Corona: „Familie als Ort des Stresses“
Welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Entwicklung junger Menschen hat
- „Im zweiten Jahr der Pandemie findet Kindheit und Jugend überwiegend im nichtöffentlichen Raum, also in der Familie, statt. Immer öfter wird die Familie als Ort des Stresses wahrgenommen Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklungschancen und natürlich auch auf die Entwicklungsrisiken junger Menschen.“Dies hat die Sozialdezernentin des Kreises, Julia Urtel, in der jüngsten virtuellen Sitzung des Jugendhilfeausschusses des Kreistags gesagt.
In Deutschland hängen die Bildungschancen nach wie vor stark vom Elternhaus ab. Es sei naheliegend, dass sich dies in der Pandemie verschärfend auswirke. Andererseits zeige sich gerade in der Krise, unterstrich Landrat Joachim Bläse, dass viele Familien gut funktionierten und manches auffingen. „Sie sind das Rückgrat und das Grundgerüst unserer Gesellschaft“, fügte er lobend hinzu.
Für viele Kinder und Jugendliche, berichtete Urtel, sei der Kontakt zu Gleichaltrigen und zu anderen Menschen außerhalb der Familie eher die Ausnahme denn die Regel. Zwei Jahrgänge von Grundschülern hätten noch keinen echten Regelbetrieb in einer Schule kennengelernt. Wichtige kulturelle und sportliche Erfahrungen werde es vermutlich bis zum Sommer gar nicht oder nur in digitalen Räumen geben. Gerade deshalb seien Beratung und Unterstützung junger Menschen und ihrer Eltern wichtig. Dies habe man im Kreis zum Glück sicherstellen können. Auch der Kinderschutz sei nicht eingeschränkt.
Jüngste Studien, heißt es dazu in der Vorlage der Verwaltung für den Ausschuss, zeigten erhöhte psychische Probleme, Vereinsamung und Zukunftsängste auf. Es werde einer großen gesellschaftlichen Anstrengung
bedürfen, damit die Corona-Krise nicht zur Zukunfts-Krise für die heranwachsende Generation werde.
Trotz Corona und Lockdown habe das Beratungsangebot 2020 für Eltern, Familien und Kinder unter Einhaltung der Hygienevorschriften überwiegend in Präsenzform aufrecht erhalten werden können. Viele Familien hätten von hohen Anforderungen durch häusliche Beschulung und fehlende Freizeitangebote berichtet. Probleme und Erziehungsschwierigkeiten oder Trennungsgedanken hätten sich verstärkt.
Kinder und Jugendliche hätten in den Sprechstunden von ihren Sorgen rund um Corona, von eigenen Zukunftssorgen und von ihren Ängsten um kranke Eltern und Großeltern erzählt, heißt es in der Vorlage weiter. Der befürchtete Anstieg an Fällen sexueller oder körperlicher Gewalt in Familien und/ oder Partnerschaftsgewalt sei bisher nicht festzustellen. Im Ausschuss sagte Urtel, die Zahl der Inobhutnahmen durch das Kreisjugendamt sei gegenüber der Vor-Corona-Zeit sogar gesunken. Die Probleme in den Familien und in deren Umfeld verdichteten sich jedoch.
Im Bericht heißt es dazu: „Für uns waren die ausbleibenden Meldungen etwas unheimlich. Wir vermuten, dass die Sozialisationsinstanzen für Kinder außerhalb ihrer Familien während des Lockdowns schlechter zu erreichen waren. Wir befürchten, dass es 2021 eventuell zu einem Anstieg der Fallzahlen kommen wird.“Urtel berichtete überdies von einem Anstieg der Zahl der Notfälle, in denen sofort gehandelt werden müsse.
Zunehmend werde der Ton in Familien gereizter und Konflikte verschärften sich, heißt es in der Vorlage. Es komme zu Geschrei,
Streit und heftigen Reaktionen zwischen Kindern und Eltern, aber auch zwischen den Eltern selbst.
Nahezu alle Kinder und Jugendlichen vermissten zuallererst ihre Außenkontakte, ihre Freunde und ihre Möglichkeiten der Freizeitbetätigung in Sport- oder Musikvereinen. Wörtlich heißt es in dem Bericht: „Uns begegnen in der Beratung immer wieder Motivationsprobleme für schulisches Lernen. Dann finden sich Kinder, die Ängste, Zwänge und andere emotionale Störungen entwickeln bis hin zu Depressionen“.
Andererseits aber berichteten Eltern, dass sie die Zeit zu Beginn der Pandemie ohne die vielen Freizeittermine als eine Entschleunigung genossen und viel mit der Familie in der Natur unternommen hätten. Man sei immer wieder überrascht, wie viele Ideen Eltern entwickelten, um sich und die Kinder bei Laune zu halten und stabil zu bleiben. Zwischenzeitlich überwögen aber für viele Familien die negativen Folgen.
Landrat Bläse betonte, man müsse den Hut davor ziehen, was Kinder und Jugendliche leisteten und welche Einschränkungen sie auf sich nähmen. Ihm tue in der Seele weh, dass manche Menschen, die schon immer etwas gegen Kinderlärm gehabt hätten oder die Tatsache, dass man sich mit anderen treffe, sehr gezielt dagegen vorgingen. Das sei eine sehr einseitige Sicht auf das, was Kindheit und Jugend ausmache.
Nach Corona drohe nicht nur eine Bildungs-, sondern auch eine Bindungslücke, warnte Jugendamtschefin Jutta Funk. Die Corona-Krise dürfe nicht zur Zukunftskrise für Kinder und Jugendliche werden, mahnte CDU-Sprecherin Ellen Eva Renz. Deswegen sei deren Unterstützung nach der Pandemie besonders wichtig, schloss sich Martina Häusler (Grüne) an. „Wir müssen Anwalt sein für Kinder und Jugendliche“, forderte Bernhard Richter (SPD), und Bernhard Ritter (Freie Wähler) bekräftigte, Kinder und Jugendliche hätten ein Recht darauf, geborgen und gesund aufzuwachsen.
„Sie sind das Rückgrat und das Grundgerüst unserer Gesellschaft“, sagt Landrat Joachim Bläse im Hinblick auf Familien.