Eine Frau für 30 Euro
Prostitution ist kein Großstadt-Phänomen.
„Alle paar Monate werden die Frauen in andere Städte gebracht“, sagt Marietta Hageney.
„Wir beobachten schon lange, auch vor Corona, den Trend zur Verlagerung in die Wohnungen und Hotels“, sagt Marietta Hageney.
„Wir brauchen ein Umdenken in den Köpfen der Menschen“, sagt Marietta Hageney.
- Amira aus Aalen bietet ihre Dienstleistungen online in „Lack, Leder oder Highheels, im Hotel, im Auto und im Büro“an. Priyaa, den Angaben nach 18 Jahre alt, möchte ihr „Taschengeld“durch sexuelle Dienstleisungen aufbessern. Jenna aus Lauchheim kann man für 150 Euro die Stunde buchen, eine 49-jährige Ellwangerin bietet zahlungswilligen Herren Besuche bei sich zu Hause an. In Aalen und Heidenheim gibt es jeweils ein Bordell, in Schwäbisch Gmünd verkaufen Frauen ihre Körper in Wohnungsbordellen. Prostitution ist also kein Großstadt-Phänomen.
Wie viele Frauen und Männer im Ostalbkreis tatsächlich als Prostituierte tätig sind, ist unklar. Die Dunkelziffer ist sehr hoch, wie
Susanne Dietterle, Pressesprecherin des Ostalbkreises, auf Nachfrage mitteilt. Seit 2017 bietet der Ostalbkreis Beratungen gemäß des Prostituierten-Schutzgesetzes an. Im ersten Jahr waren es acht, im Jahr 2018 wurden 27, 2019 17 und 2020 sieben Beratungen beim Landratsamt durchgeführt. Tatsächlich wisse man aber nicht, wer sich nach der Beratung wie lange im Kreis aufhalte, so Dietterle. Somit gibt es keine offiziellen Angaben über die Anzahl der Prostituierten im Kreis.
Seit 2018 gibt es im Kreis das Ostalb-Bündnis gegen Menschenhandel und (Zwangs-) Prostitution. Dabei sind unter anderem der Landkreis, die Kreisstädte Aalen, Ellwangen und Schwäbisch Gmünd, die Clubs der Soroptimistinnen der Kreisstädte, Solwodi BadenWürttemberg und das Kloster der Franziskanerinnen in Schwäbisch Gmünd.
Marietta Hageney leitet die Geschäftsstelle in Aalen und ist gleichzeitig Beratungsstellenleiterin der Menschenrechts- und Hilfsorganisation Solwodi. Sie erklärt, wie Frauen in der Prostitution landen und wie Corona die Missstände im Milieu einmal mehr deutlich macht.
Wer sind die Frauen, die in Deutschland als Prostituierte arbeiten?
Etwa 90 Prozent stammen aus dem Ausland. Anfang der 90er Jahre war eine ausländische Prostituierte in Deutschland noch die Ausnahme. In Nischenbetrieben wie SMStudios oder Luxusapartments findet man noch einen hohen Anteil deutscher, selbstständig organisierter Frauen. Die Masse, also Frauen, die in Großbordellen oder der Straßenprostitution arbeiten, stammen aus vornehmlich Süd- und Südosteuropa.
Wie kommen diese Frauen nach Deutschland?
Einer der Gründe ist sicher die Armut, aber vor allem ist es die Perspektivlosigkeit in den Heimatländern. Der Großteil der jungen Mädchen steht nach der Schule ohne Ausbildung oder Arbeit da. Weiterführende Schulen gibt es auf dem Land kaum, in den Städten sind diese ein beliebter „Rekrutierungsplatz“für Prostituierte, weil die Mädchen vom Land in die Stadt kommen, dort zur Schule gehen und den Traum von einem guten Leben haben. Sogenannte Loverboys suchen gezielt nach diesen jungen Frauen, machen sie emotional abhängig und versprechen ihnen einen tollen Job in Deutschland oder irgendwo in Westeuropa. Manchmal sagen sie ihnen auch, dass sie anfangs ein paar Monate in der Prostitution arbeiten müssten – auch das wird von einigen akzeptiert, ist es doch für eine vermeintlich tolle gemeinsame Zukunft.
Und trotzdem kommen die Frauen mit?
Leider ja. Viele denken sich, es könne ja nicht so schlimm sein, wenn das in Deutschland legal ist. In vielen osteuropäischen Ländern ist Prostitution nämlich verboten und unter Strafe gestellt. Auch dass sie bis zu 15 Freier am Tag mit widerwärtigsten Praktiken bedienen müssen, das können sie sich zunächst überhaupt nicht vorstellen.
Wie geht es dann weiter?
In Deutschland angekommen, brauchen die Frauen eine Wohnung. Zumindest auf dem Papier. Die Realität sieht meist so aus, dass die Frauen im Bordell wohnen. Das ist nach dem Prostituiertenschutzgesetz von 2017 aber verboten. Für 200 Euro kann man sich problemlos eine Meldeadresse kaufen. Auch so etwas, was die Corona-Krise uns deutlich vor Augen führt – warum landen die Frauen auf der Straße, warum haben sie keine Wohnung, wie vom Gesetz gefordert?
Das Prinzip der Bordellprostitution ist ein rollierendes System. Alle paar Monate werden die Frauen in andere Städte gebracht, die Szene braucht ständig ,Frischfleisch’, ein Ausdruck, der in Freierforen Standard ist.
Außen vor sind die Bordellbetreiber. Die vermieten offziell nur die Zimmer, die Frauen arbeiten auf selbstständiger Basis.
Das heißt, die Frauen müsssen für ihr Zimmer im Bordell bezahlen?
Ja, das sind je nach Stadt und Region etwa 130 Euro am Tag, also etwa 3500 Euro im Monat. In Stuttgart sind es sogar 160 Euro und mehr pro Tag. Von ihrem Lohn schicken die Frauen dann noch einen Teil an die Familien im Heimatland. Hinzu kommen noch Kosten für Transport, Wäscheservice, Hygieneartikel, Pizzaservice und natürlich 25 Euro Steuern pro Tag für den deutschen Staat. Da bleibt nicht mehr viel übrig.
Wegen der aktuell geltenden Corona-Bestimmungen sind die Bordelle im Moment geschlossen. Heißt das, dass es im Moment keine Prostitution gibt?
Die Bordelle sind geschlossen, dort findet wohl kein Betrieb statt. Schaut man sich aber einschlägige Angebote im Internet an, erkennt man, dass Treffen auch im Privaten angeboten werden. Somit kann man davon ausgehen, dass trotz der Beschränkungen in irgendeiner Form Prostitution stattfindet. Wir beobachten schon lange, auch vor Corona, den Trend zur Verlagerung in die Wohnungen und Hotels.
Wie sind hier die Strafen?
Ein Beispiel vom vergangenen April in Hamburg zeigt, der Freier zahlt 150 Euro, weil er gegen die Hygieneregeln verstoßen und das Abstandsgebot
nicht eingehalten hat, und die Frau zahlt 5000 Euro, weil sie gegen das Prostitutionsverbot verstoßen hat. Dieses Strafmaß ist durchaus üblich. Und auch hier muss der Tatsache ins Auge gesehen werden, dass es wohl ziemlich unwahrscheinlich ist, dass eine Frau sich während einer Pandemie frei und selbstbestimmt auf Sexkauf einlässt. Die Frauen sind in einer Notlage, sie riskieren viel, und der Freier, der das System aufrecht erhält, kommt relativ ungeschoren davon.
Von kaum einer Prostituierten hört man, dass sie gezwungen wird. Warum ist das so?
Sind die Frauen einmal im System der Prostitution, wird enormer Druck aufgebaut. Drohungen werden ausgesprochen wie zum Beispiel, der Familie im Heimatland zu schaden oder sie, die Frau, zu outen. Wie schon gesagt, ist Prostitution in den osteuropäischen Ländern verboten und Prostituierte werden geächtet. Meistens wissen die Familien nicht, womit die Frauen das Geld verdienen – vielleicht ahnen sie es. Zum anderen sind viele der osteuropäischen Frauen in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der das Individuum nichts zählt oder die eigene Ethnie sie der Prostitution zuführt. Da heißt es, du hast jetzt den Auftrag anzuschaffen, also machst du das. Sie kommen gar nicht auf die Idee auszusteigen, weil keine Alternativen angeboten werden.
Wie geht es den Frauen?
Sie sind körperlich und psychisch am Ende. Viele haben Unterleibsprobleme. Sie stehen 15 Stunden am Tag auf Highheels und haben bis zu zehnmal am Tag einen 100-Kilo-Mann auf sich. Noch schlimmer als die körperlichen Schäden sind die psychischen. Wissenschaftliche Studien haben nachgewiesen, dass Prostituierte ähnliche posttraumatische Belastungsstörungen wie zum Beispiel Vietnam-Veteranen haben. Sind die Frauen dann im Ausstieg, haben sie oft Panikattacken, werden getriggert, wenn sie beispielsweise im Alltag auf Situationen oder Freier treffen, die sie aus der Zeit der Prostitution kennen.
Wie kommen Sie und ihre Kolleginnen in Kontakt mit den Frauen, die beispielsweise im Bordell in Aalen arbeiten?
Über die aufsuchende Arbeit, oder die Frauen geben untereinander unsere Kontaktdaten weiter. Es dauert natürlich oft sehr lange, bis die Frauen Vertrauen gefasst haben und sich uns gegenüber öffnen. Auch geben die Beraterinnen beim Landratsamt ein Kärtchen von uns mit.
Gab es in der Vergangenheit nie Probleme mit Bordellbesitzern oder Zuhältern?
Nein, wir schaden der Arbeit nicht – wir sprechen mit den Frauen, hören ihnen zu und helfen bei medizinischen oder behördlichen Problemen. Steigt dann mal eine Frau wirklich aus, dann wird der Platz, den sie freimacht, gleich wieder mit einer Neuen belegt. Der Nachschub kommt zuverlässig. Das klingt zynisch, entspricht aber der Realität. Zudem kommen zu uns keine 25Jährigen, die aussteigen wollen. Bei den älteren Frauen ab 30, die mit 17Jährigen konkurrieren, sind Zuhälter meist froh, wenn man ihnen diese abnimmt.
Was muss sich ändern?
Zunächst einmal die Gesetzgebung und damit die Haltung einer Gesellschaft zum Thema Sexkauf. Wir brauchen ein Umdenken in den Köpfen der Menschen. Es kann nicht sein, dass junge Männer mit dem Bewusstsein aufwachsen, sich für 30 Euro eine Frau kaufen zu können, um mit ihr machen zu können, was man will. Das Ganze ist auch eine Sache von Angebot und damit Nachfrage – die nordischen Länder zeigen uns, dass es funktioniert: Gesetze schaffen Kultur.
Wer die Arbeit von Solwodi unterstützen möchte, kann spenden: SOLWODI Baden-Württemberg e.V., Kreissparkasse Ostalb, IBAN: DE45 6145 0050 1001 0218 12, BIC: OASPDE6AXXX