Sommerfrischler vom anderen Stern
Wegen Corona müssen alle zu Hause bleiben – Zeit sich zu erinnern, wie das alles anfing mit den Touristen im Allgäu und der Eroberung der Fremde
Wer derzeit vom Reisen redet, beklagt meist, was alles jetzt nicht geht, oder beschwört, welch wunderbare Chancen sich bald wieder auftun. Dabei ist die Zeit des Stillstands auch eine Chance, sich zu erinnern. Irgendwo auf dem Dachboden müssen sie noch zu finden sein, die Postkarten an die Eltern vom ersten Besuch in Paris, das Reisetagebuch von damals, mit den eingeklebten Metro-Fahrscheinen und der sündhaft teuren Rechnung vom ersten Bistrobesuch in Montmartre.
Warum sich dann nicht einmal in Ruhe hinsetzen bei einem Glas Wein und Erinnerungspuzzlestücke aus dem großen Gedächtnisspeicher zusammentragen? Wann war eigentlich diese erste Tramptour ins Elsaß? Wie viele Bahnhöfe hat man bei den verrückten Interrailfahrten zwischen Rom bis Oslo wohl abgeklappert? Und gibt es die Treibholzstücke noch irgendwo, die wir beim Angelurlaub auf den Lofoten aufgelesen haben?
Man grübelt, man hilft sich auf die Sprünge, man lächelt und schüttelt den Kopf: Nein, dieser bemalte Seesack, mit dem man Griechenland unsicher machte. Ach, und die großartigen Tage in Malaga im Sommer 72. War vor deiner Zeit, hab nie mehr etwas gehört von der tollen Frau aus Remscheid – müsste längst Großmutter sein, irgendwo. Weiter, immer weiter geht es zurück, bis zu den ersten Klassenfahrten und noch weiter, zurück in jene Tage, als man selbst nicht viel mehr kannte als das eigene Dorf und die vier anderen rundherum – und man zum ersten Mal erfuhr, was das ist, ein Tourist. „Die Fremden“hießen sie damals und waren irgendwann Anfang der 1960erJahre auf dem Bauernhof meiner Tante im Allgäu angereist. „Sommerfrischler“nannte man sie auch. Werner und Hotte waren große, blasse, leicht dickliche Männer, Marion hatte schwarz gefärbte Haare und Jutta die Lippen angemalt, auch unter der Woche. Alle rauchten, die Männer Ernte 23, die Frauen Peter Stuyvesant, oft schon am Vormittag.
Die Männer halfen beim Heuen und saßen schwitzend in weißen Unterhemden bei der Brotzeit. Sie mochten keinen Presssack, aber beim Emmentaler griffen sie zu und schmierten sich dick Johannisbeermarmelade darauf, wie sie es bei meinem Onkel gesehen hatten. Vom Most aus dem Keller, den wir Kinder verabscheuten, wollten sie immer mehr, und meine Tante tat sich schwer, Nein zu sagen. Die sommersprossigen Schultern der Männer waren rot und schälten sich – was nie einem von uns passierte. Heu aufladen sei eine klasse Arbeit, fanden sie, auch wenn es dabei piekse. Ganz anders als zu Hause, wo sie einen Kilometer tief in der Erde herumwühlen müssten – was ihnen zumindest von uns Kindern niemand richtig abnahm.
Die Frauen lagen meist in der Sonne und wuschen gelegentlich das Geschirr ab. Wenn sie gegangen waren, spülte meine Tante noch mal nach. Früh am Nachmittag tranken sie meist zusammen Bier, abends dazu auch Obstler, manchmal mehr als eine Flasche, worüber meine Tante später kopfschüttelnd mit der Nachbarin tuschelte. Dazu rauchten sie ihre Zigaretten, bis die Luft blau war, und lachten so laut und schrill, wie niemand im Dorf sich zu lachen getraut hätte. Im Urlaub bestehe sie immer auf getrennte Betten, kreischte Jutta einmal. Da mache sie „den Kram“nicht mit. Hotte guckte schräg – und ich verstand nicht, warum meine Tante rot wurde.
Das Verrückteste aber war:
Die Männer spielten Fußball. Erwachsene Menschen, die besser dribbelten als wir Kinder – wie sollte man so jemanden ernst nehmen? Unsere Väter und Onkel waren froh, wenn sie nach der Stallarbeit in den alten Sessel plumpsen konnten und ihre Ruhe hatten. Und diese lauten Kerle erzählten, dass sie an Wochenenden tatsächlich ins Stadion gingen. Zum Fußballgucken. Es gab Borussia Dortmund also wirklich.
Gern besuchten sie auch die Heimatabende, die im Bräuhaus stattfanden. Auch dort lachten sie lauter als die anderen, und als mein Bruder und ich einmal mit der Melodika auf der Bühne Ländler spielten, drückte uns Jutta vor allen Leuten einen dicken Kuss auf die Wange. Es war schrecklich, schrecklich peinlich.
Manchmal lud die Tante Verwandte ein, um mit den Fremden zu feiern und sie zu bestaunen: Was es doch für Menschen gibt. Aus dem Ruhrgebiet, angeblich mitten in Deutschland! Die Fremden waren aufregend. Und nicht ganz von dieser Welt. Sie brachten etwas Unheimliches mit – eine Ahnung, dass es da draußen noch ein anderes Leben geben könnte als Heurechen, Ministrieren und Kässpatzenessen. Aber nach zwei Wochen war der Spuk vorbei.
Manchmal, wenn ich bei einem Bauern in Bolivien zu Gast war, oder Kinder in Kasachstan dem Bus hinterherwinkten, fielen sie mir wieder ein, unsere Fremden.