Verborgene Schätze weiblicher Kreativität
Die Pianistin Hiroko Ishimoto holt Musik von Komponistinnen vergangener Jahrhunderte aus der Vergessenheit
Schon lange vor Gender-Diskussionen und Methodendebatten um gesellschaftliche Gleichstellung der Geschlechter haben Frauen klassische Musik komponiert. Einige sind damit durchaus erfolgreich gewesen und wurden häufig – nicht anders als viele männliche Kollegen – erst nach ihrem Tod wieder vergessen. Auf der anderen Seite haben in der Geschichte der europäischen Musik auch viele Männer trotz genialer Kompositionen den Durchbruch nicht geschafft. Es ist also nicht einfach so, dass Frauen einst generell schlechtere Karten hatten, sich in diesem Bereich zu profilieren, auch wenn vereinfachende Narrative dieser Art neuerdings allenthalben gern bemüht werden. Der Eindruck, weibliche Kreativität sei in vergangenen Jahrhunderten von vornherein unterdrückt worden, trügt. Dass vergleichsweise wenige Komponistinnen im heutigen Musikleben mit ihren Werken präsent sind, hat komplexere Ursachen.
Gewiss haben historisch gewachsene Ansichten über unterschiedliche soziale Aufgaben der Geschlechter zu diesem Befund beigetragen. Gleichwohl ließen derlei allgemeine Vorgaben bereits in früheren Zeiten Spielraum für individuelle Lebenswege. Auch andere Faktoren hatten Einfluss auf Karrierechancen im Bereich der Musikkultur. Eine wichtige Rolle spielte hierbei etwa der gesellschaftlicher Stand. Zugehörigkeit zum Adel, zum Großbürgertum oder zur gebildeten Mittelschicht war unabhängig vom Geschlecht mit bestimmten Privilegien verbunden. Und selbst bei Angehörigen der Unterschicht konnte in Einzelfällen die familiäre Situation (etwa das Aufwachsen in einer Musikersippe) solche Möglichkeiten eröffnen.
Umgekehrt kam es vor, dass adlige Herkunft einer öffentlichen Entfaltung musikalischer Begabung im Wege stand, da derlei Betätigung als nicht standesgemäß oder gar unehrenhaft galt, weil mit ihr „fahrendes Volk“, Spielleute und Gaukler assoziiert wurden. So publizierte etwa der spätbarocke Diplomat Graf Unico Wilhelm von Wassenaer seine heute berühmten „Concerti armonici“anonym.
Die japanische Pianistin Hiroko Ishimoto hat nun unter dem Titel „Pioneers – Piano Works by Female Composers“ein Album mit ausschließlich von Frauen komponierten Klavierwerken veröffentlicht. Die interessante Zusammenstellung rückt Musik von zahlreichen begabten Komponistinnen ins Hörfeld, die zu ihren Lebzeiten durchaus erfolgreich waren, später aber in Vergessenheit geraten sind. Die Auswahl bleibt nicht bei gängigen Namen wie Clara Schumann oder Fanny Mendelssohn stehen, die heutzutage notorisch als Paradebeispiele für weibliche Genies der Töne herhalten müssen, weil ihr biografisches Umfeld praktischerweise aufgrund prominenter männlicher Verwandtschaft vertraut ist.
Ishimoto hat sich überwiegend solche Stücke vorgenommen, die im Konzertbetrieb bislang vernachlässigt werden. Wer kennt schon Dora Pejacevic, Cécile Chaminade, Anna Bon, Agathe Backer Grondahl, Amy Beach, Emma Kodály, Lili Boulanger, Francisca Chiquinha Gonzaga, Tekla Badarzewska, Florence Price, Tatjana Nikolajewa, Vitezslava Kaprálová oder Haruna Miyake? Lediglich die im Booklet fälschlicherweise als op. 11/1 bezeichnete Romanze op. 21/1 von Clara Schumann – entstanden, als ihr Gatte zunehmend Anzeichen einer Nervenkrankheit zeigte – wird mittlerweile auch anderweitig eingespielt.
Hiroko Ishimoto gehört nicht zu den Superstars der Tastenzunft, doch ihr neues Album ist allemal verdienstvoller als die x-te Aufnahme von Klaviermusik eines Standardklassikers. Als früheste Komposition hat sie eine Sonate von Anna Bon ausgewählt, die schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts – lange vor Clara Schumann und keineswegs als erste Frau – eigene Werke drucken ließ. Mehr als 100 Jahre vorher machten damit bereits Komponistinnen wie Francesca Caccini oder die Cavalli- und CestiSchülerin Barbara Strozzi auf sich aufmerksam. Anna Bon wurde 1738 in Bologna als Tochter einer reisenden Künstlerfamilie geboren. Ihre musikalische Ausbildung erhielt sie ab ihrem vierten Lebensjahr am Ospedale della Pietà in Venedig, wo Waisenkinder und zahlende Stipendiatinnen professionellen Gesangs- und Instrumentalunterricht bekamen. Illustre Tonsetzer wie Antonio Vivaldi oder Nicola Porpora zählten zu den Lehrern dieser Anstalt.
Der Vater von Anna Bon war Leiter einer Operntruppe, die in halb Europa auftrat. Er selbst wirkte auch als Bühnenarchitekt, Maler, Dekorateur, Maschinist, Librettist und Komponist seines erweiterten Familienunternehmens. Seine Frau war Sängerin. Man spielte in Frankfurt, Pressburg (Bratislava) oder Petersburg, wo in den 1730er-Jahren der Aufbau eines italienischen Opernbetriebs begann. Bons Kompanie war dort bis 1746 immer wieder fest engagiert, weshalb die Stadt lange als vermeintlicher Geburtsort seiner Tochter durch Lexika geisterte. Anna Bon selbst wurde nach beendetem Studium 1755 Mitglied der elterlichen „Firma“. Ihr Beiname „di Venezia“, der lediglich die berühmte Lokalität anzeigte, wo sie in die Lehre gegangen war, wird bis heute gelegentlich als Hinweis auf ihren Geburtsort missverstanden. Dies ist leider nicht der einzige Irrtum, dem der Booklet-Kommentar von Ishimotos Album aufsitzt. Es war auch nicht Friedrich der Große, der die 16-jährige Anna Bon zur Kammervirtuosin ernannt hat, sondern dessen Schwager Markgraf Friedrich von Bayreuth, an dessen musenfreundlichem Hof die junge Sängerin und Cembalistin während der Anstellung ihrer Truppe auf Betreiben von Markgräfin Wilhelmine auch kompositorische Aufgaben übernahm. Bis 1759 sind mehrere Drucke mit Sonaten von ihr erschienen.
Anna Bon blieb auch nach dem Wegzug von Bayreuth beim Tross ihres Vaters. 1762 schloss man sich etwa am Schloss Esterházy dem Ensemble von Joseph Haydn an, der die junge Musikerin sehr schätzte. Nach 1765 verliert sich deren Spur. Für Nachrichten über ihr Auftauchen in Thüringen zwei Jahre später oder in Böhmen nach 1769 fehlen bislang eindeutige Beweise. Bons dreisätzige, von Ishimoto anmutig interpretierte Sonate op. 2/2 zeigt den Einfluss von Georg Benda, der seit 1750 im nahen Gotha wirkte. Spätbarocke Formeln sind eingebettet in die Klangsprache galanter und empfindsamer Musik der Rokoko-Zeit.
Die restlichen Beiträge von Ishimotos Album sind allesamt im 19. und 20. Jahrhundert entstanden. Vertieft man sich beim Hören in biografische Informationen zu den einzelnen Komponistinnen, dann staunt man über die unterschiedlichen Lebensgeschichten und begegnet virtuosen, humorvollen, tänzerischen, volksliedhaften, nostalgischen oder modernen Klavierstücken von interessanten Künstlerinnen aus Polen, Norwegen, Ungarn, Frankreich, Tschechien, Brasilien, Nordamerika oder Japan, die teils bei renommierten Meistern ihre Ausbildung erhalten haben. Manche von ihnen sind tragisch früh verstorben, andere steinalt geworden.
Die stilistische Palette ihrer Werke reicht von kapriziösem Walzerton über impressionistische Farben, Anklänge an Jazz oder Salonmusik bis hin zu freitotaler Harmonik und komplex gewobenem Klaviersatz. Der jüngste Beitrag stammt von der 1942 in Tokio geborenen Komponistin Haruna Miyake, die in den 1960er-Jahren in New York studiert hat. In Japan wandte sie sich später der Improvisation auch mit Rockmusikern zu. Es lohnt sich, all diese Klangwelten und die dahinterstehenden Lebensschicksale kennenzulernen.