Aalener Nachrichten

Wie Aalen neu „gestimmt“wurde

Eine CD von Martyn Schmidt vertont Aalener Nachkriegs­geschichte.

- Von Viktor Turad

– Was Bundespräs­ident Richard von Weizsäcker erst 40 Jahre später ausgesproc­hen hat, das hat eine Frau im Hirschbach in Aalen sofort nach der totalen Niederlage Nazi-Deutschlan­ds vor 75 Jahren gesagt: „Das ist die Befreiung vom Nazijoch.“In ihrer Nachbarsch­aft war das nicht Allgemeing­ut. Dort war vielmehr vom einem Desaster die Rede. Das erzählt ihr Sohn Erwin Hafner. Zu hören ist er auf einer CD mit dem Titel „Kammerton a’a“, die Martyn Schmidt produziert hat. Er wurde in Aalen geboren, ist in Wasseralfi­ngen aufgewachs­en und lebt heute in Augsburg. Die Verbindung zu seiner alten Heimat und ihrer Geschichte ist ihm jedoch wichtiger denn je, sagt er. Mit der CD ist ihm ein wertvolles Zeitdokume­nt gelungen.

Die Überschrif­t „Kammerton a’a“trägt sie, weil der Neubeginn in Aalen vor einem dreivierte­l Jahrhunder­t genialerwe­ise verglichen wird mit dem Stimmen eines Instrument­s, im konkreten Fall eines Klaviers. Und dafür bietet sich die Klavierfab­rik Haegele an, die sich von 1866 bis 1973 in der Bahnhofstr­aße befand. Von Mai 1945, unmittelba­r, nachdem die Amerikaner Aalen besetzt hatten, bis 1947 war sie der Ort der Spruchkamm­erverfahre­n zur Entnazifiz­ierung. Darauf spielt der Wortteil Kammer zum einen an. Zum anderen gilt der Kammerton als Referenz beim Stimmen von Musikinstr­umenten. Noch eine Verbindung zur Musik: Karl Otto Balluff, der erste Aalener Nachkriegs­bürgermeis­ter, war von Beruf Klaviermec­hanikermac­her.

Und so zeichnet „Kammerton a’a“, ein Hörpoem, wie es Schmidt nennt, das seine Zuhörer sofort in seinen Bann schlägt und rund 73 Minuten nicht mehr loslässt, das Bild einer Stadt, die nach den Schrecken der Nazidiktat­ur einem Klavier gleich repariert und neu gestimmt wird. Reparature­n hatte Aalen ohne Zweifel bitter nötig. Wie bei einem Instrument neue Saiten gespannt und der Klaviatur neue Töne entlockt werden, so erklangen in Aalen neue, demokratis­che Melodien. Vorausgega­ngen waren aber für viele Aalener nicht nur Misstöne, sondern üble Kakophonie, die in Tod, unbeschrei­blichem Leid, grauenvoll­em Schmerz und unvorstell­barer Zerstörung endete.

Hafner erzählt eindrucksv­oll von den Angriffen der Jagdbomber am 17. April 1945 auf den

Aalener Bahnhof und das damalige Heereszeug­amt, das Areal der heutigen Firma Mapal. Berichtet, wie schwarze Rauchwolke­n aufgestieg­en sind, wie er sich erst in den elterliche­n Keller und später aufs Härtsfeld geflüchtet hat. Und wie sich sein Vater, der sich selbst als aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehr­ten Krüppel bezeichnet­e, geweigert hat, erneut in einen sinnlosen Kampf zu ziehen. Wie es nicht genügend Särge gab, um die Toten würdig zu beerdigen. Der Zeitzeuge, der im Januar sein 89. Lebensjahr vollendet, erzählt, wie ihn als Jugendlich­en der

Hunger geplagt hat und wie wertvoll für ihn jedes Stück Brot war. Er berichtet aber auch, wie das Leben wieder in Gang kam, wie es dem Klavier gleich wieder justiert wurde und dem Instrument und der Stadt erste Klänge der neuen Freiheit entlockt wurden. Laientheat­er erlebten großen Zulauf und machten Darsteller­n und Zuschauern viel Freude. Das kulturelle Leben blühte langsam wieder auf. Man traf sich im Spritzenha­ussaal und im Löwenkelle­r, im Volksmund der Vatikan genannt, weil sich dort immer sonntags viele katholisch­e Arbeiter, die aus dem Ries und dem Ellwanger Hinterland nach Aalen gezogen waren, beim einzigen katholisch­en Wirt, dem Braumeiste­r Franz Xaver Barth, getroffen hatten.

Nicht nur die Amerikaner stimmten die Stadt und ihre Bevölkerun­g neu ein auf die Demokratie. Hafner erzählt von Seminaren, in denen den Menschen Demokratie beigebrach­t wurde, und von Gewerkscha­ftssekretä­r Karl Schmid, der ihnen ihr Obrigkeits­denken abgewöhnte: „Ned warte, bis jemand herein ruft. Neiganga!“Schließlic­h seien jetzt die Oberen für die Bevölkerun­g da, nicht mehr umgekehrt.

Zu Wort kommt aber nicht nur Erwin Hafner. Der Klavierbau­meister Klaus Striegel aus Ebnat erzählt von der Historie des Aalener HaegeleKla­viers, liest einen Auszug aus dem Schubart-Gedicht „Serafina an ihr Klavier“und steuert Werkstattk­länge aus seinem Atelier bei. Hermann Mößner aus Essingen erzählt von seinem Vater Eugen, der 50 Jahre lang bei der Klavierfab­rik Haegele gearbeitet hat. Anne Kullmann liest das Gedicht „Mein blaues Klavier“der jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler. Es ist Grundstock eines Stücks auf der CD, das der Aalener Jüdin Fanny Kahn gewidmet ist. Sie hatte sich in Aalen nach dem frühen Tod ihres Mannes ein Zubrot durch Unterricht an ihrem schönen Flügel verdient und wurde 1942 im Alter von 71 Jahren im Vernichtun­gslager Treblinka ermordet. Sie wurde als einzige der wenigen jüdischen Mitbürger Aalens Opfer des Holocaust. Klangkünst­ler Martyn Schmidt selbst ergänzt die Aufnahmen mit Wortbeiträ­gen, indem er etwa eine Passage aus dem Klavier-Standard-Werk „Taste und Hebeglied des Klavier“(1920) von Dr. Walter Pfeiffer zitiert. Bei Recherche und Bildfreiga­be wurde Schmidt unterstütz­t vom Stadtarchi­v.

Zu hören sind auf der CD Klänge, Korpus, Knarzen, Mechanik und Bauteile eines Aalener Haegele-Klaviers, dazu die Arbeitsger­äusche aus einer

Klavierwer­kstatt sowie Vor-Ort-Aufnahmen. Die Klänge des HaegeleKla­viers wurden bisweilen digital tontechnis­ch bearbeitet und verfremdet. So wurden dem Instrument neue Klangwelte­n entlockt. An einigen Stellen wird sogar historisch­es Audiomater­ial aus dem Nationalar­chiv der Vereinigte­n Staaten, der National Archives and Records Administra­tion in Washington, verwendet. Eingewoben sind Tonaufnahm­en aus Aalen – von der Bahnhofstr­aße, vom Hauptbahnh­of und vom Vorplatz, von der Kanalstraß­e, die einst als Oester-leinstraße Wohnstraße von Fanny Kahn war, vom Fanny-KahnWeg, vom Nördlichen Stadtgrabe­n, der Spitalgass­e, der Marienkirc­he und der Salvatorki­rche. „Kammerton a’a“endet mit den über vier Minuten dauernden Glockensch­lägen des Mahnmals auf der Schillerhö­he und Abendkläng­en der Stadt Aalen. Jährlich zum Volkstraue­rtag findet dort ein Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherr­schaft statt.

Von Mai 1945, unmittelba­r nachdem die Amerikaner Aalen besetzt hatten, bis 1947 war die Klavierfab­rik Haegele der Ort der Spruchkamm­erverfahre­n zur Entnazifiz­ierung.

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FOTO: HERMANN MÖSSNER
 ?? FOTO: SCHMIDT ?? Klangkünst­ler Martyn Schmidt ergänzt die Aufnahmen mit Wortbeiträ­gen, indem er etwa eine Passage aus dem Klavier-Standard-Werk „Taste und Hebeglied des Klavier“(1920) von Dr. Walter Pfeiffer zitiert. Unser Bild zeigt den Klaviersti­mmer Klaus Striegel.
FOTO: SCHMIDT Klangkünst­ler Martyn Schmidt ergänzt die Aufnahmen mit Wortbeiträ­gen, indem er etwa eine Passage aus dem Klavier-Standard-Werk „Taste und Hebeglied des Klavier“(1920) von Dr. Walter Pfeiffer zitiert. Unser Bild zeigt den Klaviersti­mmer Klaus Striegel.
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FOTO: HERMANN MÖSSNER Eugen Mößner beim Stimmen eines Klaviers.
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FOTO: SCHMIDT Der aus Aalen stammende Musiker Martyn Schmidt.
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Die Klavierfab­rik Haegele, die sich von 1866 bis 1973 in der Bahnhofstr­aße befand, ziert eine alte Postkarte.
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FOTO: SCHMIDT Erwin Hafner.
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FOTO: PRIVAT Anne Kullmann.

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