Netz-Milliardärin
Whitney Wolfe Herd – erst Tinder, dann Bumble.
- Es war ein Morgen im April 2014, als Whitney Wolfe Herd den Tiefpunkt erreichte: ein Zusammenbruch auf dem Badezimmerboden. Seit Wochen wurde die Dating-App-Gründerin online beschimpft und niedergemacht. „Ich habe Vergewaltigungs- und Morddrohungen bekommen. Es hat sich angefühlt, als stünden die Menschen direkt in meinem Schlafzimmer, in meinem Wohnzimmer. Es war so persönlich“, erzählt es Wolfe Herd rückblickend in einem Interview.
Der Hass schlug der damals 24Jährigen im Netz entgegen, weil sie ihr ehemaliges Unternehmen nach einem öffentlichen Zerwürfnis verklagt hatte. Und ihr ehemaliges Unternehmen ist nicht irgendeines gewesen, sondern Erfinder der weltbekannten Dating-App Tinder, die die Online-Partnersuche revolutioniert hat. Im Internet wurde Whitney Wolfe Herd für ihre Klage gegen Tinder an den Pranger gestellt und heftig beschimpft. Doch statt einzuknicken, fasste sie den Entschluss, die Onlinewelt zu verändern – und ist damit heute erfolgreicher denn je.
Die heute 31-Jährige Whitney Wolfe Herd wuchs eigentlich in behüteten Verhältnissen im amerikanischen Salt Lake City auf, als Tochter eines Projektentwicklers. Ihre Mutter kümmerte sich daheim um sie und ihre jüngere Schwester. Schon früh war klar, dass Wolfe Herd unternehmerisches Talent besitzt. Als 2010 die Ölbohrplattform Deepwater Horizon explodierte und Millionen Liter Öl in den Golf von Mexiko liefen, verkaufte sie an ihrem College selbstbedruckte Bambustaschen, mit deren Verkaufserlös sie anteilig die Aufräumarbeiten der Ölpest unterstützte. Die Bambustaschen wurden ein voller Erfolg – auch weil einige bekannte Modemodels mit ihnen fotografiert wurden.
Whitney Wolfe Herd wollte aber nicht nur Geld verdienen, sondern die Welt verändern, sie ein Stück besser machen, wie sie bei einem Interview im Rahmen des Elevate Technology Festivals 2018 sagte. Ihr sei schnell klar geworden: „Die einzige Möglichkeit, Reichweite als einzelne Person auf diesem Planeten zu bekommen, ist, indem man neue Technologien nutzt.“Wolfe Herd stieg deshalb nach dem College in die Tech-Industrie ein.
Ein Bekannter von ihr, Sean Rad bot ihr einen Job im Marketing für eine Konsumentenzufriedenheits-App an, und Wolfe Herd sagte zu. Aus der App wurde nichts, aber ein Nebenprojekt des Teams, bestehend aus Wolfe Herd, Rad und den Kollegen Justin Mateen und Jonathan Badeen, entwickelte sich dafür immer besser: eine Dating-App, die zunächst den Arbeitstitel „Matchbox“trug und später den Namen „Tinder“erhielt.
Tinder sollte den Dating-Markt revolutionieren. Bei der App bewerten Nutzer andere Nutzer mit einem Ja oder Nein, indem sie nach rechts oder links über den Bildschirm wischen – je nachdem, ob sie Interesse am anderen haben oder nicht. Wenn zwei Nutzer einander ein Ja geben, kommt es zu einem sogenannten
„Match“und die beiden werden einander angezeigt und können den Dialog beginnen. Was damals wirklich revolutionär war, ist heute völlig normal. 50 Millionen Menschen nutzen die App inzwischen weltweit. Via Tinder entstehen Freundschaften, Beziehungen, Ehen. Nach Daten einer Studie des Magazins „Technology Review“startet jede dritte Ehe heute online.
Wolfe Herd wurde damals VizeMarketingchefin bei Tinder und bewarb die App zunächst erfolgreich an ihrem ehemaligen College und später in den gesamten USA. Sie fand bei Tinder zunächst auch ihr privates „Match“: Mitbegründer Justin Mateen. Doch nach einem Jahr Beziehung trennten sich beide wieder. Was dann folgte, war ein Rosenkrieg, der zudem immer öffentlicher wurde. Ehemalige Arbeitskollegen berichteten, dass die beiden sich im Büro gestritten haben. Öffentlich gewordene Textnachrichten von Mateen zeugen von Eifersucht, Besitzanspruch, Herabsetzung und Wut. Mateens Freund und Tinder-CEO Rad soll Wolfe Herd sogar das Recht abgesprochen haben, sich Mitbegründerin zu nennen.
Die damals 24-Jährige verlässt das Unternehmen und verklagt Mateen wegen sexueller Belästigung. Er soll sie laut Anklageschrift unter anderem als „Hure“bezeichnet haben. Auch weitere unangenehme Bezeichnungen seien gefallen.
Doch die Öffentlichkeit glaubt Wolfe Herd damals nicht. Sie wird als Wichtigtuerin und Nutznießerin abgetan. Alte Bekannte und Arbeitskollegen
wenden sich von ihr ab, nennen sie nur „lawsuit girl“(deutsch: „Klage-Mädchen“), im Netz wird sie übel beschimpft. „Sogar mein Vater hat mich angerufen und gefragt: ‚Ist das wahr, was sie da über dich schreiben?‘ Und ich habe nur geantwortet: ,Nein, nein, nein’, erzählt Wolfe Herd später.
Erst mit der Bewegung „Me too“– ausgelöst durch die Missbrauchsvorwürfe gegen Hollywood-Filmproduzent Harvey Weinstein im Jahr 2017 – ändert sich die Wahrnehmung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. „Bis dahin war es eher ‚me alone‘ statt ‚me too‘“, sagt Wolfe Herd.
Doch der dunkelste Moment – der Morgen im April 2014 auf dem Badezimmerboden mit all den Hassnachrichten auf dem Smartphone – ist für die junge Frau auch ein Wendepunkt. „Ich habe gesehen, wie kaputt das Internet ist, und dass nicht nur ich, sondern viele andere Menschen davon betroffen sind, und ich habe mir gedacht, ich werde daran etwas ändern“, sagt sie beim Elevate Technology Festival. Mit Tinder einigt sich Wolfe Herd außergerichtlich auf eine Entschädigung von etwas mehr als einer Million Dollar. Und obwohl das Unternehmen Wolfe Herds Vorwürfe bestreitet, verlassen sowohl Mateen als auch Rad Tinder in der Folge.
Wolfe Herd dagegen kommt erst richtig in Fahrt. Sie will das Internet zu einem netteren und vor allem weiblicheren Ort machen, sie will ein „Internet der Frauen“erschaffen, wie sie sagt. Mit dem russischen Milliardär Andrey Andreev gründet sie die App Bumble. Obwohl sie zunächst gar keine Lust mehr auf Dating-Apps gehabt habe und eigentlich ein anderes App-Projekt forciert habe, habe Andreev sie überzeugt, „dass es notwendig ist, auch das Dating zu empowern”, also selbstbestimmter zu gestalten.
Bei Bumble machen die Frauen den ersten Schritt. Wenn sich zwei Nutzer interessant finden, liegt es an den Frauen, zuerst zu schreiben und den Dialog zu beginnen. Von Frauen werde normalerweise erwartet, dass sie sich rarmachen und ansprechen lassen. Die Männer seien diejenigen, denen beigebracht werde „auf die Jagd nach Frauen zu gehen. Diese Regeln wollten wir umschreiben”, sagte Wolfe Herd bei der Tech-Konferenz SXSW. Dabei soll Bumble aber nicht nur als Dating-Plattform genutzt werden. Wolfe hat daneben auch BumbleBFF initiiert, eine Möglichkeit, Freundschaften zu schließen, und die Plattform Bumble Bizz für den beruflichen Austausch. Nach eigenen Angaben verfolgt das Unternehmen eine Null-Toleranz-Politik, wenn es um Belästigung, sexuellen Missbrauch und Gewalt in seinem Netzwerk geht.
Bumble hat mittlerweile rund 40 Millionen Nutzer weltweit, von denen allerdings nur 2,4 Millionen zahlende Nutzer sind. Das möchte Wolfe Herd ändern. Im Februar führte die Vorstandschefin – Andreev hatte sich aus dem Unternehmen zurückgezogen und seine Bumble-Anteile verkauft – das US-Unternehmen an die Börse. Das Ziel ist, weiteres Wachstum zu finanzieren und dem Kontrahenten Tinder Marktanteile abzujagen. Bumble ist nach Tinder die Nummer 2 auf dem Online-Datingmarkt.
Der Einstandskurs lag mit 76 USDollar fast 77 Prozent über dem Ausgabepreis. Die App wurde mit rund 13 Milliarden Dollar bewertet. Wolfe Herd, der zwölf Prozent des Börsenunternehmens gehören, wurde damit zur jüngsten Selfmade-Milliardärin der Welt. Als sie die Glocke der Nasdaq zum Start des Börsengangs läutete, trug sie ihren einjährigen Sohn auf dem Arm. „Dies ist das Ergebnis eines Neustarts“, schrieb Wolfe Herd dazu in dem Sozialen Netzwerk Instagram. In der Kommentarspalte darunter finden sich massenhaft Glückwünsche. Die Hassnachrichten sind längst verschwunden.