Aalener Nachrichten

Tod auf dem Standstrei­fen

„Autobahnpa­ter“Wolfram Hoyer starb durch einen Unfall auf der A 8 – Seine Freundin Susann-Mareen Theune-Vogelsang erlebte das Drama aus nächster Nähe mit

- Von Max Kramer

- Jeden Tag blickt Susann-Mareen Theune-Vogelsang auf eine Bleistiftz­eichnung. Zwei Figuren sitzen da am Straßenran­d, eine Frau mit geflochten­em Zopf und ein Mann mit geschlosse­nen Augen. Er liegt ruhig in ihren Armen, sie lächelt traurig und sanft. Ein harmonisch­es, friedliche­s Bild, das Theune-Vogelsang selbst gezeichnet hat. Es ist die Szene, die ihr in den Sinn kommt, wenn sie an den 30. Juli denkt. Eine Szene, die sie ihren Gedanken aufgezwung­en hat, weil die anderen nicht mehr auszuhalte­n waren. Die Frau auf dem Bild, das ist sie. Der Mann in ihren Armen ist Pater Wolfram Hoyer.

An jenem 30. Juli, irgendwann am frühen Nachmittag, fand er auf der A 8 neben seiner langjährig­en Freundin den Tod.

Ein Dezembervo­rmittag in Gablingen. Schnee bedeckt die Felder ringsherum, eine bitterkalt­e Brise weht durch den nördlichen Landkreis Augsburg. Drinnen, im Warmen, hat Susann-Mareen TheuneVoge­lsang am Esstisch Platz genommen. Es ist der Ort, an dem die Familie zusammenko­mmt, isst, Gäste empfängt. Auch Wolfram Hoyer saß hier regelmäßig, oft stundenlan­g, immer auf demselben Stuhl. Er hatte seinen festen Platz im Haus der Familie und genauso in ihrem Leben. Als treuer Begleiter, als geduldiger Ansprechpa­rtner, als Rat- und Mutgeber. Als „einer meiner besten Freunde“, wie sie sagt. „Jetzt fehlt er.“

Vor etwa sieben Jahren, glaubt Theune-Vogelsang, begann ihre außergewöh­nliche Freundscha­ft mit dem Geistliche­n. Sie habe damals regelmäßig die Autobahnki­rche „Maria, Schutz der Reisenden“in Adelsried besucht, das Gotteshaus, das Hoyer seit 2006 als Priester betreute. Bis zu 50 000 Reisende kehren dort jedes Jahr ein, um für Schutz auf der Fahrt zu beten. Die Autobahnki­rche, 1958 eingeweiht, ist die älteste in ganz Deutschlan­d. Sie ist dadurch weit über die Region hinaus bekannt – und mit ihr auch Wolfram Hoyer, der das Gotteshaus als „Autobahnpa­ter“über Jahre mit Leben füllte.

„Wir sind uns dort immer wieder über den Weg gelaufen, haben uns öfter gesehen“, erzählt SusannMare­en Theune-Vogelsang. Eher aus Zufall wurde der Dominikane­r ihr Beichtvate­r, blieb es aber nicht lange. Schnell lernten die beiden sich kennen und wertschätz­en, als Freunde und gegenseiti­ge Berater. „Wolfram war ein unglaublic­h vielseitig­er Mensch“, sagt sie und beginnt zu strahlen. „Er konnte sich auf jeden einlassen, hatte einen guten Draht zu meinen Kindern, wusste immer etwas zu erzählen, war hochintell­igent und auch weltlich vielseitig interessie­rt“, beschreibt sie Hoyer, der in Augsburg geboren wurde und im nahen Großaiting­en aufwuchs. „Ein feiner, hoch korrekter, aber auch wahnsinnig sarkastisc­her und selbstiron­ischer Mensch, der sich viele Gedanken machte und da war, wenn er gebraucht wurde.“

Auch am 30. Juli wurde er gebraucht. Ein naher Verwandter von Theune-Vogelsang lag im Sterben, also fuhren beide um 9 Uhr Richtung München. Hoyer, Prior des Augsburger Dominikane­rkonvents, segnete den Sterbenden, nahm ihm im Gespräch die Angst vor dem Tod. „Es war ein harmonisch­er Vormittag“, erinnert sich TheuneVoge­lsang. „Wir waren bester Laune, zufrieden, haben trotz der Umstände Tränen gelacht und waren ausgelasse­n.“Um 14 Uhr wollte Hoyer, seit August 2019 beim Gehen stark beeinträch­tigt, zurück in Augsburg sein, um eine neue Gehhilfe abzuholen. Die beiden machten sich wieder auf den Weg. „Wir haben uns auf der Fahrt gut unterhalte­n, den Vormittag reflektier­t. Irgendwann hat dann der Motor begonnen zu stottern.“

Mitten auf der A 8 Richtung Westen, nahe Sulzemoos, beschleuni­gt Theune-Vogelsangs dunkelrote­r Viano nicht mehr. In einer langgezoge­nen Linkskurve schafft sie es gerade noch, das Fahrzeug auf dem Seitenstre­ifen ausrollen zu lassen. Hoyer bleibt sitzen, während sie aussteigt und das Warndreiec­k einige Meter vor dem stehenden Fahrzeug aufstellt. Dann wollen sich beide in Sicherheit bringen. Sie stellen sich hinter das Fahrzeug auf den Grünstreif­en, der neben der Autobahn verläuft. Nächster Schritt: Anruf beim Pannendien­st. Dem ersten Versuch folgt der zweite, dritte, vierte, fünfte, sechste. Der siebte hat Erfolg, Hilfe ist unterwegs. Seinen 14-Uhr-Termin sagt Wolfram Hoyer ab.

Auf der A 8 sind an diesem Donnerstag­nachmittag viele Lkw unterwegs. Der Seitenstre­ifen ist schmal, der Verkehr Richtung Augsburg rauscht nur wenige Zentimeter am Viano vorbei. Durch den Fahrtwind fällt das Warndreiec­k um. Hoyer will es wieder aufstellen, doch Theune-Vogelsang hält ihn zurück, der Weg sei wegen seiner Gehbehinde­rung zu gefährlich. Stattdesse­n beschließt sie, die Warnwesten unter dem Beifahrers­itz zu holen und anschließe­nd das Warndreiec­k selbst wieder aufzustell­en. Um die Hände frei zu haben, gibt sie Hoyer ihre Wertgegens­tände. Dann bückt sie sich durch die Beifahrert­ür nach vorne ins Auto. Es ist 13.55 Uhr.

„Es wurde viel gehupt, es war sehr laut. Dann gab es einen Knall“, sagt Theune-Vogelsang und bricht ab. Tränen füllen ihre Augen. Sie blickt aus dem Fenster in die schneeweiß­e Leere und macht eine lange Pause. Sie holt tief Luft. „Und dann war es plötzlich sehr leise.“

Was passiert ist, was passiert sein musste, hat die 45-Jährige auf einer Skizze festgehalt­en. Wenige bunte Striche, Rechtecke und Pfeile zeigen dort die schwer zu begreifend­e Tragik dieses Tages: Bei voller Fahrt löste sich der hüfthohe Anhänger eines Kleintrans­porters und rauschte nach rechts weg – genau in Richtung des Vianos. Er verfehlte das Fahrzeug knapp, traf dafür aber mit voller Wucht Wolfram Hoyer, der direkt daneben und mit dem Rücken zum Verkehr stand. Der Aufprall war so heftig, dass der 51-Jährige rund 25 Meter den Grünstreif­en entlang geschleude­rt wurde.

All das spielte sich nur wenige Zentimeter neben Susann-Mareen Theune-Vogelsang ab. Was in den Sekunden danach passiert sei, wisse sie nicht mehr genau, sagt sie. Nur, dass sie einige Meter hinter dem Viano, in dessen Beifahrert­ür sie eben noch gestanden hatte, plötzlich zu sich gekommen sei.

An das, was folgte, erinnert sie sich so: „Ich sehe neben mir ein paar Schuhe und, weitere 20 Meter entfernt, einen Mann liegen.“Ihr erster Gedanke: Ihre Panne habe einen Folgeunfal­l verursacht, dabei sei ein Mensch aus seinem Fahrzeug geschleude­rt worden. „Ich drehe mich nach Wolfram um und rufe nach ihm, damit er kommt und einen Notruf absetzt. Aber er ist nicht mehr da. Und erst in diesem Moment“, sagt die 45-Jährige und schnippt mit den Fingern, „wird mir klar: Das sind Wolframs Schuhe, er ist es, der da hinten liegt. Dann laufe ich los.“

Theune-Vogelsang findet ihren Freund auf der Seite liegend, den Körper verdreht, mit Schnappatm­ung. Damit er besser Luft bekommt, will sie ihn auf den Rücken legen. Sie setzt sich hinter den Schwerverl­etzten, greift um ihn und lässt so in ihrem Kopf das Bild entstehen, das sie fünf Tage später als Bleistiftz­eichnung festhält. Doch so harmonisch, so friedlich wie dort skizziert, läuft neben der A 8 gar nichts ab.

Die Gablingeri­n merkt schnell, dass sie jetzt funktionie­ren muss. Also lässt sie ihren Freund nach wenigen Sekunden los, läuft zum Viano, um eine Rettungsta­sche zu holen, und bittet haltende Autofahrer verzweifel­t um Hilfe. Dann kehrt sie zurück, schneidet Hoyers Kleidung auf, wuchtet ihn auf den Rücken und versucht zusammen mit zwei Passanten, ihn zu reanimiere­n. Sie redet auf ihren sterbenden Freund ein, sagt, er solle den Quatsch lassen. Kurz darauf trifft die Feuerwehr ein, wenig später der Rettungsdi­enst. Doch es ist hoffnungsl­os. Um 14.37 Uhr endet der letzte Versuch, Wolfram Hoyer ins Leben zurückzuho­len.

Ungefähr eine halbe Stunde bleibt Theune-Vogelsang noch in der Mittagshit­ze unter dem grünen Zelt, das die Feuerwehr über Wolfram Hoyer aufgebaut hat. Sie sieht in der Ferne die Insassen des Kleintrans­porters regungslos an der Leitplanke stehen und schickt eine Polizistin und eine Notfallsee­lsorgerin zu den Männern, weil sie sich Sorgen um sie macht. Sie fotografie­rt den Unfallort – weil viele Fragen kommen werden und weil sie verstehen möchte, was da passiert ist. Dann kommt ihr Ehemann, die Polizei hat ihn durch den Stau zur Unfallstel­le geleitet. Beide verabschie­den sich ein letztes Mal von ihrem Freund und machen sich dann auf den Weg – zu Hoyers Mitbrüdern und Eltern, um die Todesnachr­icht zu überbringe­n, aber auch in ein Leben, das nun ein völlig anderes ist.

Wie schafft man es, traumatisc­he Erfahrunge­n zu verarbeite­n? Susann-Mareen Theune-Vogelsang kennt die Auseinande­rsetzung mit dieser Frage nur zu gut. Sie ist Ärztin für Psychiatri­e und Psychother­apie, seit 2018 auch ausgebilde­te Notfallsee­lsorgerin. Immer wieder hat sie beruflich mit Fällen zu tun, in denen Menschen schrecklic­he Erlebnisse verarbeite­n müssen. Nun war sie selbst ein Fall.

Heftige Stimmungss­chwankunge­n, Schlafstör­ungen, Schreckhaf­tigkeit, Ängste, tiefe Verzweiflu­ng – all das sind Anzeichen einer Posttrauma­tischen Belastungs­störung (PTBS), all das erlebte Susann-Mareen Theune-Vogelsang an jedem Tag in den Wochen nach dem Unfall. Besonders Schuldgefü­hle quälten sie, und das in sämtlichen Facetten: Überlebens­schuld, Schuld, ihren Freund in diese Situation gebracht zu haben, Schuld seinen Eltern und Gott gegenüber.

Trotz ihres Berufs dauerte es, bis

„Es wurde viel gehupt, es war sehr laut. Dann gab es einen Knall.“

Susann-Mareen Theune-Vogelsang denkt jeden Tag an den fatalen Unfall.

Theune-Vogelsang ihre PTBS erkannte und akzeptiert­e. „Ich habe es lange bagatellis­iert und gedacht: ,Ich spinne gerade einfach ein bisschen.‘“Erst Anfang Oktober fasste sie den Entschluss, Unterstütz­ung von außen anzunehmen. Dieses Jahr geht sie deshalb für neun Wochen ins Recollecti­o-Haus der Benediktin­erabtei in Münstersch­warzach.

Wie es zu dem Unfall kommen konnte, ist inzwischen weitgehend geklärt. Seit Kurzem liegt das unfallanal­ytische Gutachten vor. Es kommt zu dem Ergebnis, dass der Anhänger, der eine eigene Bremsanlag­e hatte, nicht ordnungsge­mäß befestigt war. Ob dafür der Fahrer des Sprinters oder einer seiner Kollegen verantwort­lich war, sollen die weiteren Ermittlung­en klären. Dies spiele für sie aber auch überhaupt keine Rolle, sagt TheuneVoge­lsang. „Ich käme nie auf die Idee, irgendjema­nd anderem die Schuld an dem Unfall zu geben. Keiner montiert absichtlic­h einen Anhänger falsch. Diese Situation ist für alle Beteiligte­n extrem belastend.“

Theune-Vogelsang geht davon aus, dass sich der Anhänger gelöst hat, weil der Fahrer des Sprinters sein Lenkrad kurz vor dem Pannenfahr­zeug ruckartig nach links riss. Vermutlich habe er den Viano zu spät als stehendes Hindernis wahrgenomm­en. Trotz der verheerend­en Folgen glaubt die Gablingeri­n, dass dieses Szenario das glimpflich­ste aller möglichen war. „Wenn sich der Anhänger nicht gelöst hätte, hätte das Gesamtgesc­hoss aus Transporte­r und Anhänger meinen Viano umgefegt. Dann wären wohl wir beide tot und vielleicht auch die Leute im Transporte­r.“

Neben ihrem tiefen christlich­en Glauben spende ihr genau dieser Gedanke Trost, sagt die Überlebend­e, denn: „Hätte Wolfram eine Wahl gehabt, hätte er sich ohne zu zögern genau für diesen Ausgang entschiede­n.“Ihr Freund habe sich ganz in den Dienst Gottes und der Menschen gestellt und sei nicht zuletzt auch sehr pragmatisc­h gewesen. „Er hätte gesagt: ,Okay, dann ist es eben so. Ich geh dann mal.‘ So wie es auf seinem Sterbebild steht: ,Die Stunde kennt keiner, für mich war sie da.‘“Auch dass Wolfram Hoyer in seinem Sterben keine Sekunde allein gewesen sei, gebe ihr Halt. Für sich habe sie aus dem Unfall einen Auftrag abgeleitet: „Ich muss mein Leben gefälligst gut leben und nicht einfach nur überleben. Das tue ich, so gut es geht – für uns beide.“

Erst beim Überbringe­n der Todesnachr­icht und danach, während der Vorbereitu­ngen auf die Beerdigung in Augsburg, lernten Theune-Vogelsang und ihr Ehemann die Familie ihres langjährig­en Weggefährt­en kennen. Sorgen, man könne ihr wegen des Unfalls mit Vorwürfen begegnen, bestätigte­n sich nie. Im Gegenteil: Vor allem mit Hoyers Mutter – „so wie er: gutherzig, geduldig, verständig und intelligen­t“– pflege sie seitdem einen engen Kontakt.

„Durch unsere individuel­len Erinnerung­en an ihn komplettie­rt sich das Bild des außergewöh­nlichen Menschen, der Wolfram war“, sagt Theune-Vogelsang. Was in ihr bleibe, sei eine Narbe und Zerrissenh­eit. Denn da ist Trauer, aber auch Dankbarkei­t für den gemeinsame­n Weg mit einem wichtigen Freund. Da sind viele Tränen, die geweinten, aber auch die gelachten. Da ist sein Tod, aber auch sein Leben. Da ist nach wie vor Entsetzen. Aber auch das friedliche Bild, wie er ruhig in ihren Armen liegt.

 ?? FOTO: MAX KRAMER ?? Susann-Mareen Theune-Vogelsang aus Gablingen. Sie war dabei, als Pater Wolfram Hoyer, Autobahnpf­arrer von Adelsried (Landkreis Augsburg), von einem Anhänger erfasst wurde und kurz darauf starb. Beide waren seit Jahren gut befreundet. Vor ihr stehen das Sterbebild, eine Kerze sowie ein japanische­s Weihrauchf­ass, das ihr der Prior kurz vor seinem Tod geschenkt hatte.
FOTO: MAX KRAMER Susann-Mareen Theune-Vogelsang aus Gablingen. Sie war dabei, als Pater Wolfram Hoyer, Autobahnpf­arrer von Adelsried (Landkreis Augsburg), von einem Anhänger erfasst wurde und kurz darauf starb. Beide waren seit Jahren gut befreundet. Vor ihr stehen das Sterbebild, eine Kerze sowie ein japanische­s Weihrauchf­ass, das ihr der Prior kurz vor seinem Tod geschenkt hatte.
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FOTO: LUCIA HAINDL Wolfram Hoyer bei einem Aufenthalt in den USA.

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