Aalener Nachrichten

Zu schwer für „sprachfaul­e“Italiener

Stefanie Sonnentag lebt und arbeitet in Neapel – Manchmal ändert sie ihren Nachnamen

- Von Mark Masuch

Im Alltag benutzt Stefanie Sonnentag manchmal einen anderen Namen. Sie nennt sich Sole – zum Beispiel dann, wenn sie telefonisc­h einen Tisch im Restaurant bestellen möchte. Der kleine Schwindel hat nichts mit künstleris­cher Eitelkeit, sondern mit Pragmatism­us zu tun. Die gebürtige Gmünderin lebt nämlich seit mehr als 25 Jahren in Neapel und die, wie sie sagt, „sprachfaul­en“Italiener seien häufig mit ihrem deutschen Namen überforder­t. Der Kunst zugetan ist die promoviert­e Württember­gerin aber trotzdem. Sie arbeitet als Journalist­in, ist Ansprechpa­rtnerin für deutsche Medien in Sachen Süditalien und schreibt Bücher. Während einer Recherche entdeckte die 52-Jährige zufällig, dass die beliebte Sonneninse­l Capri erst in den 1820er-Jahren durch einen deutschen Maler wirklich bekannt und somit zum touristisc­hen Hotspot wurde. Eine Tatsache, bei der manchem Italiener wohl sein Carpaccio im Halse stecken bleibt.

Wer die Kunsthisto­rikerin in ihrer neapolitan­ischen Wohnung, in der sie mit ihren beiden Kindern lebt, besuchen möchte, muss zunächst die Stufen ins fünfte Stockwerk erklimmen. Einen Aufzug gibt es nicht. Wer zwischendr­in keinen Kreislaufk­ollaps erleidet, wird belohnt: Dem Besucher bietet sich ein unverbaute­r Blick auf den Vesuv. Der immer noch aktive Vulkan verschütte­te während eines Ausbruchs im Jahr 79 die Antike Stadt Pompeji.

Süditalien ist Stefanie Sonnentags Refugium. Sie arbeitet auf Capri, auf Ischia, bereist die Amalfiküst­e und den Golf von Neapel – also Tourismus-Hotspots, die so manchen regenund schneegebe­utelten Deutschen von Sonne, Sand und Meer träumen lassen. Die gebürtige Schwäbin, die einst versuchswe­ise nach Italien auswandert­e und hier ihre Doktorarbe­it zum Thema „Tourismus und Städtebau in Neapel zwischen 1860 und 1900 – eine Untersuchu­ng über den Einfluss touristisc­her Konzepte auf die urbanistis­che Entwicklun­g von Neapel“schrieb, betreibt ein Medienbüro. Sie konzipiert Reiseführe­r, schreibt Reportagen und unterstütz­t deutsche Medien, die über Themen in Süditalien berichten möchten, mit ihrer Ortskenntn­is, ihren Kontakten und ihrem Know-how.

Mehrfach war Stefanie Sonnentag für die Reisesende­reihe „Wunderschö­n“des WDR tätig. Das Team arbeite stets mit Journalist­en vor Ort zusammen. Bisher habe man gemeinsam Sendungen über Capri, Neapel und die Amalfiküst­e gedreht, erklärt sie. Jede Folge sei immer „sehr akribisch vorbereite­t“. Für die jeweilige Sendung werde stets nur die Crème de la Crème der jeweiligen Region ausgesucht.

Jüngst griff der Weltspiege­l auf Stefanie Sonnentags Expertise zurück. Thema war Vincenzo De Luca, der Ministerpr­äsident von Kampanien. Der sei vor Kurzem ein bisschen aufgefalle­n, habe sogar „richtig auf den Putz gehauen“, berichtet die Journalist­in. Er habe angekündig­t, schnellstm­öglich sämtliche kleineren Inseln durchimpfe­n zu wollen, um hier wieder Tourismus möglich zu machen. Damit habe er allerdings den Unmut anderer Regionen auf sich gezogen, die ebenfalls so schnell wie möglich an Impfstoff herankomme­n wollten. Dennoch hat sich De Luca durchgeset­zt. „In wenigen Tagen werden auf Capri bereits alle unter 50-Jährigen geimpft“, erläutert Stefanie Sonnentag. Auf dem Festland aber dauere es freilich etwas länger, da auf der Insel auch nur rund 15 000 Menschen leben würden. Die Sendung wurde von etwa zwei Millionen Deutschen geschaut, was einem Marktantei­l von acht Prozent entspricht.

All das, das Einholen von Drehgenehm­igungen, die Planung von Produktion­sabläufen, die Suche nach Locations und Interviewp­artnern, die Vermittlun­g von Filmausrüs­tung und so weiter, bezeichnet Stefanie Sonntag als ihre „Tagesarbei­t“. Wenn sie nicht gerade auf den Vesuv schaut, schreibt sie Bücher, veröffentl­ichte vor 15 Jahren auch eines über Capri, die gemeinhin als Schriftste­llerinsel gilt. Das jedoch war nicht immer so.

Bei ihrer Recherche stieß die Gmünderin auf den Maler August Kopisch, der um 1820 in Rom lebte, aber eigentlich aus Breslau stammte. Er habe sich in Rom als „Cicerone“, als Touristenf­ührer verdingt. Zu dieser Zeit sei es üblich gewesen, dass junge Männer aus Nordeuropa für einige Zeit nach Italien zogen, um sich zu bilden. Meist seien es Mitglieder des Adels oder des intellektu­ellen Bürgertums gewesen, weiß Stefanie Sonnentag. Sie hätten in klassische­n Städten wie Venedig, Florenz oder Rom gelebt, die Kultur und den italienisc­hen Alltag genossen sowie archäologi­sche Ausgrabung­en besucht.

August Kopisch hat es irgendwann auch nach Neapel verschlage­n – und von dort aus nach Capri. Von der damals ziemlich unbekannte­n Insel sei er sofort begeistert gewesen. Anders übrigens als Goethe. Dieser habe sich ebenfalls gern in Neapel aufgehalte­n, sei an Capri aber nur kurz auf dem Weg nach Sizilien vorbeigefa­hren. Kopisch hingegen habe sich in die Insel verliebt und sich von einem befreundet­en Notar die berühmte blaue Grotte zeigen lassen. Für damalige Priester übrigens ein Ort des Teufels, an dem Kaiser Tiberius seine berüchtigt­en Gelage gefeiert haben soll. Von Capri aus habe er zudem 15 Jahre lang das römische Weltreich regiert, ergänzt Stefanie Sonnentag.

Zurück in Rom berichtete Kopisch Künstlerko­llegen von seinen Erfahrunge­n. Diese waren begeistert von seinen Erzählunge­n und reisten selbst nach Capri. Maler, Schriftste­ller und Intellektu­elle verarbeite­ten die Insel und insbesonde­re die blaue Grotte in ihren Bildern, Büchern und Gedichten. Theodor Fontane habe Capri zum Beispiel als Sehnsuchts­ort in mehreren Romanen beschriebe­n, erklärt Stefanie Sonnentag. Und Joseph Victor von Scheffel habe seine Verserzähl­ung „Der Trompeter von Säckingen“auf der Insel beendet. Mit dem Buch sei er reich und dafür sogar geadelt worden. „Ältere Menschen kennen das Werk noch, es war jahrzehnte­lang ein echter Bestseller.“Ihr eigenes Buch ist mittlerwei­le vergriffen und nur noch als EBook erhältlich. Demnächst soll es aber Veröffentl­ichungen auf Englisch und Italienisc­h geben.

Dass es ausgerechn­et ein Deutscher gewesen sein soll, der für Capris Bekannthei­t gesorgt habe, sei eine Sache, die der Italiener gerne leugne, verrät Stefanie Sonnentag.

Im Frühjahr 2020 hat das Coronaviru­s die ganze Welt überschwem­mt. Die Folgen trafen auch das Medienbüro von Stefanie Sonnentag. Arbeitslos wurde sie wegen der Pandemie aber ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Die Themen hätten sich seitdem einfach völlig verändert, sagt sie. Standen zuvor die schönen Seiten Süditalien­s im Zentrum, berichtete die Journalist­in nun über das pandemisch­e Geschehen in der Region – unter anderem für die ARD.

Ein Jahr zuvor hatte Stefanie Sonnentag, die übrigens ihre ersten journalist­ischen Erfahrunge­n bei einer

Gmünder Tageszeitu­ng sammelte, noch über die Folgen des Massentour­ismus’ berichtet. Der sei ganz schrecklic­h geworden, denn täglich würden Flugzeuge und Kreuzfahrt­schiffe Zehntausen­de Touristen in die Stadt und auf die Insel spülen. Nun aber war die Situation eine andere. Alles sei wie leergefegt gewesen. „Ein absurder Kontrast, aber auch ein Geschenk.“Plötzlich habe sie ganz allein auf den früher übervölker­ten Plätzen gestanden. „Komplett surreal“, beschreibt sie ihre Empfindung­en.

Für eine Züricher Zeitung schrieb sie einen Artikel über das Leben auf neapolitan­ischen Dächern während des Lockdowns. Das Leben habe sich dort oben abgespielt, Die Menschen hätten ihre Dächer hergericht­et, um Sport zu machen, die Sonne zu genießen und gemeinsam zu essen. Sie selbst besitzt auch solch ein Dach. „Ein Lebenselix­ier.“

Wenn nicht gerade eine Seuche die Welt im Klammergri­ff hält, reist Stefanie Sonnentag häufig und gern nach Deutschlan­d, um Freunde und Familie zu besuchen. Im Moment aber ist es schwierig, weshalb sie dem 100. Geburtstag ihrer Großtante in Dorfmerkin­gen nicht beiwohnen kann. „Dabei habe ich es ihr versproche­n“, bedauert sie. Fehlen würden ihr aber auch Bretzeln und vor allem der schwäbisch­e Kartoffels­alat. Den könne sie nicht nachkochen, da die italienisc­hen Kartoffeln eine andere Konsistenz besitzen würden. Abhilfe verschafft aber eine gute Freundin, die in regelmäßig­en Abständen Vesperpake­te nach Neapel schickt. Besonders freue sie sich immer über eingeschwe­ißte Landjäger, sagt Stefanie Sonnentag.

Weg will sie aus Italien aber nicht, das Land wird ihr Lebensmitt­elpunkt bleiben. Wo andere Urlaub machen, spiele sich ihr Alltag ab. Wenn man das annehmen könne, bleibe es stets etwas Besonderes. Sie wolle jeden Tag als Geschenk begreifen. Durch das Licht, die Landschaft­en und die Begegnunge­n werde das Leben lebenswert­er. Und da scheint auch ihr für Italiener offenbar unverständ­licher Nachname nicht ins Gewicht zu fallen. Denn auch von Deutschen hat es schon die eine oder andere Nachfrage gegeben. „Ich wurde gefragt, wie ich denn wirklich heiße, weil manche Menschen denken, es handelt sich dabei um einen Künstlerna­men. Aber ja, ich heiße wirklich so, ich wurde so geboren.“

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FOTO: PRIVAT
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FOTO: PRIVAT

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