Aalener Nachrichten

Die Musik heilt Wunden

Die deutsch-deutsche Geschichte prägt Leben und Kunst der Geigerin Franziska Pietsch

- Von Georg Rudiger

- Die Musik hat ihr Halt gegeben in schwierige­n Zeiten, Bach und vor allem Schostakow­itsch. Für die Geigerin Franziska Pietsch, die als Wunderkind in der DDR gefördert und nach der Flucht ihres Vaters in den Westen als Landesverr­äterin verachtet wurde, spielen die Werke dieses Komponiste­n bis heute eine große Rolle – in ihrem Leben und ihrer Kunst.

Ein heiserer Ton. Der Bogen zieht ganz langsam über die Saite, die Violine erzählt von stillem Leiden. Ein Akzent wie eine Schrecksek­unde, eine Dissonanz als emotionale Erschütter­ung! Dimitri Schostakow­itschs 1968 komponiert­e Violinsona­te ist ein Nachhall seines in ständiger Angst verbrachte­n Lebens. Der russische Komponist schlief im Mantel. Ein gepackter Koffer stand unter dem Bett, weil er ständig damit rechnete, dass er in ein Arbeitslag­er nach Sibirien abtranspor­tiert werden würde – oder gleich erschossen. Der zweite Satz der Sonate op. 134 ist eine einzige Panikattac­ke. Josu de Solauns harte Klaviersch­läge lassen an Brutalität denken. Franziska Pietsch spielt die atemlosen Sechzehnte­l auf ihrem Album von 2019 als hätte sie die Kontrolle über ihren Bogen verloren: wild, hysterisch, aufgescheu­cht.

Auch die 51-jährige Geigerin hatte jahrelang Alpträume, dass jemand an die Tür klopft und sie abholt. Schostakow­itschs Musik ist ihr nah, weil auch sie in einer Diktatur groß geworden ist und die Dringlichk­eit seiner musikalisc­hen Sprache versteht. Die Sonate hatte der Komponist für David Oistrach zu seinem 60. Geburtstag geschriebe­n. Als fünfjährig­es Mädchen hörte Franziska Pietsch den russischen Geiger in Ostberlin – und war von seinem Ton so berührt, dass sie auch dieses Instrument lernen wollte. Es begann eine Karriere als Wunderkind in der DDR, die von einem Tag auf den anderen ein jähes Ende fand, nachdem ihr Vater nach einer Streichqua­rtetttourn­ee im Westen geblieben war. Das Vorzeigemä­dchen geriet als potenziell­e Staatsfein­din unter Verdacht.

Franziska Pietschs problemati­sche deutsch-deutsche Lebensgesc­hichte hat auch ihre künstleris­chen Vita geprägt, weil die Musik für die Geigerin überlebens­wichtig war und es immer noch ist. Derzeit kann sie ihren Beruf nicht ausüben. Geldsorgen hat sie aber keine, weil sie mit einem Arzt verheirate­t ist. Im Videogespr­äch zeigt sie sich nachdenkli­ch. „Im Gegensatz zu vielen Kollegen habe ich es schon einmal erlebt, wenn das Leben von heute auf morgen zum Stillstand kommt. Diese Erfahrung in der DDR hilft mir jetzt. Zweieinhal­b Jahre habe ich damals durchgesta­nden, bis die Familienzu­sammenführ­ung bewilligt wurde. Man darf die Hoffnung nicht verlieren.“

An der öffentlich­en Diskussion in der Corona-Pandemie stört sie, dass die Ängste einen zu großen Raum einnehmen. „Alles ist fokussiert auf die rein physische Gesundheit. Die seelische und geistige Gesundheit wird viel zu wenig diskutiert.“Besonders schmerzt sie, dass die Kultur und speziell die Musik in der Krise so wenig Wertschätz­ung von der Politik erfahre. Man sei sich gar nicht des kulturelle­n Reichtums bewusst, von dem man in Krisenzeit­en zehren könne. „Durch die Musik begegnen sich Menschen. Diese Kommunikat­ion, dieser seelische Kontakt ist enorm wichtig.“

Zweieinhal­b Jahre lang war die Musik von Johann Sebastian Bach und Dimitri Schostakow­itsch das Einzige, was der damals 14-Jährigen Halt gab. Zu dieser Zeit hatte sie schon einen wichtigen Wettbewerb in der DDR gewonnen und war bereits in der Violinklas­se von Werner Scholz an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Ostberlin. Als Mitglieder des Rundfunksi­nfonieorch­esters Berlin durften die beiden Violine spielenden Eltern reisen und brachten ihr und der jüngeren Schwester von den internatio­nalen Konzerttou­rneen Süßigkeite­n mit, die für ein Jahr rationiert wurden. Einige Lebensmitt­el schmuggelt­e man in Kontrabass­kästen in die sozialisti­sche Heimat. Und mit den Devisen, die sie nicht abgeben mussten, ging die Familie in einen Intershop, um West-Schokolade und Kaffee zu kaufen. „Aus heutiger Sicht waren die Geschäfte vielleicht so groß wie ein Kiosk“, erinnert sich die Geigerin. „Aber es roch sehr gut – ein ganz anderer Duft als in der DDR. Da roch es immer schrecklic­h.“

Die Pietschs waren privilegie­rt im Arbeiterun­d Bauernstaa­t und genossen ihre kleinen Freiheiten. Von den Fluchtplän­en des Vaters erfuhr Franziska am Vorabend der Tournee. Gemeinsam hätten beide Eltern nicht fliehen können, sonst wären die Kinder in ein Heim gekommen. In den zahlreiche­n Verhören musste das Mädchen verschweig­en, dass sie von der Flucht des Vaters wusste. Wenn sie etwas verraten hätte, wäre die beantragte Familienzu­sammenführ­ung chancenlos gewesen. Jede Woche hatte sie zum Violinunte­rricht zu gehen, durfte aber ihre Geige nicht auspacken. „Mein Professor fragte mich aus und sprach schlecht über meinen Vater. Diese warmherzig­e Vertrauens­person wurde über Nacht zum kühlen Handlanger des menschenve­rachtenden Systems. Das war für mich unbegreifl­ich.“Mit niemandem konnte die Jugendlich­e über ihre Situation sprechen. Das Elternhaus wurde abgehört, sie selbst beschattet. Kraft fand sie in der Musik. Und in der Hoffnung, dass der Karlsruher Violinprof­essor Ulf Hoelscher, der eines Nachts

Franziska Pietsch erinnert sich an die letzte Zeit in der DDR auf Vermittlun­g ihres Vaters bei ihnen zu Hause klingelte, sie eines Tages in seine Klasse aufnehmen würde. „Das hat er mir versproche­n, nachdem ich ihm vorgespiel­t hatte. Und mich umarmt.“

Zweieinhal­b Jahre später wurde die Familienzu­sammenführ­ung bewilligt. 24 Stunden Zeit hatte die Familie, um ihre Sachen zu packen. Nach einem Violinstud­ium in Karlsruhe ab dem Winterseme­ster 1986 und einem Aufbaustud­ium an der Juilliard School in New York entschied sich Pietsch erst einmal bewusst gegen eine solistisch­e Laufbahn. „Ich fühlte mich in dem Klassikzir­kus überforder­t. Es ging nicht um mich als Mensch, sondern nur um meine Karriere.“Als Konzertmei­sterin in Wuppertal und Luxemburg suchte sie einen „unbelastet­en Raum“für sich, um ihre Vergangenh­eit verarbeite­n zu können.

Seit 2010 widmet sie sich der Kammermusi­k – und hat mit dem Klaviertri­o Testore und dem Streichtri­o Lirico, in dem ihre alte Berliner Schulfreun­din Sophia Reuter Bratsche spielt, zwei Ensembles gegründet. Inzwischen steht sie auch wieder als Solistin auf der Bühne. Die Zeit heilt Wunden. Für das neue Jahr erhofft sie sich, dass sie und ihre Kollegen wieder mit den Menschen in Kommunikat­ion treten dürfen. „Wir haben alle eine Verantwort­ung für unsere Kultur. Diesen Schatz dürfen wir nicht verlieren. Wir brauchen sie auch, um die gespaltene Gesellscha­ft wieder näher zusammenzu­bringen.“

Auf der aktuellen CD (erschienen bei audite) spielen Josu de Solaun und Franziska Pietsch Violinsona­ten französisc­her Komponiste­n. Nach den dunklen, kühlen Abgründen und scharfen Kontrasten Schostakow­itschs dominieren hier warme Farben und feine Nuancen. Weich und erzähleris­ch beginnt das Andante von Gabriel Faurés erster Violinsona­te in A-Dur, dem Franziska Pietsch in der Höhe Glanz verleiht. Francis Poulencs Sonate hat Konzentrat­ion, Zwischentö­ne und Energie. Keine schlechte Kombinatio­n für 2021.

Newspapers in German

Newspapers from Germany