„Waldläufer“legt Geständnis ab
Tausende Polizeibeamte jagten im vergangenen Sommer den bewaffneten Yves R. – Dem „Waldläufer von Oppenau“drohen 15 Jahre Haft
(dpa) - Im Prozess um seine spektakuläre Flucht mit gestohlenen Polizeiwaffen im Schwarzwald hat der als „Waldläufer von Oppenau“bekannt gewordene Mann ein Geständnis abgelegt. Er habe vier Polizisten entwaffnet und sei mit deren Waffen geflohen, heißt es im Statement, das Yves R. am Freitag zum Prozessauftakt in Offenburg verlesen ließ. Er habe nie vorgehabt, jemanden zu verletzen. Ihn habe die Angst getrieben, verhaftet zu werden. Der 32-Jährige ist wegen Geiselnahme und Körperverletzung angeklagt. Allein wegen Geiselnahme drohen ihm 15 Jahre Haft.
- Sie nannten ihn „Schwarzwald-Rambo“. „Waldläufer von Oppenau.“„Robin Hood, der die Polizei vorführt“. Aber der Mann, den mehrere schwer bewaffnete Justizbeamte am Freitagmorgen in die zum Gerichtssaal umfunktionierte ehemalige Reithalle im Offenburger Kulturforum führen, wirkt weder wie ein Actionheld noch wie ein Waldläufer oder gar ein Rächer der Armen.
In seinem blauen Sweatshirt, regelkonform die Corona-Maske tragend, macht Yves R. inmitten der Verteidiger, Staatsanwälte, Richter und Journalisten einen verlorenen Eindruck. Der unscheinbare, heute 32-Jährige mit der markanten Glatze und dem unter der Maske zum Zopf gebundenen Ziegenbärtchen ist der Mann, der im vergangenen Sommer zunächst vier Polizisten entwaffnete, dann floh und nach spektakulärer Fahndung erst fünf Tage später festgenommen wurde.
Die Vorwürfe gegen ihn wiegen schwer: Geiselnahme und gefährliche Körperverletzung. Ihm drohen allein wegen des Vorwurfes der Geiselnahme bis zu 15 Jahre Haft. Seine Flucht hatte Polizei und Öffentlichkeit tagelang in Atem gehalten. Am Freitag, zum Auftakt des Prozesses vor dem Landgericht Offenburg, verlesen seine Anwälte ein Geständnis, in dem er die Tat zugibt. Er habe aber nie vorgehabt, mit den Waffen jemanden zu verletzen. Ihn habe die Angst getrieben, verhaftet zu werden: „Ich bin ein freiheitsliebender Mensch“, lässt der Angeklagte erklären.
Es ist das Bild eines suchenden und sensiblen jungen Mannes, das Rechtsanwalt Yorck Fratzky von dem neben ihm sitzenden R. zeichnet. Vor Gericht stellt R. sich als ein vom Leben Enttäuschter dar, als „Outdoorfreak“, der in der Natur sein Glück gesucht habe. An seine Kindheit und Jugend in Oppenau habe er wenige Erinnerungen, heißt es in seinem von den Anwälten verlesenen Statement. Seine Eltern lebten getrennt. Mit etwa 20 Jahren sei er nach Pforzheim gezogen, um dort Goldschmied zu lernen. Doch er sei nach einer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung für dreieinhalb Jahre im Gefängnis gelandet, bis 2013.
Schon vorher war R. kein unbeschriebenes Blatt. Siebenmal sei er verurteilt worden, erklärt ein Sprecher der Offenburger Staatsanwaltschaft. Daneben trat er mit verschiedenen Waffendelikten in Erscheinung. Außerdem wurde er laut Staatsanwaltschaft als Jugendlicher unter anderem wegen Volksverhetzung verurteilt. Er habe mit 15 Jahren das Schild eines Jugendwerks durch Entfernen und Hinzufügen von Buchstaben so verändert, dass die Aufschrift die Worte „Juden weg“enthielt.
Die Arbeit als Tischler, die er im Gefängnis gelernt und als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte, habe ihm keine Freude bereitet. Als er entlassen wird, arbeitet er in Schreinereien, jedoch nie lange. Die industrielle Fertigung langweilt ihn. Ein Freund verschafft ihm einen Job bei der Bahn. 2015 oder 2016 habe dann seine Lebensgefährtin ihr gemeinsames Kind gegen seinen Willen abgetrieben. Er sei in eine Krise gestürzt, habe Medikamente genommen, Wohnung und Job verloren. Daraufhin habe er beschlossen, durch Deutschland zu wandern. „Ich wollte mir so von der Natur helfen lassen“, lässt er seine Anwälte verlesen. Im Frühling 2020 beginnt er eine Art Probelauf für seine große Tour – in den Wäldern um Oppenau.
Er kauft für mehrere Tausend Euro professionelles Outdoorzubehör und legt ein Basislager im Wald an, in dem er auch wochenlang übernachtet. Was er seine Anwälte beschreiben lässt, klingt nach wilder Idylle: Aus Ästen und Reisig baut er sich ein Bett. Als Nahrung dienen ihm unter anderem Nüsse, Beeren, Blätter und Brennnesseln. „Ich wollte von der Konsumnahrung wegkommen“, sagt er. Ein Kaninchen namens Freddy und ein Eichhörnchen namens Harald leben mit ihm zusammen. Auch Pfeil und Bogen, Messer sowie Schreckschusswaffen hat er dabei, um im Notfall auch Tiere zu jagen. Und Trinkwasser gewinnt er mit einem Filter. Irgendwann sucht er nach einem Zwischenlager für seine Ausrüstung und zieht für ein paar Nächte in eine scheinbar ungenutzte, zugewucherte Gartenhütte.
Zu eben dieser Gartenhütte bei Oppenau werden am 12. Juli 2020, einem schönen Sommersonntag, vier Polizeibeamte gerufen. Der Besitzer hat dort einen Mann entdeckt: auf der Eckbank schlafend, umgeben von Waffen.
Der Routineeinsatz eskaliert, am Ende steht der größte Polizeieinsatz in Baden-Württemberg der vergangenen Jahre: Bei der Überprüfung bedroht R. die vier Beamten. Dass es sich bei seinen Waffen nur um echt aussehende Schreckschusspistolen handelt, können sie nicht wissen. R. entwaffnet die Ordnungshüter und flieht mit ihren Pistolen in den Wald.
Der Vorwurf der Bedrohung sei nur teilweise richtig, gibt R. in seiner Einlassung zu, er habe die Eskalation nicht gewollt. Aber die Überprüfung sei außer Kontrolle geraten, auch weil einer der vier Beamten herablassend und provozierend aufgetreten sei. „Der Tonfall war meines Erachtens völlig unangemessen“, lässt der Angeklagte verkünden. Als dieser Beamte ihn habe abtasten wollen, habe er den Eindruck gewonnen, dass er verhaftet werden sollte. Daraufhin habe er „reflexartig“seine Schreckschusswaffe gezogen und diese auf den Beamten gerichtet: „Eine hatte ich in einem Beinholster mit Pfeffer gegen wilde Tiere, die andere für akustische und optische Signale in einer Notlage.“Dass alle vier Beamten daraufhin ihre Waffen abgaben und sich entfernten, habe ihn selbst überrascht, gibt R. an. Schon in diesem Moment habe er sich gefragt: „Was machst du da?“
Er habe Angst gehabt, die Polizisten würden mit Maschinenpistolen aus ihren Fahrzeugen zurückkehren und auf ihn schießen. „In der Situation konnte ich nicht klar denken.“Er habe die Dienstpistolen in die Seitentaschen seiner Hose gestopft und sei in Richtung eines Grillplatzes gerannt. Dabei habe er den Dorfpolizisten getroffen und sich mit ihm unterhalten. R. äußert sich verwundert, dass dieser Vorfall bisher in den Akten nicht aufgetaucht sei. R. gelingt die Flucht in den Schwarzwald.
Die Polizei nimmt Tat und Täter ernst. Sehr ernst. Um 12.48 Uhr beginnt die Jagd auf R. Mehrere Streifenbesatzungen fahnden anfangs nach dem bewaffneten Mann. Die Polizei warnt die Menschen im Ort und rundherum, sich dringend nach Hause zu begeben. Es sei unklar, welche Gefahr von dem Bewaffneten ausgeht.“Wenig später durchkämmt ein Großaufgebot die Umgebung mit Hubschraubern, Spürhunden und Spezialkräften.
„Gar keine Gefahr geht von dem Yves aus“: In Oppenau befragen noch an jenem Hochsommerabend Journalisten die Einheimischen. Der Tenor zu Yves R.: „Ein ganz lieber Kerl, kein Pädophiler, wie ihm jetzt unterstellt wird, vor allem kein Schwarzwald-Rambo!“
In Oppenau rätselt Bürgermeister Uwe Gaiser auch ein halbes Jahr später über R.s Persönlichkeit. Eine auffällige Person sei R. mit seinem langen, schwarzen Mantel und seiner Glatze auf jeden Fall gewesen – zumal im kleinen Oppenau, erzählt Gaiser. In der Stadt hätten die Leute ganz unterschiedliche Meinungen über R. gehabt. Die einen hätten sich schon vor seiner Flucht vor ihm gefürchtet, erzählt Gaiser. „Und dann gab es die anderen, die gesagt haben: ‚Der ist harmlos.‘“
Vor allem in den sozialen Medien hätten sich viele Unterstützer auf R.s Seite geschlagen – und Drohungen an ihn als Bürgermeister geschickt, etwa für den Fall, dass dem Flüchtigen etwas passiere. Diese Drohungen habe er fast beängstigender gefunden als R. „Ich hoffe, dass es ein faires, gerechtes Urteil mit einem gewissen Augenmaß gibt.“
Ein Oppenauer Wirt beschreibt R. als ambivalente Persönlichkeit. Er habe den heute 32-Jährigen vor etwa acht Jahren in einer Kneipe kennengelernt, erzählt der Mann. Für Werkzeug und Waffen habe er sich begeistert, sei häufig mit einem Beil herumgelaufen. Über seine frühere Haftstrafe habe er offen gesprochen. Er sei ein hervorragender Handwerker, habe ihm einst sogar bei Renovierungsarbeiten geholfen. Später habe sich herausgestellt, das R. ihn bestohlen habe, sagt der Wirt – das sei ein großer Vertrauensbruch gewesen. Er sei jedoch frei von Rachegefühlen: „Ich finde, wenn jemand mit Anfang 30 sein Leben so an die Wand gefahren hat, dann braucht der Hilfe.“
Doch an jenem Sonntag ist R. zunächst wie vom Erdboden verschluckt. Der Schwarzwald ist seine Heimat. Hier tragen die Orte sprechende Namen wie „Zuflucht“oder „Notschrei“. Es gibt Kneipen, die „Zum Schwarzbrenner“einladen. Hier bieten Wander- und Skihütten, Viehställe, alte Bunker, Höhlen und leer stehende Gebäude idealen Unterschlupf für einen Mann, der das Outdoor-Leben nicht nur aus dem Lifestyle-Katalog kennt. Die folgenden fünf Tage verbringt R. mit schlechter Ausstattung im Wald. Sein Schlafsack sei nicht wasserdicht gewesen, berichtet er am Freitag. Einen Filter für sauberes Wasser habe er in der Hütte zurückgelassen. Im Wald bewegt er sich vorwiegend nachts fort, isst Buchenblätter und trinkt Bachwasser, wie er später einem Polizisten sagen sollte, der in Offenburg als Zeuge geladen ist. Die Dimension der Suchaktion sei ihm nicht ganz bewusst gewesen.
Derweil treffen Spezialkräfte und Suchhunde in Oppenau ein und durchkämmen wieder und wieder die Umgebung. Das Sportlerheim wird zum Einsatz- und Lagezentrum umgestaltet. Hubschrauber mit Wärmebildkameras kreisen über dem Schwarzwaldstädtchen, das von steilen Hängen und dichten Wäldern umgeben ist. Zeitweise 2500 Beamte suchen nach Yves R.
Doch in der Stadt, in der Schulen und Kindergärten schließen und die Polizei eine mobile Wache aufbaut, wird nach einigen Tagen Unmut laut. „Die Polizei ist doch nur deshalb so aktiv, weil ein einziger Mann vier Polizisten entwaffnet hat und dann abgehauen ist, der tut doch niemandem etwas!“Michael Klett, Inhaber eines Schreibwarengeschäfts in der Ortsmitte, kennt R. und fasst am Freitag nach der Flucht im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“zusammen: „Da ist ein armer Irrer unterwegs, der durchgedreht ist, und die Polizei tut so, als würde sich in unserem Wald eine Horde Taliban auf den nächsten Terroranschlag vorbereiten.“Im „Café an der Ecke“verteidigt die Verkäuferin den damals 31-Jährigen. Ihren Namen will sie nicht in der Zeitung lesen, aber bei Facebook hat sie einen Fanclub mitgegründet, der zu Hochzeiten 2780 Mitglieder zählt. Da wird das SEK als „Pitbulltruppe“bezeichnet. R. dagegen wird mit Robin Hood verglichen. R. im Panzer, als Filmheld, als Talkmaster oder als Inhaber einer fiktiven Ladenkette „Yves R.“: Offensichtlich finden die User Gefallen daran, R. zum Helden zu stilisieren.
An diesem Freitag stellt die Polizei die Taktik von Konfrontation auf Kommunikation um und bittet R. um Kontaktaufnahme über Freunde und Bekannte: „Herr R.“, sagt der Polizeichef, „nehmen Sie Kontakt mit uns auf! Das ist ein Weg für alle, da gesund herauszukommen.“Zwar hat R. weder Radio noch Handy dabei, doch sieht auch der heute Angeklagte ein: „Es ist zu Ende.“Nach einiger Zeit sei er ausgehungert und dehydriert gewesen, verlesen die Anwälte. Er habe sich schließlich einem Postboten nahe Oppenau gezeigt. „Ich wollte einfach nur, dass es aufhört.“
In einem Gebüsch nahe der Ortschaft Ramsbach, ein paar Kilometer nur von Opppenau entfernt, wird er wenig später von Polizisten und dem Mantrailer-Hund Milow umstellt. Ein Video von seiner Festnahme, das der Vorsitzende Richter Wolfgang Kronthaler vorspielt, zeigt dramatische Szenen: Zwar vermittelt der Film ein unberechenbares Verhalten seitens des Mannes, der bei seiner Festnahme mit vier Polizeipistolen und einer Axt bewaffnet ist. Aber er wirkt nicht aggressiv gegenüber den Beamten – eher stur. Im Dickicht an einem Wegabhang ist eine dunkle Gestalt zu sehen, der sich schwer bewaffnete Polizisten nähern. „Du kommst raus, und wir gehen hier alle glücklich raus“, rufen die Beamten. „Glücklich ist jetzt eine Frage der Definition“, antwortet Yves R. Die SEK-Beamten versuchen es erneut: „Yves, komm raus jetzt!“, und „Wenn du eine falsche Bewegung machst, schießen wir!“
R. lässt verlesen, er habe sich fast gewünscht, dass er erschossen würde, weil er auf keinen Fall ins Gefängnis wollte. Aufgeben sei für ihn nicht infrage gekommen. Ein Polizist sagt als Zeuge aus, Yves R. habe gerufen: „Ein Germane stirbt mit der Waffe in der Hand.“Eine Elektroschockpistole, ein Taser, wird auf ihn abgefeuert. R. verletzt daraufhin mit der Axt einen Beamten am Fuß. Dass er den SEKBeamten verletzt habe, tue ihm leid, lässt R. verlesen. Der Beamte ist nach Aussage eines als Zeuge geladenen Polizisten immer noch dienstunfähig.
Kurz darauf wird R. überwältigt und sitzt seither in U-Haft. Eine verminderte Schuldfähigkeit konnte ein Sachverständiger vor Prozessbeginn bei ihm nicht feststellen.
Das Gericht wird in sechs Verhandlungstagen die Frage zu klären haben, ob R. ein gefährlicher Waffennarr oder ein etwas wirrer Außenseiter ist, der die Straftaten im Affekt beging und sich zumindest zeitweise wünschte, erschossen zu werden. Ein Abschiedsbrief an seine Mutter deutet darauf hin, auch in seiner Erklärung spricht er von seinem Todeswunsch.
Der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Kai Stoffregen, erklärte am Rande der Verhandlung, es komme beim Strafmaß für den Angeklagten darauf an, ob das Gericht die Entwaffnung und Bedrohung der Beamten auch als Geiselnahme des Beamten einstufe. Dann drohen R. bis zu 15 Jahre Haft.
Bleibt es bei einer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung, so sieht das Strafgesetzbuch eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vor. Das Urteil könnte am 19. Februar fallen.