Nun hat Sieger Kretschmann die Wahl
Grüne haben nach Rekordergebnis mehrere Koalitionsmöglichkeiten – CDU nach „desaströsem Ergebnis“auf historischem Tief
STUTTGART/RAVENSBURG – Die Landtagswahl in Baden-Württemberg ist zum Triumph für Winfried Kretschmann geworden. Angeführt vom beliebten Regierungschef erzielten die Grünen im Südwesten nach Hochrechnungen ein Rekordergebnis von 32,7 Prozent. Sie legten damit um 2,4 Prozent zu. „Ich freue mich über das Vertrauen“, sagte der sichtlich angefasste 72-Jährige am Sonntagabend in Stuttgart. Für die CDU wurde der Wahlabend zu einer großen Enttäuschung, die 23,8 Prozent (-3,2 Prozent) bedeuteten das schlechteste Resultat in der Historie der Südwest-Christdemokraten. Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann sprach von einem „enttäuschenden und desaströsen Ergebnis“. Und weiter: „Wenn man als CDU ein solches Ergebnis bekommt, muss jemand Verantwortung übernehmen. Das tue ich. Ich strebe keine führende Rolle in der Partei an.“
Wahlsieger Kretschmann hat nun die Wahl, mit wem er eine Regierungskoalition, die bereits dritte als Südwest-Regierungschef, bildet – erneut mit der CDU (wie zuletzt), wieder mit der SPD (wie von 2011 bis 2016) oder in einer Ampel gemeinsam mit SPD (11,2/-1,5) und FDP (10,4/+2,1). Vor allem die Liberalen zeigten sich mit ihrem Ergebnis hochzufrieden. Beide landeten noch vor der vormals dritten Kraft im Land, der AfD. Die Rechtspopulisten mussten mit 9,8 Prozent (-5,3) deutliche Verluste hinnehmen.
Kretschmann bedankte sich zunächst bei seinen Wählern, wandte sich aber auch besonders an jene, die ihn nicht gewählt hatten. Er verspreche, auch ihre Interessen im Auge zu behalten. Ausweichend äußerte er sich mit Blick auf mögliche Koalitionen, stellte jedoch klar, zunächst mit der CDU sprechen zu wollen. Eine Qual sei es nicht, mehrere Optionen zu haben. Er verstehe das Ergebnis klar als „Auftrag, unserem Land weiter als Ministerpräsident zu dienen – den nehme ich mit großer Dankbarkeit und Demut an“. Die Regierungsbildung sei „erst mal eine spannende Angelegenheit“. Im Gegensatz zu Kretschmann wollen viele Grüne ein Ende des Bündnisses mit den Christdemokraten. Aus Berlin meldete sich etwa die Ravensburger Bundestagsabgeordnete Agnieszka Brugger mit diesem Wunsch. „Die Ernüchterung über die CDU als Koalitionspartner ist in Teilen der Partei groß.“
Susanne Eisenmann, im aktuellen Kabinett von Kretschmann Kultusministerin, ließ ihre persönliche Zukunft offen. „Es ist klar, dass sich etwas verändern muss.“Es könne nach zehn Jahren sinkender Zustimmung so nicht weitergehen. Landeschef Thomas Strobl, derzeit Südwest-Innenminister, hatte zuvor in einer Sitzung des CDU-Präsidiums das Mandat bekommen, mit den Grünen zu verhandeln. „Es gibt keine Wechselstimmung im Land“, betonte er. Es sei auch angesichts der Corona-Krise gut, wenn es schnell eine stabile Regierung gebe. „Der Ball liegt aber bei den Grünen“, so Strobl, der unter dem Druck seiner Partei zugunsten von Eisenmann auf die Spitzenkandidatur verzichtet hatte.
FDP-Spitzenkandidat Hans-Ulrich Rülke betonte, seine Liberalen seien mit „dem besten Ergebnis seit den 60er-Jahren“der wahre Wahlsieger. „Unser Anspruch, in BadenWürttemberg mitzuregieren, wurde von der Bevölkerung honoriert.“Mit Bezug auf die Grünen sagte Rülke. „Ich hoffe, dass wir uns auf eine konstruktive Zusammenarbeit verständigen können.“SPD-Spitzenkandidat Andreas Stoch wirkte trotz des schlechtesten Resultats in der Geschichte der Südwest-Genossen nicht unzufrieden. Das Abschneiden der CDU zeige, dass die Wähler keine Fortsetzung von Grün-Schwarz wollten. Bernd Gögel, Spitzenkandidat der AfD, räumte ein, dass seine Fraktion „in der abgelaufenen Legislatur auch Fehler gemacht hat“. Dennoch sei er trotz der Verluste zufrieden. Während der Corona-Pandemie würden sich die Wähler „eher hinter den Regierenden“versammeln. Die CDU sei hierbei die Ausnahme, „aber deren Performance war auch alles andere als gut“, sagte Gögel.
- Winfried Kretschmann ist Superlative gewohnt. Vor zehn Jahren hat er Geschichte geschrieben, als er in einer grün-roten Koalition Deutschlands erster grüner Regierungschef wurde. Fünf Jahre später erreichte er Historisches, indem er die CDU bei den Landtagswahlen auf den zweiten Platz verwies und mit seinen Grünen stärkste Kraft wurde. Vielleicht liegt es an dieser Gewohnheit, dass er wenig euphorisch auf das beste Ergebnis reagiert, das seine Grünen am Sonntag in ihrer Geschichte erreicht haben: laut Hochrechnungen zum Redaktionsschluss mehr als 32 Prozent. Mit wem er in der 17. Legislaturperiode regieren möchte, kann sich der 72-Jährige aussuchen – alle anderen Parteien, außer der AfD, umwerben die Grünen seit Monaten recht unverhohlen. Ginge es nach ihm, würde es wohl bei Grün-Schwarz bleiben. Doch auch wenn das hervorragende Ergebnis für die Grünen ein Kretschmann-Ergebnis ist: Entscheiden kann er das nicht allein.
Alles ist anders an diesem Tag: Keine Grünen-Wahlparty mit Hunderten
Anhängern in der Staatsgalerie wie vor fünf Jahren. Wer zum zentralen Ort des Geschehens in den Stuttgarter Landtag möchte, ist dringend angehalten, zuvor einen Corona-Schnelltest zu machen. Kurz vor 18 Uhr gibt es dann doch diverse Cluster-Bildungen, nämlich vor den Aufenthaltsräumen der verschiedenen Fraktionen. Kameramänner und Fotografen drängen sich vor dem Raum der Grünen, wo sich führende Köpfe der Partei versammeln – mit Maske, aber ohne Abstände. Jeder will Reaktionen zu den ersten Hochrechnungen einfangen. Es bestätigt sich, was Umfragen zuvor prognostiziert hatten: Die Grünen werden erneut stärkste Kraft und landen nochmal deutlicher vor dem bisherigen Regierungspartner CDU. Allerdings liegen die ersten Zahlen nicht wie vorhergesagt bei 34 oder gar 35 Prozent.
Sozialminister Manfred Lucha stört das wenig. „Wir sind deutlich stärkste Fraktion“, sagt er. „Es ist ein Zugewinn und dadurch eine Bestätigung.“Immer wieder stand der Ravensburger Abgeordnete in den vergangenen Monaten in der Kritik, schließlich ist er als Gesundheitsminister
für die Mega-Fragen der Stunde zuständig: Testen und Impfen. Nicht immer lief und läuft hier alles rund. „Alle Gesundheitsminister stehen derzeit im Fokus“, sagt Lucha, „weil wir Aufgaben haben, die nicht so einfach sind.“
Statt sich wie vor fünf Jahren wie ein Popstar beim Einzug in eine Halle feiern zu lassen, tritt Kretschmann eine gute halbe Stunde nach den ersten Hochrechnungen vor die Kameras. Seine erste Ansprache gilt den Grünen-Mitgliedern, an die er sich per Facebook und Youtube richtet. „Baden-Württemberg und Grüne, Grüne und Baden-Württemberg: Das passt zusammen“, sagt er. Die Zustimmungswerte betrachte er als Auftrag, weiter als Ministerpräsident diesem Land zu dienen. „Diesen Auftrag nehme ich gerne an.“Leicht werde es nicht werden, sagt Kretschmann und spricht die für ihn drängendsten Themen an: Klimakrise, Transformation der Wirtschaft, Verteidigung der liberalen Demokratie. „Da braucht es mehr als Gesetze und Verordnungen“, es brauche die Mithilfe der Bürger in jedem dieser Punkte. Und dann sagt Kretschmann einen Satz, der vor allem den bisherigen Koalitionspartner aufhorchen lassen dürfte: „Wir brauchen eine verlässliche und stabile Regierung.“
Die CDU ist bei den Landtagswahlen auf ein historisches Tief abgestürzt. Ein Kenner aus dem Umfeld von CDU-Landeschef Thomas Strobl hatte das jüngst so ausgedrückt: „Früher hieß es immer, die CDU könnte einen Wassereimer aufstellen und der würde gewählt. Heute kann man einen grünen Besenstil aufstellen und es gilt dasselbe.“Der Strohhalm, an den sich die Partei klammert: weiter mit den Grünen regieren. Verlässlich und stabil – so habe man doch die vergangenen fünf Jahre mit den Grünen das Land gelenkt. Und überhaupt braucht der Südwesten doch in solchen Krisenzeiten eine Regierung, die von einer größtmöglichen Mehrheit der Bürger getragen werde. Das schaffe nur eine Neuauflage der Kiwi-Koalition. Dass der konservative Kretschmann dies ähnlich sieht, ist mehr als ein offenes Geheimnis.
SPD und FDP möchten das gerne verhindern – entweder gemeinsam in einer Ampelkoalition. Mit etwas Glück könnte es auch knapp für eine Neuauflage einer grün-roten Regierung
reichen, wie sie zwischen 2011 und 2016 Baden-Württemberg regierte. Sollte dies der Fall sein, wird Kretschmann kaum an GrünSchwarz festhalten können. Festlegen wollte sich Kretschmann am Sonntagabend noch nicht. „Ich werde diese Woche allen Parteien des demokratischen Verfassungsbogens Gespräche anbieten.“Um dabei gerecht vorzugehen – und wohl um keine Mutmaßungen über Vorlieben aufkommen zu lassen –, werde er mit den Parteien in der Reihenfolge ihrer Wahlergebnisse sprechen.
Klar ist: Die Grünen sitzen diesmal am ganz langen Hebel. Vor fünf Jahren hatte FDP-Spitzenkandidat und Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke seine Liberalen kurz nach der Wahl aus dem Koalitionspoker gezogen. Grün-Schwarz war dadurch praktisch alternativlos. Diesmal lässt Rülke keinen Zweifel am Willen zur Macht. SPD-Spitzenkandidat und Fraktionschef Andreas Stoch tut es ihm gleich. Dass die Union viele Kröten schlucken würde, um weiter regieren zu dürfen statt mit der AfD die Oppositionsbank zu drücken, sagt ohnehin jeder CDUler an diesem Abend im Landtag.
Die Wahl zu haben sei keine Qual, betont Kretschmann und grinst verschmitzt. Als er vor 40 Jahren die Grünen im Land mitgründete, hätte er sich diese Machtposition wohl in seinen wildesten Träumen nicht ausmalen können. „Das ist erstmal eine spannende Angelegenheit“, sagt er nun und spricht von einem „produktiven Ausgangsverhältnis“. Nun gelte es auszuloten, mit welchem Partner die nächsten Krisen am besten gemeistert werden können – „denn wir kommen in die nächste Krise: in die Klimakrise.“Ausgerechnet bei diesem Thema sei die CDU der Bremsklotz gewesen, hatte Grünen-Landeschefin Sandra Detzer jüngst gesagt. Und auch Sarah Heim, Vorsitzende der Grünen Jugend im Südwesten, hat eine klare Meinung: „Es darf auf keinen Fall weitergehen mit der CDU“, betont sie im Gespräch. Ob Klimaschutz, institutioneller Rechtsextremismus oder soziales Miteinander: Mit der CDU sei bei keinem dieser Themen etwas zu bewegen.
Ob das den Regierungschef beeindruckt, sei dahingestellt. Er weiß, wem die Grünen dieses phänomenale Ergebnis zu verdanken haben: ihm.