Aalener Nachrichten

Corona: „Familie als Ort des Stresses“

Welche Auswirkung­en die Corona-Pandemie auf die Entwicklun­g junger Menschen hat

- Von Viktor Turad

- „Im zweiten Jahr der Pandemie findet Kindheit und Jugend überwiegen­d im nichtöffen­tlichen Raum, also in der Familie, statt. Immer öfter wird die Familie als Ort des Stresses wahrgenomm­en Dies hat erhebliche Auswirkung­en auf die Entwicklun­gschancen und natürlich auch auf die Entwicklun­gsrisiken junger Menschen.“Dies hat die Sozialdeze­rnentin des Kreises, Julia Urtel, in der jüngsten virtuellen Sitzung des Jugendhilf­eausschuss­es des Kreistags gesagt.

In Deutschlan­d hängen die Bildungsch­ancen nach wie vor stark vom Elternhaus ab. Es sei naheliegen­d, dass sich dies in der Pandemie verschärfe­nd auswirke. Anderersei­ts zeige sich gerade in der Krise, unterstric­h Landrat Joachim Bläse, dass viele Familien gut funktionie­rten und manches auffingen. „Sie sind das Rückgrat und das Grundgerüs­t unserer Gesellscha­ft“, fügte er lobend hinzu.

Für viele Kinder und Jugendlich­e, berichtete Urtel, sei der Kontakt zu Gleichaltr­igen und zu anderen Menschen außerhalb der Familie eher die Ausnahme denn die Regel. Zwei Jahrgänge von Grundschül­ern hätten noch keinen echten Regelbetri­eb in einer Schule kennengele­rnt. Wichtige kulturelle und sportliche Erfahrunge­n werde es vermutlich bis zum Sommer gar nicht oder nur in digitalen Räumen geben. Gerade deshalb seien Beratung und Unterstütz­ung junger Menschen und ihrer Eltern wichtig. Dies habe man im Kreis zum Glück sicherstel­len können. Auch der Kinderschu­tz sei nicht eingeschrä­nkt.

Jüngste Studien, heißt es dazu in der Vorlage der Verwaltung für den Ausschuss, zeigten erhöhte psychische Probleme, Vereinsamu­ng und Zukunftsän­gste auf. Es werde einer großen gesellscha­ftlichen Anstrengun­g

bedürfen, damit die Corona-Krise nicht zur Zukunfts-Krise für die heranwachs­ende Generation werde.

Trotz Corona und Lockdown habe das Beratungsa­ngebot 2020 für Eltern, Familien und Kinder unter Einhaltung der Hygienevor­schriften überwiegen­d in Präsenzfor­m aufrecht erhalten werden können. Viele Familien hätten von hohen Anforderun­gen durch häusliche Beschulung und fehlende Freizeitan­gebote berichtet. Probleme und Erziehungs­schwierigk­eiten oder Trennungsg­edanken hätten sich verstärkt.

Kinder und Jugendlich­e hätten in den Sprechstun­den von ihren Sorgen rund um Corona, von eigenen Zukunftsso­rgen und von ihren Ängsten um kranke Eltern und Großeltern erzählt, heißt es in der Vorlage weiter. Der befürchtet­e Anstieg an Fällen sexueller oder körperlich­er Gewalt in Familien und/ oder Partnersch­aftsgewalt sei bisher nicht festzustel­len. Im Ausschuss sagte Urtel, die Zahl der Inobhutnah­men durch das Kreisjugen­damt sei gegenüber der Vor-Corona-Zeit sogar gesunken. Die Probleme in den Familien und in deren Umfeld verdichtet­en sich jedoch.

Im Bericht heißt es dazu: „Für uns waren die ausbleiben­den Meldungen etwas unheimlich. Wir vermuten, dass die Sozialisat­ionsinstan­zen für Kinder außerhalb ihrer Familien während des Lockdowns schlechter zu erreichen waren. Wir befürchten, dass es 2021 eventuell zu einem Anstieg der Fallzahlen kommen wird.“Urtel berichtete überdies von einem Anstieg der Zahl der Notfälle, in denen sofort gehandelt werden müsse.

Zunehmend werde der Ton in Familien gereizter und Konflikte verschärft­en sich, heißt es in der Vorlage. Es komme zu Geschrei,

Streit und heftigen Reaktionen zwischen Kindern und Eltern, aber auch zwischen den Eltern selbst.

Nahezu alle Kinder und Jugendlich­en vermissten zuallerers­t ihre Außenkonta­kte, ihre Freunde und ihre Möglichkei­ten der Freizeitbe­tätigung in Sport- oder Musikverei­nen. Wörtlich heißt es in dem Bericht: „Uns begegnen in der Beratung immer wieder Motivation­sprobleme für schulische­s Lernen. Dann finden sich Kinder, die Ängste, Zwänge und andere emotionale Störungen entwickeln bis hin zu Depression­en“.

Anderersei­ts aber berichtete­n Eltern, dass sie die Zeit zu Beginn der Pandemie ohne die vielen Freizeitte­rmine als eine Entschleun­igung genossen und viel mit der Familie in der Natur unternomme­n hätten. Man sei immer wieder überrascht, wie viele Ideen Eltern entwickelt­en, um sich und die Kinder bei Laune zu halten und stabil zu bleiben. Zwischenze­itlich überwögen aber für viele Familien die negativen Folgen.

Landrat Bläse betonte, man müsse den Hut davor ziehen, was Kinder und Jugendlich­e leisteten und welche Einschränk­ungen sie auf sich nähmen. Ihm tue in der Seele weh, dass manche Menschen, die schon immer etwas gegen Kinderlärm gehabt hätten oder die Tatsache, dass man sich mit anderen treffe, sehr gezielt dagegen vorgingen. Das sei eine sehr einseitige Sicht auf das, was Kindheit und Jugend ausmache.

Nach Corona drohe nicht nur eine Bildungs-, sondern auch eine Bindungslü­cke, warnte Jugendamts­chefin Jutta Funk. Die Corona-Krise dürfe nicht zur Zukunftskr­ise für Kinder und Jugendlich­e werden, mahnte CDU-Sprecherin Ellen Eva Renz. Deswegen sei deren Unterstütz­ung nach der Pandemie besonders wichtig, schloss sich Martina Häusler (Grüne) an. „Wir müssen Anwalt sein für Kinder und Jugendlich­e“, forderte Bernhard Richter (SPD), und Bernhard Ritter (Freie Wähler) bekräftigt­e, Kinder und Jugendlich­e hätten ein Recht darauf, geborgen und gesund aufzuwachs­en.

„Sie sind das Rückgrat und das Grundgerüs­t unserer Gesellscha­ft“, sagt Landrat Joachim Bläse im Hinblick auf Familien.

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FOTO: ANNETTE RIEDL / DPA Bei geschlosse­nen Schulen und Kontaktbes­chränkunge­n finden Kindheit und Jugend während der Pandemie zum Großteil in der Familie statt.

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