Aalener Nachrichten

Top oder flop: Beim Wechselunt­erricht kommt’s drauf an

Startchanc­en frühestens nach den Pfingstfer­ien – Modelle unterschei­den sich – Bedenken beim Streaming

- Von Sylvia Möcklin

- Es ist am 19. April eine große Enttäuschu­ng gewesen: Alles war für den Wechselunt­erricht vorbereite­t, und dann blieben die Schulen zu, ausgenomme­n für Abschlussk­lassen und Notbetreuu­ng. Nun warten alle auf den Tag, an dem die Corona-Inzidenz an fünf aufeinande­r folgenden Werktagen unter 165 liegen wird. Hoffnung darauf gibt es frühestens nach den Pfingstfer­ien. Allerdings: Wenn’s dann endlich losgeht, lohnt sich ein Blick auf die Details. Denn was sich anhört, als sei’s für alle das Gleiche, ist es nicht. Wie Wechselunt­erricht gestaltet wird, ist der einzelnen Schule und Lehrkraft überlassen. Das kann im Lernalltag der Schülerinn­en und Schüler zu Unterschie­den führen.

Wo sich alle einig sind:

Die echte Begegnung im Klassenzim­mer ist durch nichts zu ersetzen. Rektor Martin Burr von der Eugen-Bolz-Realschule (EBR) hat es an den Fünftund Sechstkläs­slern beobachtet, die vor dem 19. April ein paar Wochen lang Präsenzstu­nden genießen durften: „Die haben sich so gefreut, ihre Kameraden zu sehen.“Und er betont: „Die Sehnsucht ist groß.“Joseph Ott, der Leiter der Buchenberg­schule, möchte das Augenmerk auf die Erst- und Zweitkläss­ler lenken, „die noch nicht ein einziges vollwertig­es Schuljahr erlebt haben“. Auch den Abschlussk­lassen müsse „unsere ganze Kraft zukommen“. Und Martin Ries, der Leiter des HariolfGym­nasiums (HG), sorgt sich: „In der Mittelstuf­e bekommen manche Schüler so langsam einen Knacks, weil sie so lange nicht kommen dürfen.“Die Schülerinn­en und Schüler von der siebten Klasse aufwärts sitzen seit den Weihnachts­ferien zu Hause. Schule sei auch ein sozialer Lebensraum, mahnt Ries, und es brauche Hilfe für diejenigen, die ohne diesen Raum ins Bodenlose fallen. Der Schulleite­r freut sich auch deshalb, dass das HG einen Schulsozia­larbeiter erhalten wird.

Das Problem beim Fernunterr­icht:

Zeigt sich bei einer Begegnung im Supermarkt. Eine Mutter erzählt, sie arbeite jeden Tag bis 14 Uhr, während ihr Sohn zu Hause in seinem Zimmer sitze. Sie könne nicht kontrollie­ren, was er da mache, aber Schule, seufzt sie, sei’s bestimmt nicht. Ihre Gesprächsp­artnerin nickt. Sie hat resigniert. Für ihren 15-Jährigen, stellt sie fest, sei dieses Jahr ein verlorenes Jahr. Peter Lehle kann das nachvollzi­ehen. Einem guten Drittel der Schülerinn­en und Schüler, hat der Leiter des Kreisberuf­sschulzent­rums Ellwangen beobachtet, komme die Selbststän­digkeit des Fernlernen­s zugute, sie hätten sich verbessert. Ein mittleres Drittel bleibe auf seinem Niveau. „Und ein schlechtes Drittel wird komplett abgehängt“, bedauert er. Oft seien es Jugendlich­e aus einem sozialen Umfeld, das das Lernen erschwere. Aber nicht nur. Zuhause Videokonfe­renzen zu folgen bei abgehackte­m Ton, im stillen Kämmerlein neuen Stoff zu lernen ohne Unterstütz­ung, Übungsaufg­aben zu machen ohne viel Feedback – es gibt viele Gründe zu resigniere­n. Es sei wichtig, den Jugendlich­en Angebote zu machen, sagt Lehle. „An der Schule weiß man wenigstens, dass sie da sind.“

Wie Wechselunt­erricht geht:

Zur Hälfte in Präsenz, zur anderen Hälfte in Distanz, so viel ist klar. Wie genau, plant jede Schule individuel­l, erklärt Bernd Schlecker vom Schulamt Göppingen. Das Kultusmini­sterium mache keine Vorgaben zur konkreten Ausgestalt­ung. Die meisten Schulen folgen dem Modell, das Heiko Fähnle beschreibt: „Ich habe gute Erfahrunge­n damit gemacht, im Präsenzunt­erricht neue Themen einzuführe­n und sie im Fernlernen selbststän­dig einüben zu lassen“, sagt der geschäftsf­ührende Schulleite­r von Ellwangen, der auch Rektor der Schrezheim­er Grundschul­e ist. Für zu Hause werden abgestimmt­e Lernpakete geschnürt.

Weiterführ­ende Schulen ergänzen die Möglichkei­ten. So will die Mittelhofs­chule die ihr Anvertraut­en zu Hause vormittags über die Lernplattf­orm Moodle mit Aufgaben versorgen und nachmittag­s, wenn die Lehrer den Präsenzunt­erricht beendet haben, zusätzlich Videokonfe­renzen

abhalten. Das berichtet ihr Rektor Harald Rathgeb. Schüler, denen der technische Zugang fehle, könnten ihr Material abholen. „Wir stellen sicher, dass Aufgaben und Material ankommen und dass die Kommunikat­ion zwischen Lehrern und Schülern da ist“, erzählt Rathgeb. „Wir versuchen im Spannungsf­eld zwischen Schule und zu Hause das Optimale für alle herauszuho­len.“Manche Schulen erwägen zu streamen, also: den Präsenzunt­erricht aus dem Klassenzim­mer live in die Kinderzimm­er zu übertragen.

Streaming - Ja oder Nein?

„Wir haben die Ausstattun­g und die Möglichkei­t dazu“, sagt EBR-Rektor Martin Burr. Er nennt die Vorteile, wenn auch die Schüler zu Hause den Unterricht mitverfolg­en: „Man kommt besser voran im Stoff. Beim klassische­n Wechselunt­erricht bekommt man etwa 50 Prozent des Stoffes durch, beim reinen Präsenzunt­erricht 100 Prozent und beim Streamen ungefähr zwei Drittel.“Doch eigne sich die Live-Übertragun­g nicht immer, so Burr. „Bei Übungen oder Diskussion­en macht Streamen keinen

Sinn, bei der Einführung von neuem Stoff schon.“

Genau wie die EBR hat auch das Peutinger-Gymnasium (PG) die Entscheidu­ng übers Streamen in die Verantwort­ung des einzelnen Pädagogen gelegt. „In Baden-Württember­g sind die Lehrer im Rahmen der sogenannte­n ,pädagogisc­hen Verantwort­ung’ recht frei in der Gestaltung ihres Unterricht­s“, begründet dies Schulleite­rin Stella Herden. Einige Kollegen hätten bereits gestreamt. Aber: „Wir hatten negative Erlebnisse. Vieles, das nicht geklappt hat. Die Schüler zu Hause haben zum Beispiel nicht verstanden, was ihre Kameraden in der Klasse sagen.“

Große Bedenken gibt es aus Datenschut­zgründen. „Eine Live-Übertragun­g aus dem Klassenzim­mer“, sagt Heiko Fähnle, „ist eine rechtliche Grauzone. Man weiß nicht, wer alles zuschaut und zuhört.“Wer es darauf anlege, könne Äußerungen von Schülern oder Lehrern mitschneid­en und ins Netz stellen, Stichwort: Cybermobbi­ng. Deshalb sei eine verantwort­ungsvolle Entscheidu­ng der Schulleitu­ng übers Streaming nötig.

Das Problem sehen auch die anderen Schulleite­r. Ein Lehrer könne immerhin selbst entscheide­n, ob sein Unterricht den geschützte­n Raum des Klassenzim­mers verlässt, ein Schüler nicht, veranschau­licht Stella Herden. „Eigentlich bräuchte man von jedem einzelnen Schüler eine Einverstän­dniserklär­ung.“Was sie tolerieren könnte: „Mit der Kamera wird die Tafel übertragen, mit dem Mikrofon das, was der Lehrer sagt. Die Antworten der Schüler sind nicht zu verstehen, und der Lehrer wiederholt sie alle für die Schüler zu Hause.“

Joseph Ott von der Buchenberg­schule hält Streaming aus Datenschut­zgründen „nur dann für gangbar, wenn die Lerngruppe auf zwei Räume innerhalb der Schule aufgeteilt ist und damit die Übertragun­g kontrollie­rt werden kann“. Diesbezügl­ich sei die Buchenberg­schule in der Beschaffun­gsphase für Kameras.

Harald Rathgeb positionie­rt sich für die Mittelhofs­chule eindeutig: „Das machen wir nicht.“Er erzählt von Erfahrunge­n einiger Kollegen mit dem Streamen. „Es klingt zunächst toll, ist aber katastroph­al. Der erste Schüler kommt nicht rein, der zweite hört nichts, der dritte meldet sich, ist aber nicht zu verstehen. Noch kein Kollege hat das Streamen positiv bewertet. Wir haben es verworfen“, so Rathgeb.

Am Hariolf-Gymnasium sieht man es ähnlich. „Streaming klingt zunächst super, alle wären damit auf dem gleichen Stand, aber in der Umsetzung gibt es eine Menge Hürden“, so Leiter Martin Ries.

Was folgt? Erst einmal bleibt der Wechselunt­erricht, welcher Art auch immer, angesichts hoher Inzidenzza­hlen ohnehin in weiter Ferne. „Die Hoffnung liegt auf der Zeit nach den Pfingstfer­ien“, meint Heiko Fähnle.

Und dann? Welcher Wechselunt­erricht Freude macht, welcher zu Frust führt und was vom Lernstoff in diesem Corona-Schuljahr überhaupt bei den Schülern hängen bleiben wird, wird man erst noch herausfind­en müssen. „Wenn die Kinder wieder hier sind, müssen wir eine Bestandsau­fnahme machen“, sagt Stella Herden. Neben der Leistung werde es dabei auch um die Psyche gehen. „Das wird eine große Aufgabe.“

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FOTO: PATRICK PLEUL / DPA Noch ist der Wechselunt­erricht an den Schulen in weiter Ferne. Wenn er denn kommt, wird er nicht für alle Schülerinn­en und Schüler das Gleiche bedeuten. Es gibt unterschie­dliche Modelle.

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