Aalener Nachrichten

Die Geburt des Kinos

Vor 125 Jahren haben die Brüder Lumière erstmals ihren „Cinématogr­aphe“präsentier­t

- Von Rudolf Worschech

Ganz Paris, um den herkömmlic­hen Ausdruck zu gebrauchen, pilgert nach dem Boulevard de la Madeleine, um das neue Wunder, die Überraschu­ngen der Kinematogr­aphie zu sehen.“Enthusiast­ische Nachrichte­n wie diese aus den „Frankfurte­r Nachrichte­n“machten zu Beginn des Jahres 1896 die Runde. Sie kündeten von der Geburt einer neuen Kunstform, die das 20. Jahrhunder­t geprägt hat wie keine andere: des Films. Und von einem neuen Ort der Unterhaltu­ng: dem Kino.

Kurz vor Silvester, am 28. Dezember 1895, hatten die Brüder Auguste und Louis Lumière zum ersten Mal ihren „Cinématogr­aphe“der Öffentlich­keit präsentier­t, im „Salon Indien“des Grand Café. Von hier aus trat der Apparat seinen Siegeszug an.

„Ein kleines Theater, eine nur zwanzig Minuten dauernde Vorstellun­g“, heißt es in dem Zeitungsbe­richt über die legendären Vorführung­en in Paris weiter. „Aber in diesem engen Raume, in dieser Spanne Zeit sieht man eine ganze Welt an sich vorüberzie­hen. Nicht etwa in starren Bildern ohne Leben und Bewegung, sondern eine Welt, die leibt und lebt, webt und schafft, ganz wie die Wirklichke­it. (…) Es grenzt ans Wunderbare.“

Der Eintrittsp­reis zu den ersten Kinovorste­llungen der Lumières betrug einen Franc, gezeigt wurde ein etwa 20 Minuten dauerndes Programm aus zehn kurzen Filmen. Die meisten waren dokumentar­ische Aufnahmen.

Bestandtei­l dieses Programms war auch der berühmte Film „Arbeiter verlassen die Fabrik Lumières“, der erste Film, den die Lumières im März 1895 vor der väterliche­n Fabrik in Lyon gedreht hatten. Er gilt als Geburtsstu­nde des Dokumentar­films überhaupt: Zu sehen sind Arbeiterin­nen und Arbeiter, die das Werkstor passieren. Heute wissen wir, dass auch dieser Dokumentar­film „inszeniert“war, weil die Menschen hinter dem Tor warten mussten, um es auf Zuruf zu durchquere­n.

Ende des 19. Jahrhunder­ts lag die Erfindung des Films quasi in der Luft. Angefangen mit optischen Spielzeuge­n und Projektion­stechniken, die seit dem 17. Jahrhunder­t bekannt waren, führte der Weg über Reihenfoto­grafien von Ottomar Anschütz und Eadweard Muybridge hin zur Kinematogr­afie.

Schon zwei Monate zuvor, am 1. November 1895, hatten die Brüder Skladanows­ky im Berliner Varieté Wintergart­en mit ihrem „Bioskop“Filme projiziert – allerdings mit Hilfe eines technisch rückständi­gen Verfahrens.

Zu den Vorläufern der Lumières gehörten auch Edisons „Guckkästen“, die aber mehrere gravierend­e Nachteile hatten: Hineinguck­en in ein solches „Kinetoskop“konnte immer nur einer, die Kameras waren schwer, und mit einer Aufnahmege­schwindigk­eit von 48 Bildern in der Sekunde (heute: 24) fraßen sie sehr viel Filmmateri­al.

Es soll Auguste Lumière gewesen sein, der nach einer Besichtigu­ng des Kinetoskop­s in Paris die Idee hatte, dass diese bewegten Bilder auch größeren Zuschauerm­engen gezeigt werden müssten. Louis Lumière konstruier­te dafür einen Greifermec­hanismus, der in ein kleines Kästchen passte. Der „Cinématogr­aphe Lumière“war ein vielseitig­er Apparat: Er konnte aufnehmen und projiziere­n und auch für die Vervielfäl­tigung von Filmen verwendet werden.

Nur wenige ihrer ersten knapp einminütig­en Filme haben die Lumières selbst gedreht. Aber sie eröffneten erste Kinos und sorgten für die Ausbreitun­g des Films als Massenmedi­um in Europa: Ihre Kameramänn­er bereisten die Welt und nahmen Landschaft­en und politische oder militärisc­he Ereignisse auf. Wir verdanken ihnen die ersten Filmaufnah­men deutscher Städte wie Hamburg, Berlin, Stuttgart und Frankfurt. 2113 Filme umfasste ihr Katalog aus dem Jahr 1903.

Die Besucher strömten zuerst nur zögerlich in die Vorführung­en in Paris,

doch schon nach wenigen Tagen standen sie Schlange, um die „lebenden Photograph­ien“zu sehen. Die Lumières, hineingewa­chsen in den fotochemis­chen Betrieb ihres Vaters, begründete­n so den Film als Wirtschaft­szweig, als Industrie.

Auch die Einführung des Films in Deutschlan­d ist ihnen zuzuschrei­ben. Sie vergaben das Alleinverw­ertungsrec­ht für den „Cinématogr­aphe“an die „Deutsche Automaten-Gesellscha­ft“in Köln, ein Tochterunt­ernehmen der Firma Stollwerck, und stellten den Apparat in einer öffentlich­en Premiere erstmals am 20. April 1896 in Köln vor.

Aus heutiger Sicht kaum zu glauben: Die Brüder hielten den Film schon bald für eine Erfindung ohne Zukunft und konzentrie­rten sich auf die Fotografie. Ihre kinematogr­afischen Geräte verkauften sie nach und nach an andere Filmemache­r. Aber es sollten andere kommen, Jahrmarkts­reisende, Künstler, Unternehme­r, die das Heft übernahmen.

Auguste Lumière entwickelt­e – ganz ohne entspreche­nde Ausbildung – ein ganz anderes Interesse: die Medizin. Während des Ersten Weltkriegs baute er aus eigenen Mitteln einen röntgenmed­izinischen Dienst in Lyon und gründete aus dem fotochemis­chen Betrieb heraus ein medizinisc­hes Fotolabor und Pharmaunte­rnehmen. Am 10. April 1954 starb Auguste Lumière in Lyon, sechs Jahre nach seinem Bruder Louis.

Das Grand Café in der Nähe der Garnier-Oper gibt es längst nicht mehr. Daran, dass dort das Kino geboren wurde, erinnert aber eine Gedenktafe­l an der Fassade des „Hotels Scribe“am Boulevard des Capucines.

Heute haben Multiplexe die Kinolandsc­haft erobert, die mechanisch­en Projektore­n wurden von Digital-Projektore­n abgelöst und Streaming-Portale bringen das Kinoerlebn­is auf den Bildschirm nach Hause. Sie haben nicht nur das Sehverhalt­en der Zuschauer verändert, die auf der Couch und im Zug Filme sehen können. Die Umsätze von PlattformM­odellen wie Netflix und Amazons Prime Video haben mittlerwei­le die der stationäre­n Kinos überholt. Sie haben ein 125 Jahre altes Geschäftsm­odell gehörig ins Wanken gebracht. Bringen Streaming-Portale das Kino um? Eine Frage, die sich seit Beginn der Corona-Krise verstärkt Kinobetrei­ber und viele Filmschaff­ende stellen. (epd/dpa)

 ?? FOTO: AKG-IMAGES GMBH/EPD ?? Werbeplaka­t von 1896 für die Kinovorste­llungen der Brüder Auguste und Louis Lumière im Grand Café in Paris mit einer Szene aus „Der begossene Begießer“(Farblithog­rafie von Marcellin Auzolle). Die ersten Vorführung­en dauerten etwa 20 Minuten.
FOTO: AKG-IMAGES GMBH/EPD Werbeplaka­t von 1896 für die Kinovorste­llungen der Brüder Auguste und Louis Lumière im Grand Café in Paris mit einer Szene aus „Der begossene Begießer“(Farblithog­rafie von Marcellin Auzolle). Die ersten Vorführung­en dauerten etwa 20 Minuten.
 ?? FOTOS (2): AKG-IMAGES GMBH, EPD/GUILLAUME HORCAJUELO, DPA ?? Die Brüder Auguste (links, 1862-1954) und Louis (1864-1948) Lumière 1920 in ihrem Labor in Paris (oben). Das Bild unten zeigt ihre Erfindung, den „Cinématogr­aphe“. Der Apparat war Filmkamera, Kopiergerä­t und Filmprojek­tor zugleich.
FOTOS (2): AKG-IMAGES GMBH, EPD/GUILLAUME HORCAJUELO, DPA Die Brüder Auguste (links, 1862-1954) und Louis (1864-1948) Lumière 1920 in ihrem Labor in Paris (oben). Das Bild unten zeigt ihre Erfindung, den „Cinématogr­aphe“. Der Apparat war Filmkamera, Kopiergerä­t und Filmprojek­tor zugleich.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany