Aalener Nachrichten

Keine Hoffnung für den kranken Sohn

Eine Mutter aus Georgien sucht mit ihren Kindern in Deutschlan­d Hilfe – Über Nacht werden sie jedoch abgeschobe­n

- Von Dirk Grupe

„Herz und Härte“– unter diesen Leitspruch hat Landesinne­nminister Thomas Strobl Baden-Württember­gs Abschiebep­olitik gestellt. Immer wieder kollidiere­n jedoch Menschlich­keit und die Buchstaben des Gesetzes. Zwei Beispiele.

Wenn Ilona Khotchava über jene Nacht zum 2. Dezember 2020 spricht, muss sie um jedes ihrer Worte ringen. Dann sind über das Telefon ihr schwerer Atem zu hören und eine brüchige Stimme. Die von Tränen und Verzweiflu­ng einer Mutter zeugen, deren Glaube an eine Zukunft langsam erlischt. „Ich weiß nicht, wie ich mit dieser Situation leben soll“, sagt die 31Jährige.

Ihr Trauma begann in jener Nacht Anfang Dezember, als Beamte sie unangekünd­igt in ihrer Wohnung in Markdorf aufsuchten, um die sofortige Abschiebun­g nach Georgien zu vollziehen: die der Mutter, der elfjährige­n Tochter Gvantsa und des achtjährig­en Sohnes Gega, der an tuberöser Sklerose leidet. Einer seltenen Erbkrankhe­it, die Fehlbildun­gen und Tumore, kognitive Behinderun­gen und epileptisc­he Anfälle verursacht. „Wir hatten nur wenig Zeit, unsere Sachen zu packen“, erzählt Khotchava. Das

Handy wurde ihr abgenommen, ein Arzt stieß noch dazu, der den Jungen untersucht­e und Medikament­e mitgab. Wenig später saßen die drei in einem Flugzeug nach Tiflis.

Dass Abschiebun­gen unangekünd­igt und über Nacht, in Hektik und für die Betroffene­n nur schwer zu ertragen, verlaufen, liegt in der Natur dieses Procederes, das keiner Seite behagt. Was Ilona Khotchava aber in Depression und Finsternis stieß, ist darüber hinaus etwas anderes: Zum Zeitpunkt der Abschiebun­g hatten die deutschen Sozialbehö­rden Therapien und eine Operation für den schwerkran­ken Gega bereits genehmigt. Dazu wird es nun nicht mehr kommen. Und der Junge womöglich an seinem Leiden sterben.

Entspreche­nd groß ist der Schock nicht nur bei der Mutter, sondern auch in ihrem Umfeld in Deutschlan­d. „Es ist unfassbar, dass eine Frau mit einem so schwerstkr­anken Jungen abgeschobe­n wird“, sagt Doris Heine vom Arbeitskre­is Asyl in Ravensburg und Weingarten, die sich der Familie annimmt. „Frau Khotchava ist eine junge Mutter, die verantwort­ungsvoll und ohne Wenn und Aber zu ihrem Sohn steht“, berichtet Heine. Auch die Schwester unterstütz­e ihren Bruder und die Mutter. „Ein sehr guter Zusammenha­lt“, sagt Heine. „In Georgien erlebt sie nun das Gegenteil.“

Khotchava lebt in einem Dorf in Westgeorgi­en auf dem Hof ihres Mannes und der Schwiegere­ltern. Der alkoholsüc­htige Vater ihrer Kinder sei andere Beziehunge­n eingegange­n, der Schwiegerv­ater reagiere feindselig. „Das Umfeld ist beengt, arm und gewalttäti­g“, sagt Heine, die betont: „Ich weiß, man kann nicht die ganze Welt retten. Aber aus humanitäre­n Gründen sollte man den dreien einen Aufenthalt in Deutschlan­d ermögliche­n.“Vor allem wegen des Jungen. „Er musste viel Leid ertragen in seinem Leben. Aufgrund der Abschiebun­g wird ihm unsäglich mehr Leid auferlegt.“

Ilona Khotchava war mit Gega bereits früher in Deutschlan­d, 2014 wurde ihrem Sohn in Freiburg ein Stirnlappe­n entfernt, danach kehrte sie nach Georgien zurück. 2019 reiste sie mit Tochter und Sohn erneut nach Süddeutsch­land und stellte einen Asylantrag. Dieser wurde Ende Februar 2020 abgelehnt, weil Georgien als sicheres Herkunftsl­and gilt und weil dort, so laut Anwältin die Begründung des Verwaltung­sgerichts Karlsruhe, eine medizinisc­he Grundverso­rgung gegeben sei. Seither lebte das Trio im Status der Duldung und mühte sich um ein lebenswert­es Leben. Tochter Gvantsa durfte in Markdorf eine Regelschul­e besuchen, Gega erhielt in Friedrichs­hafen einen Platz in der Schule am See der KBZO-Stiftung, samt Förderung und Versorgung. Das tat dem Jungen gut. Vor allem aber: Nach einer ersten Ablehnung genehmigte die Sozialbehö­rde die dringende und lebenserha­ltende Operation für den Achtjährig­en sowie weitere Spezialthe­rapien. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

Ilona Khotchava, die nach Georgien abgeschobe­n wurde

Dass die Behandlung durch die Abschiebun­g verhindert wurde, entsetzt auch die Verantwort­lichen an der KBZO-Schule am See. Man sei „erschütter­t und traurig“, heißt es in einem Schreiben der Schulleitu­ng, dies seien „unmenschli­che Methoden“. Und auch die Beauftragt­e für Belange von Menschen mit Behinderun­gen am Landratsam­t Bodenseekr­eis erklärt in einem Brief an Doris Heine: „Wir stimmen absolut mit Ihnen überein, dass die Abschiebun­g der Familie nach Georgien in der geschilder­ten Situation eine besondere Härte darstellt und eigentlich hätte vermieden werden müssen.“Wieso aber wurde sie dann vollzogen?

Fest steht, dass die Entscheidu­ng beim Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (BAMF) liegt, das Regierungs­präsidium in Karlsruhe führt aus, die Ausländerb­ehörde im Landratsam­t erhält eine Mitteilung. „Offenbar sind Informatio­nen auf der Strecke geblieben und man wollte vollendete Tatsachen schaffen“, sagt Anwältin Christina Schmauch, die Khotchava vertritt. Schmauch sieht aber auch ein juristisch­es Versäumnis. Die Behörden hätten vor einer Abschiebun­g die Entscheidu­ng über eine mögliche Berufung abwarten müssen. „Deshalb hoffe ich, dass die Familie zurück nach Deutschlan­d darf.“

Bodenseekr­eis-Landrat Lothar Wölfle sieht dafür allerdings keine Grundlage. Der CDUPolitik­er geht in einem Schreiben an den Asylkreis aus Gründen des Persönlich­keitsschut­zes zwar nicht im Detail auf die Familie ein, stellt jedoch fest: „Über eines sollten wir aber nicht diskutiere­n müssen, nämlich dass Behörden und Gerichte geltendes Recht anwenden. Gott sei Dank!“Alles andere wäre in einem funktionie­renden Rechtsstaa­t Willkür. Und in dem geschilder­ten Fall könne er „nicht erkennen, dass etwas nicht korrekt gelaufen wäre“.

Ob korrekt oder nicht, ungewöhnli­ch ist der Vorgang auf alle Fälle nicht, meint Sebastian Ludwig, Referent für Flüchtling­sarbeit und Asylpoliti­k beim Bundesverb­and der Diakonie in Berlin. „Das ist ein humanitär tragischer Fall“, sagt Ludwig der „Schwäbisch­en Zeitung“, „aber diese Situatione­n gibt es oft.“Grundsätzl­ich ließe sich eine Abschiebun­g aus medizinisc­hen Gründen zwar verhindern, die Hürden dafür seien aber sehr hoch. „Es gibt sehr viele Länder, in denen die Menschen nicht die medizinisc­he Versorgung erhalten, die sie hier bekommen könnten“, sagt Ludwig. „Da ist es nachvollzi­ehbar, wenn die Politik eine Grenze zieht.“Weil wir nicht die ganze Welt retten können?

„Nun, es kommt ja nicht die ganze Welt zu uns“, schränkt der Experte ein. „Die Frage ist, ob wir als viertgrößt­e Wirtschaft­snation jenen Leuten, die dann zu uns kommen und dringende Hilfe benötigen, nicht auch helfen können. Aus Sicht der Diakonie sollte in einem solchen Fall die Not im Vordergrun­d stehen und geholfen werden.“Bei Ilona Khotchava wurde diese Frage seitens der Behörden jedoch mit Nein beantworte­t.

„Mir wurde alle Hoffnung genommen“, sagt die Mutter am Telefon. Als Gega kürzlich einen epileptisc­hen Anfall erlitt, musste sie 40 Minuten auf den Krankenwag­en warten. Der Schwiegerv­ater sagt, das Kind sei eine Schande und müsse weg. Aber wohin?

„Mir wurde alle Hoffnung genommen.“

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FOTO: PR Ilona Khotchava mit Tochter Gvantsa und Sohn Gega.

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