Martin Walser
Morgen wird er 94, heute erscheint sein neues Buch
Je vollkommener eine Dichtung ist, desto weniger verweist sie auf den Dichter.“Der markante Satz stammt von Martin Walser. Es ist ein früher, ja sehr früher Walser: der erste Satz seiner Doktorarbeit, die er 1952 in Tübingen über Franz Kafka geschrieben hat. Walser preist programmatisch Kafka als einen Autor, bei dem „der Rückgriff auf das Biografische“für das Textverständnis überflüssig ist. Martin Walsers jüngstes Buch, das nun zu seinem 94. Geburtstag am Mittwoch erscheint, ist gar nicht zu lesen, ohne dass man dabei beständig an ihn denkt.
Zumal er von sich selbst spricht. Oft zurückblickend: „Ich steh mit dem Rücken zur Gegenwart.“Und so serviert der Rowohlt-Verlag das schmale Buch mit einem ehrfürchtigen Klappentext als bibliophil gestaltete Sammlung letzter Worte – mit dem „Hauptmotiv, dass es bald enden könnte“.
Das Buch ist also keine durchgestaltete Komposition, auch kein konzipierter Gedichtband, sondern enthält, wie der Titel sagt, „Sprachlaub“, gesammelte Blätter. Oder um noch einmal den Duktus des feierlichen Klappentexts zu zitieren: „Augenblickspoesien“. Den inneren Zusammenhang schafft das großzügige Layout, für das Tochter Alissa die jahreszeitlich getönten Aquarelle beisteuert.
Die Texte zeigen – wie schon die vorangehenden, jüngeren Werke Walsers – einen Trend zum Aphorismus: „Ich bin ein Schiff, ich strande ununterbrochen. Es ist mein Lieblingskurs.“Dieses Selbstverständnis als trotzig-alemannischer Widerspruchsgeist bekommt in diesem Band weiche Züge, Walser wägt sogar für seine Widersacher die Anrede „liebe Feinde“ab. Alte Konfliktlinien werden nicht mehr aufgebrochen. Der See stimmt mild, von der Sonne bleibt ein rostroter Streifen über dem Bodanrück. Was vorherrscht, ist Einfachheit, spätes Gartenglück und Vogelweisheit. Die Amsel spricht: „Nichts ist nämlich, was es zu sein scheint.“Und „wem, wenn nicht der Amsel, darf ich glauben“, fragt der Dichter. Im Garten, wo „Freund Salbei“und „Freundin Melisse“gedeihen und Katz und Hund ein „Gespräch gewähren“, betätigt sich der
Autor als Friedensstifter: „Ich beerdige eine Amsel, scheuche den Tod ins Gebüsch. Es war eine Amselin. Der schwarze Witwer steht neben mir, wie dankbar. Hier ruhen die Waffen.“
„An meinen Tod zu denken“, schreibt Walser, „dazu komme ich nicht mehr“. Das Alter traktiert ihn mit Schmerzen im Kreuz, er spricht ohne Beschönigung darüber. „Zuerst zieht man sich Krankheiten zu, dann zieht man Ärzte hinzu, dann schickt man die Ärzte wieder weg, um mit den Krankheiten allein zu sein.“Wenn sich der tägliche Lebensvollzug sperriger und widerspenstiger gestaltet, wird sogar, wie man liest, die Diarrhö zum Freund.
Ebenso wie das Biografische – oder zumindest das scheinbar Biografische – durchzieht die Textauswahl auch Walsers strikte Trennung von Selbstverständnis und öffentlicher Rolle. Die Amsel-Philosophie, dass nichts ist, wie es scheint, prägt auch Walsers Vorstellung einer offenen, ja brüchigen Identität. Sie wird manchmal als Pointe serviert: „Ich würde selbst auf dem Sterbebett eher erröten als erblassen.“Und manchmal als Rätsel: „Ich bin – nein noch nicht – eher nie als schon bald.“Oder der Dichter erklärt sich zum Fragment seiner selbst. Da steht er gewiss mit dem Rücken zu einer Gegenwart, deren öffentlicher Diskurs gerade eine Konjunktur von Identitäten und Identitären erlebt.
Derlei muss dem schlicht erscheinen, der Sinn hat für die Sinnlichkeit und Eigensinnigkeit von Sprache und die Eigendynamik des Sprechens vorführt. Walser weiß, dass er sich „von Reimen treiben“lässt. „Schreiben und Leben fielen bei mir fast von Anfang an zusammen.“Auch seinem spätherbstlichen Sprachlaub ist die Lust an der Sprache eingeschrieben: „Das Leben schleppt sich feierlich von Wort zu Wort.“