„Der Kopf spielt eine unglaublich große Rolle“
Der 2016 verunglückte Skispringer Lukas Müller erzählt, wie er mit seinem Leben umgeht
Der 13. Januar 2016 veränderte das Leben des österreichischen Skispringers Lukas Müller für immer. Als Vorspringer der Skiflug-WM in Bad Mitterndorf/Steiermark ging Müller über den Backen, als er in der Luft mit dem linken Fuß aus dem Schuh rutschte. Der Junioren-Weltmeister von 2009 krachte mit dem Rücken auf den Boden, brach sich den sechsten und siebten Halswirbel und ist seitdem inkomplett querschnittsgelähmt. Im Interview mit Florian Kinast spricht der heute 28-Jährige über seine Erinnerungen an den verhängnisvollen Moment, an die langsamen Schritte zurück ins Leben – und warum ein Lächeln in Zeiten wie diesen so wichtig wäre.
Herr Müller, an diesem Dienstag startet in Oberstdorf die Vierschanzentournee, werden Sie gebannt vor dem Bildschirm sitzen oder schauen Sie sich Skispringen lieber nicht mehr an?
Natürlich werde ich mitfiebern und meinen alten Weggefährten die Daumen drücken, vor allem Stefan Kraft und Michi Hayböck. Ich bin mit den beiden am Skigymnasium Stams groß geworden, der Kontakt ist noch immer sehr intensiv. Und auch die anderen ÖSV-Springer treffe ich noch sehr häufig am Trainingsstützpunkt in Salzburg. Wir sind da oft gemeinsam. Nur dass die Burschen dann Krafttraining machen und ich meine Physiotherapie.
Ihr folgenschwerer Sturz jährt sich bald zum fünften Mal. Können Sie sich denn noch genau an den Unfall erinnern oder ist der Moment aus Ihrem Bewusstsein gelöscht?
Das alles ist immer noch sehr präsent und gerade rund um den Jahrestag sind die Erinnerungen noch intensiver. Das ist nun mal ein großer Teil meiner Lebensgeschichte, an dem ich nichts mehr ändern kann. Vielmehr denke ich mir immer, so brutal und ungut das war, so viel Lehrreiches hat dieser Tag doch auch mit sich gebracht.
Zum Beispiel?
Dass man viel mehr kleine Dinge zu schätzen lernt, über die du als gesunder Mensch nicht nachdenkst. Etwa wenn ich mich ein, zwei Minuten auf den Füßen halten kann, ohne dass es mich umhaut. Das ist dann schon ein Erfolg. Da verschieben sich die Prioritäten. Ich kann eh nicht anders, als mich mit der Situation abzufinden, nach dem derzeitigen Stand der Medizin ist die Lähmung ja auch permanent und dauerhaft. Würde ich mich nicht damit abfinden, würde sich daran auch nichts ändern. Und je öfter und je nüchterner ich darüber spreche, desto besser kann ich damit umgehen. Darüber zu reden, hat sich sicher positiv ausgewirkt auf meine Entwicklung.
Wussten Sie unmittelbar nach dem Sturz, wie schlimm es war?
Ja. Ich hatte mich bis dahin nie mit
Querschnitt beschäftigt, wusste aber gleich, das geht genau in diese Richtung. Nach dem Aufschlag war ich mir zu 98 Prozent sicher, dass ich gelähmt sein werde. Und als ich unten im Auslauf der Schanze lag und ich mich auf den Bauch drehen wollte, aber nicht konnte, zu 99 Prozent. Da wusste ich, okay, passt, jetzt musst du auf die Sanitäter warten.
Sie haben Ihre Beine nicht mehr gespürt?
Doch, gespürt habe ich schon noch etwas, nur bewegen konnte ich sie nicht mehr. Das war dann ganz schön grausig.
Sie haben sich den sechsten und siebten Halswirbel gebrochen, die Diagnose war eine inkomplette Querschnittslähmung. Können Sie kurz den Unterschied zu einer vollständigen Lähmung beschreiben?
Eine Lähmung definiert sich aus dem Grad der kaputten Rückenmarksbahnen, heißt vereinfacht also: Wenn zwischen dem Kreuzbein am unteren Ende der Wirbelsäule und dem Gehirn noch eine gewisse Reizleitung vorhanden ist, wenn Signale für Nerven und Muskelkontraktionen noch ausgetauscht werden können, dann ist sie inkomplett. Wenn die Bahnen total durchtrennt sind, dann eben komplett. Dass ich doch noch ziemliches Glück hatte, wurde mir in der Reha bewusst, so vier Monate nach meinem Sturz, wo ich im Wasser das erste Mal wieder wenige Schritte gehen konnte. Das war ein unfassbar geiles Gefühl.
Wie sehr sind Sie im Alltag auf den Rollstuhl angewiesen?
Sehr natürlich, ohne geht gar nicht. Nicht, weil ich es so will, sondern weil es praktischer ist, da bin ich viel wendiger und schneller. Und wenn es auf der Straße abwärtsgeht, bin ich eh der Schnellste. Auf den Beinen bin ich sehr fragil. Manchmal stehe ich beim Zähneputzen zwei Minuten, in der Dusche oder natürlich auch bei der Therapie.
Welche Fortschritte Sie machten, konnte man vergangenen Sommer in einem Video im Netz sehen, als man Sie auf einer Bergtour sah.
Bergtour, gut, es waren vielleicht 200 Höhenmeter und die Strecke war ein Kilometer. Ich wollte einfach wissen, wie gut ich auf Krücken unterwegs sein kann, und als eine Journalistin fragte, ob sie mit dürfte und das auch filmen könnte, dachte ich mir: Dann musst du dich eben noch mehr zusammenreißen. Ich habe etwa eine Stunde gebraucht, und damit auch nicht länger als die Touristen, denen wir begegnet sind. Am Gipfel spürte ich dann einfach eine große Freude, weil ich wusste, diese Tour war einfach das Ergebnis jahrelanger harter Arbeit.
Kam es dabei mehr auf die Muskeln an und die Koordination zwischen Armen, Krücken, Beinen? Oder doch mehr auf den Kopf, auf den Willen?
Der Kopf spielt eine unglaublich große Rolle. Es gibt ja den abgedroschenen Spruch vom Glasl, das halb voll ist oder halb leer. Ich sehe es immer halb voll. Wenn man lernt, Dinge eher positiv als negativ zu benennen, dann konditioniert man sich darauf, dass trotz aller Schwierigkeiten doch nicht alles so schlecht ist, wie es scheint. Und das wiederum erspart einem viel inneren und manchmal kaum merkbaren Stress. Stress wiederum kostet Kraft. Und Kraft brauchst du für andere Dinge wie meine Therapie oder eben auch die Bergtour. Natürlich habe auch ich Tage, an denen ich den Rollstuhl am liebsten aus dem Fenster schmeißen würde, weil er mich so nervt. Nur sind es eben drei, vier Tage im Jahr, vielleicht fünf. Wären es drei, vier, fünf Monate im Jahr, dann hätte ich ein großes Problem. Dann würde mich der Strudel nach unten ziehen, und da wieder rauszukommen, wäre extrem anstrengend. Lieber gehe ich die Wendeltreppe weiter nach oben. Diese Richtung gefällt mir besser.
Machen Sie sich denn nicht doch Hoffnungen, dank medizinischer und technologischer Fortschritte eines Tages wieder laufen zu können? Oder wollen Sie sich lieber nicht irgendwelchen Illusionen hingeben?
Thomas Geierspichler, der mehrmalige Rennrollstuhl-Weltmeister, hat mal gesagt, dass man sich ruhig auch mal unrealistische Ziele setzen soll. Die Realität kommt so oder so. Mag sein, dass es irgendwann mal ganz neuartige Möglichkeiten gibt, daher setze ich mich auch sehr für die Stiftung Wings for Life ein, die mit ihren Spenden und Aktionen enorm viel in die Rückenmarksforschung investiert. Da rühre ich gerne gleich einmal die Werbetrommel für den Wings for Life World Run am 9. Mai 2021, dessen Erlöse zu 100 Prozent in die Rückenmarksforschung zur Heilung Querschnittsgelähmter fließen. Im Moment erfreue ich mich aber eher an den kleinen Schritten. Beispielsweise, dass ich kürzlich über eine Slackline balanciert bin, links und rechts mit zwei Seilen auf Kopfhöhe zum Festhalten. Ich hätte nie gedacht, das jemals wieder zu können. Auch das war ein cooles Gefühl und ein großer Erfolg für mich.
Beruflich scheinen Sie auch Erfolg zu haben, Sie sind Beauftragter für Barrierefreiheit für Ihren ehemaligen Sponsor, selbstständiger Vermögensberater und haben dazu nebenbei noch ein Studium im Sportrecht begonnen. Klingt nach viel Arbeit.
Ist es auch, es macht mir aber auch viel Spaß. Mir war es seit meinem Unfall extrem wichtig, dass ich auch geistig fit bleibe, schließlich ist ja nur mein Rücken kaputt und nicht mein Kopf. Ich möchte mich weiterentwickeln und nicht dauernd meine eigene Situation überdenken, damit würde ich stagnieren und käme nicht vom Fleck. Außerdem habe ich das Riesenglück, in Österreich zu leben, das ist wie ein Sechser im Lotto. So wie mich das Land nach meinem Unfall aufgefangen hat, da möchte ich jetzt etwas zurückgeben.
Dabei gab es ja bis 2019 einen jahrelangen Rechtsstreit mit dem Österreichischen Skiverband, der Ihren Sturz als Freizeitunfall kategorisiert hatte. Eine Einstufung, die massive Auswirkungen auf Ihre finanzielle Absicherung gehabt hätte. Erst in letzter Instanz bekamen Sie recht, als das Gericht doch einen Arbeitsunfall feststellte.
Ja, das war für mich ganz wichtig, da ich nun bis an mein Lebensende abgesichert bin und Anspruch auf alle gesetzlichen Leistungen der Vollversicherung habe, also Kranken-, Pflege-, Unfall-, Arbeitslosenversicherung. Aber es ging mir nicht nur um mich. Ich wollte einen Präzedenzfall für meine Kollegen schaffen. Glücklicherweise ist es nun so, dass ab jetzt alle Vorspringer in Österreich bei der Sozialversicherung angemeldet werden müssen und damit in einem Angestelltenverhältnis sind.
Gab es denn jemals eine klärende Aussprache mit den Verantwortlichen des ÖSV?
Nein, nie. Mich hat vielmehr erstaunt, dass der Verband die Versicherungssummen öffentlich machte, die einerseits teilweise falsch waren, andererseits auch nur dazu dienten, Neid zu schüren. Das war schon ein starkes Stück. Und das von einem Verband, der sich immer so sehr auf die Fahnen schreibt, wie sehr er für seine Sportler da ist. Das war alles schon ein gewisser Widerspruch. Aber gut, die damals handelnden Personen sind 79 und 75 Jahre alt ...
... Sie meinen ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel und Ex-Generalsekretär Klaus Leistner ... ... richtig. Da ist so viel an persönlichen Veränderungen und Entwicklungen nicht mehr zu erwarten. Aber gut, Hauptsache, es gibt nun klare Rechtssicherheit für alle Vorspringer.
Zum Jahresende noch ein kurzer Rückblick auf dieses besondere Jahr 2020. Wie haben Sie die CoronaPandemie erlebt, mussten Sie besonders aufpassen, etwa wegen eines geschwächten Immunsystems?
Formell bin ich tatsächlich in der Risikogruppe, das liegt aber vor allem an Lähmungen in meinem Brustbereich, wo ich keine Temperatur mehr spüre, die Wundheilung schlecht ist, die Atemhilfsmuskeln nicht mehr funktionieren. An sich habe ich das Jahr gut überstanden, ich weiß ja seit meinen fünf Monaten auf stationärer Reha, wie es sich anfühlt, „eingesperrt“zu sein. Allerdings habe auch ich gemerkt, wie unglaublich gut nach sechs, sieben Wochen Lockdown die erste Umarmung wieder tat. Da fiel mir dann erst auf, wie bedrückend der Verlust an menschlicher und körperlicher Nähe ist. Insgesamt war es schon heftig, als im Frühjahr innerhalb einer Woche etwas passiert ist, was sich nie jemand vorstellen konnte. So wie bei mir selbst damals auch. Nur hat es da eben keine Woche, sondern nur eine Sekunde gedauert.
Was sind Ihre Hoffnungen und Wünsche für 2021?
Dass die Pandemie jetzt bald vorbei ist. Und dass die gesamte Gesellschaft mit der Erkenntnis rausgeht, dass man gewisse Dinge wieder mehr schätzt. Wie etwa eine Umarmung. Ich bezeichne mich selbst als einen glücklichen Menschen, und daher hoffe ich, dass sich ein generelles Glücksgefühl durch alle Gesellschaftsschichten breit macht. Dass man das Leben wieder positiver und bewusster wahrnimmt. Dass wir uns alle mehr ein Lächeln schenken. Lächeln ist sehr ansteckend, letztlich ist Lächeln wie ein Virus. Nur ein sehr schöner.