritan­niens folgen. „Es wird weiter Spannungen mit den osteuropäi­schen Staaten geben“, prophezeit der frühere britische EU-Abgeordnet­e Andrew Duff. „Dies gilt umso mehr, wenn Großbritan­nien gut aus der ganzen Sache herauskomm­t.“Zwar profitiere­n Länder wie Polen und Ungarn auch im neuen EU-Haushalt in hohem Maße von den Milliarden­zahlungen. Wie aber der Streit um die Rechtsstaa­tlichkeit zeigt, sind sie ohne Umschweife zur Konfrontat­ion bereit. Nur mit größter Mühe gelang bei diesem Streit wieder einmal ein klassische­r EU-Kompromiss – der aber genügend weiteren Konfliktst­off für die Zukunft birgt.

In den nie einfachen Beziehunge­n zwischen dem Vereinigte­n Königreich und Kontinenta­leuropa hingegen beginnt nun am 1. Januar ein neues Kapitel. „Auf der Grundlage des nun getroffene­n Abkommens und in allen Bereichen muss ein neues Band geknüpft werden, das es der Union wie auch Großbritan­nien ermöglicht, eine neue Partnersch­aft zum beiderseit­igen Nutzen aufzubauen“, sagt Vimont. Allerdings glaubt der Diplomat, dass in dieser Geschichte noch viele Kapitel geschriebe­n werden. „Die Briten sind seit Jahrhunder­ten sowohl ,drin' als auch ,draußen'“, sagt Vimont. Das werde so bleiben.

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FOTO: KIRSTY O'CONNOR/DPA Das Bestreben nach einer gemeinsame­n Sicherheit­spolitik der EU könnte der Brexit beflügeln.

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