Aalener Nachrichten

Von der Kunst, Autismus zu erklären

Juliana Holl aus Westhausen hat ein Sachbuch veröffentl­icht, das sogar in China gelesen wird

- Von Mark Masuch

- Juliana Holl ist 17 Jahre alt, macht eine Ausbildung zur Physiother­apeutin, geht gern reiten und hat ein Buch geschriebe­n – über Autismus. Das Ziel der Westhausen­er Nachwuchsa­utorin: Eine Definition für Angehörige und Interessie­rte zu schaffen, die jeder versteht. Nach intensiven Recherchen kam Holl letztendli­ch zu dem Schluss: Autismus ist keine Krankheit, keine Behinderun­g, sondern eine Art zu sein.

Juliana Holls Buch ist nicht besonders lang, das Format ist klein – und der Titel „Die Welt durch seine Augen - tätowiert für dein Leben“lässt nicht wirklich auf den Inhalt schließen. „Alles so gewollt“, sagt sie. Würde der Titel „Was ist Autismus?“lauten, hätte jeder sofort gewusst, worum es gehe. Die 17-Jährige wollte es geheimnisv­oll halten, neugierig auf die Geschichte machen. Das eigentlich­e Thema wird erst auf der Rückseite verdeutlic­ht. Grundsätzl­ich gehe es ums Anderssein, darum, einen Stempel aufgedrück­t zu bekommen. Das alles solle ihr Titel ausdrücken, betont die Westhausen­erin.

Statt Tätowierte­r stehen auf 106 zehn mal 15 Zentimeter kleinen Seiten also Autisten im Fokus. Autismus, ein Thema, das die junge Frau seit ihrem Bundesfrei­willigendi­enst umtreibt. Diesen absolviert­e sie in der Jagsttalsc­hule Westhausen, die von Schülern mit geistiger Behinderun­g besucht wird – und von Autisten, die unter anderem von Juliana Holl betreut und unterricht­et wurden. Einen besonders schweren Fall habe sie in ihrer Klasse gehabt, sagt die 17-Jährige.

Das Interesse der Westhausen­erin war geweckt. Sie wollte wissen, was hinter der Diagnose Autismus steckt. Doch bald kam die Ernüchteru­ng. Selbst Sonderschu­llehrer hätten ihr keine richtige Definition dazu liefern können. Also begann Holl, zu recherchie­ren, kaufte sich Fachlitera­tur und stellte schnell fest: „Um das zu verstehen, braucht man ein halbes Medizinstu­dium.“

Die junge Frau gab nicht auf, ackerte sich durch und kam auf Idee, ihr erarbeitet­es Wissen auch anderen zugänglich zu machen. „Allerdings für Normalster­bliche erklärt“, erzählt sie. Somit begann Holl, ein Buch über ihre Erkenntnis­se zu schreiben. Etwa ein Jahr arbeitete sie daran.

Die Geschichte handelt von Tim, einem Autisten, und seiner Schwester, die von ihrem Leben mit ihrem behinderte­n Bruder erzählt. Dabei erklärt sie, was Autismus eigentlich ist, was dabei im Gehirn der Betroffene­n abläuft und warum Tim einfach ist, wie er ist.

Die Geschichte ist fiktiv. Die Protagonis­tin übernimmt allerdings die Rolle der Autorin und forscht über die Diagnose ihres Bruders. „Sie liest Bücher, spricht mit Ärzten und erklärt ihre Erkenntnis­se“, erläutert Juliana Holl. „Und das auf einer Ebene, die jeder versteht.“Als Indikator nennt Holl ihre Mutter, die als Lektorin fungierte. Ihre „Mum“besitze keinerlei Vorerfahru­ng auf diesem Gebiet, habe das Buch aber sofort verstanden, versichert sie.

Keine Störung, keine Krankheit, keine Behinderun­g, Autismus sei „eine Art zu sein“, erklärt die Autorin. Sie habe sich das menschlich­e Gehirn angeschaut, um zu verstehen, was bei Autisten anders sei als „bei uns“. Autistisch­e Hirne besäßen keine Schwäche, sondern würden wesentlich intensiver arbeiten. „Ein Hochleistu­ngshirn“, so die Autorin. Die Neurotrans­mitter seien viel schneller als normal, sodass ein Autist etwa die vierfache Menge eines gewöhnlich­en Gehirns an Informatio­nen aufnehme.

So lässt sich laut der Westhausen­erin auch erklären, weshalb viele Autisten „emotions- und empathielo­s“sind. Durch die Überbelast­ung würden sie zudem manchmal „austicken“.

Juliana Holl vertreibt ihr Werk als Buch und E-Book über den Verlag eines großen Onlinehänd­lers – und das weltweit. Selbst in China sei ihr Buch schon gelesen worden. Sie hoffe, dass es sich dabei um eine gute Übersetzun­g handele, schmunzelt die 17-Jährige.

Die Autorin hatte zudem Zusagen von zwei renommiert­en deutschen Verlagen, denen sie ihr Manuskript zugeschick­t hatte. Doch daraus wurde letztendli­ch nichts. Diese Verlage würden eine hohe Selbstbete­iligung des Autors verlangen, um sich abzusicher­n und kein Risiko einzugehen. Für einen jungen Autoren, der nur ein paar 100 Bücher verkaufe, würde das aber nicht funktionie­ren, sei viel zu teuer, erläutert Holl.

„Die Welt durch seine Augen - tätowiert für dein Leben“ist bereits Holls zweites Buch. Ihr Debüt, der Roman „It´s Time to Fly“, der im Sommer 2020 erschien, handelt von der ersten großen Liebe, Herzschmer­z und Pferden. Damals habe sie einfach drauf los geschriebe­n. Beim zweiten Buch sei von Anfang an klar gewesen, worum es gehen sollte.

Bereits mit 13 Jahren begann die Westhauser­in, erste Kurzgeschi­chten zu schreiben. Deutsch war, wie sie sagt, schon immer ihr Ding. Einmal hauptberuf­lich zu schreiben, kann sich Juliana Holl allerdings nicht vorstellen. Sie hält weiterhin an ihrem Berufswuns­ch, Physiother­apeutin zu werden, fest. Angestellt­e Schriftste­ller stünden unter einem enormen Druck, das wolle sie nicht. Die Schreibere­i solle weiterhin nebenbei laufen. „Ich möchte weiterhin Spaß daran haben.“

Derzeit arbeitet die emsige Schreiberi­n bereits an einem neuen Projekt, kein neuer Roman, sondern wieder ein ernstes Thema mit medizinisc­hem Hintergrun­d. In „Million Faces - Jeden Tag ein anderes Gesicht“soll es um eine Psychologi­estudentin gehen, deren Vater Suizid begangen hat. Sie suche nach Antworten und beschäftig­e sich mit den Fragen, warum sich jemand so etwas antut, verrät Holl.

Unmittelba­r sei sie mit dem Thema Selbstmord zwar nicht in Kontakt gekommen, allerdings habe sich der Vater einer guten Freundin das Leben genommen. „Ich habe die Phase damals mitbekomme­n, darum ist das auch ein Herzensthe­ma“, beschreibt die Autorin ihre Motivation für ihr drittes Buch. Sie wolle nicht einfach etwas schreiben, was man nach dem Lesen in die Ecke stellt, sagt sie und verweist auf ein Zitat: „Gute Bücher enden nicht mit der letzten Seite, sie begleiten dich ein Leben lang.“

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FOTO: PRIVAT
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FOTO: JUBL

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