Von der Kunst, Autismus zu erklären
Juliana Holl aus Westhausen hat ein Sachbuch veröffentlicht, das sogar in China gelesen wird
- Juliana Holl ist 17 Jahre alt, macht eine Ausbildung zur Physiotherapeutin, geht gern reiten und hat ein Buch geschrieben – über Autismus. Das Ziel der Westhausener Nachwuchsautorin: Eine Definition für Angehörige und Interessierte zu schaffen, die jeder versteht. Nach intensiven Recherchen kam Holl letztendlich zu dem Schluss: Autismus ist keine Krankheit, keine Behinderung, sondern eine Art zu sein.
Juliana Holls Buch ist nicht besonders lang, das Format ist klein – und der Titel „Die Welt durch seine Augen - tätowiert für dein Leben“lässt nicht wirklich auf den Inhalt schließen. „Alles so gewollt“, sagt sie. Würde der Titel „Was ist Autismus?“lauten, hätte jeder sofort gewusst, worum es gehe. Die 17-Jährige wollte es geheimnisvoll halten, neugierig auf die Geschichte machen. Das eigentliche Thema wird erst auf der Rückseite verdeutlicht. Grundsätzlich gehe es ums Anderssein, darum, einen Stempel aufgedrückt zu bekommen. Das alles solle ihr Titel ausdrücken, betont die Westhausenerin.
Statt Tätowierter stehen auf 106 zehn mal 15 Zentimeter kleinen Seiten also Autisten im Fokus. Autismus, ein Thema, das die junge Frau seit ihrem Bundesfreiwilligendienst umtreibt. Diesen absolvierte sie in der Jagsttalschule Westhausen, die von Schülern mit geistiger Behinderung besucht wird – und von Autisten, die unter anderem von Juliana Holl betreut und unterrichtet wurden. Einen besonders schweren Fall habe sie in ihrer Klasse gehabt, sagt die 17-Jährige.
Das Interesse der Westhausenerin war geweckt. Sie wollte wissen, was hinter der Diagnose Autismus steckt. Doch bald kam die Ernüchterung. Selbst Sonderschullehrer hätten ihr keine richtige Definition dazu liefern können. Also begann Holl, zu recherchieren, kaufte sich Fachliteratur und stellte schnell fest: „Um das zu verstehen, braucht man ein halbes Medizinstudium.“
Die junge Frau gab nicht auf, ackerte sich durch und kam auf Idee, ihr erarbeitetes Wissen auch anderen zugänglich zu machen. „Allerdings für Normalsterbliche erklärt“, erzählt sie. Somit begann Holl, ein Buch über ihre Erkenntnisse zu schreiben. Etwa ein Jahr arbeitete sie daran.
Die Geschichte handelt von Tim, einem Autisten, und seiner Schwester, die von ihrem Leben mit ihrem behinderten Bruder erzählt. Dabei erklärt sie, was Autismus eigentlich ist, was dabei im Gehirn der Betroffenen abläuft und warum Tim einfach ist, wie er ist.
Die Geschichte ist fiktiv. Die Protagonistin übernimmt allerdings die Rolle der Autorin und forscht über die Diagnose ihres Bruders. „Sie liest Bücher, spricht mit Ärzten und erklärt ihre Erkenntnisse“, erläutert Juliana Holl. „Und das auf einer Ebene, die jeder versteht.“Als Indikator nennt Holl ihre Mutter, die als Lektorin fungierte. Ihre „Mum“besitze keinerlei Vorerfahrung auf diesem Gebiet, habe das Buch aber sofort verstanden, versichert sie.
Keine Störung, keine Krankheit, keine Behinderung, Autismus sei „eine Art zu sein“, erklärt die Autorin. Sie habe sich das menschliche Gehirn angeschaut, um zu verstehen, was bei Autisten anders sei als „bei uns“. Autistische Hirne besäßen keine Schwäche, sondern würden wesentlich intensiver arbeiten. „Ein Hochleistungshirn“, so die Autorin. Die Neurotransmitter seien viel schneller als normal, sodass ein Autist etwa die vierfache Menge eines gewöhnlichen Gehirns an Informationen aufnehme.
So lässt sich laut der Westhausenerin auch erklären, weshalb viele Autisten „emotions- und empathielos“sind. Durch die Überbelastung würden sie zudem manchmal „austicken“.
Juliana Holl vertreibt ihr Werk als Buch und E-Book über den Verlag eines großen Onlinehändlers – und das weltweit. Selbst in China sei ihr Buch schon gelesen worden. Sie hoffe, dass es sich dabei um eine gute Übersetzung handele, schmunzelt die 17-Jährige.
Die Autorin hatte zudem Zusagen von zwei renommierten deutschen Verlagen, denen sie ihr Manuskript zugeschickt hatte. Doch daraus wurde letztendlich nichts. Diese Verlage würden eine hohe Selbstbeteiligung des Autors verlangen, um sich abzusichern und kein Risiko einzugehen. Für einen jungen Autoren, der nur ein paar 100 Bücher verkaufe, würde das aber nicht funktionieren, sei viel zu teuer, erläutert Holl.
„Die Welt durch seine Augen - tätowiert für dein Leben“ist bereits Holls zweites Buch. Ihr Debüt, der Roman „It´s Time to Fly“, der im Sommer 2020 erschien, handelt von der ersten großen Liebe, Herzschmerz und Pferden. Damals habe sie einfach drauf los geschrieben. Beim zweiten Buch sei von Anfang an klar gewesen, worum es gehen sollte.
Bereits mit 13 Jahren begann die Westhauserin, erste Kurzgeschichten zu schreiben. Deutsch war, wie sie sagt, schon immer ihr Ding. Einmal hauptberuflich zu schreiben, kann sich Juliana Holl allerdings nicht vorstellen. Sie hält weiterhin an ihrem Berufswunsch, Physiotherapeutin zu werden, fest. Angestellte Schriftsteller stünden unter einem enormen Druck, das wolle sie nicht. Die Schreiberei solle weiterhin nebenbei laufen. „Ich möchte weiterhin Spaß daran haben.“
Derzeit arbeitet die emsige Schreiberin bereits an einem neuen Projekt, kein neuer Roman, sondern wieder ein ernstes Thema mit medizinischem Hintergrund. In „Million Faces - Jeden Tag ein anderes Gesicht“soll es um eine Psychologiestudentin gehen, deren Vater Suizid begangen hat. Sie suche nach Antworten und beschäftige sich mit den Fragen, warum sich jemand so etwas antut, verrät Holl.
Unmittelbar sei sie mit dem Thema Selbstmord zwar nicht in Kontakt gekommen, allerdings habe sich der Vater einer guten Freundin das Leben genommen. „Ich habe die Phase damals mitbekommen, darum ist das auch ein Herzensthema“, beschreibt die Autorin ihre Motivation für ihr drittes Buch. Sie wolle nicht einfach etwas schreiben, was man nach dem Lesen in die Ecke stellt, sagt sie und verweist auf ein Zitat: „Gute Bücher enden nicht mit der letzten Seite, sie begleiten dich ein Leben lang.“