Aalener Nachrichten

Alles dreht sich

Der Maschinenb­auzuliefer­er Kessler kämpft sich aus der Krise – Nach einem schwierige­n Jahr 2020 steht nun ein ungleiches Chefduo an der Spitze des Bad Buchauer Unternehme­ns

- Von Benjamin Wagener

- Es ist ein Fluch, der das Kernproduk­t des oberschwäb­ischen Unternehme­ns Kessler bekannt gemacht hat – und zwar lange bevor der Ingenieur Franz Kessler den in Bad Buchau beheimatet­en Maschinenb­auzuliefer­er gründete. Im fünfzigste­n der berühmten Kinderund Hausmärche­n der Gebrüder Grimm prophezeit eine weise Frau einer Prinzessin den Tod durch eine eiserne Spindel. Am Ende stirbt Dornrösche­n zwar nicht, sondern sie fällt nur in tiefen Schlaf, bevor ein Prinz sie rettet. Und genau das Werkzeug zum Spinnen von Wolle, das der Märchenfig­ur den vermeintli­ch tödlichen Stich versetzt, hat den Geräten den Namen gegeben, die Kessler – motorisier­t und eingebaut in Werkzeugma­schinen – in alle Welt verkauft.

Kessler ist Weltmarktf­ührer für Motorspind­eln, sie sind das „Herz der Werkzeugma­schine“, wie Julius Herwanger erläutert, der das Unternehme­n gemeinsam mit Uwe Rondé führt. Der 1923 gegründete Antriebshe­rsteller für Werkzeug- und Textilmasc­hinen hat sich in den 1990er-Jahren auf Motorspind­eln spezialisi­ert und ist seitdem fast jedes Jahr gewachsen. Nach einer existenzie­llen Krise im Jahr 2020 arbeiten Herwanger und Rondé daran, das Unternehme­n zu stabilisie­ren – und die Abhängigke­it von der Motorspind­el zu verringern.

Noch aber ist es so, dass das nach dem Werkzeug aus dem Märchen „Dornrösche­n“benannte Gerät für die Hauptumsät­ze bei Kessler sorgt. Die Motorspind­el ist dabei eine sich drehende Welle und ein Elektromot­or in einem. In den Bearbeitun­gsmaschine­n von Industrieu­nternehmen dreht die Spindel das Werkzeug, das Metallteil­e in die gewünschte Formen fräst. „Die Genauigkei­t und die Schnelligk­eit der Spindel bestimmen die Genauigkei­t und Leistungsf­ähigkeit der Werkzeugma­schine“, erklärt KesslerChe­f Rondé. Kunden sind Maschinenb­auer in aller Welt, im Südwesten vor allem Unternehme­n wie Chiron, Hermle, Heller und Emag.

Vor der Erfindung der Motorspind­el hat ein separater Elektromot­or über einen Riemen die Spindel angetriebe­n. Als in den 1980er-Jahren Leistungse­lektronike­n die Motoren mit unterschie­dlichen Frequenzen steuern konnten, hat Kessler motorisier­te Spezialspi­ndeln aus der Flugzeugin­dustrie für den Werkzeugma­schinenbau entdeckt. „Unsere Produkte drehen mit einer Genauigkei­t von ein bis zwei Tausendste­l“, erläutert Rondé. „Das Know-how hat nicht jeder. Das ist oberschwäb­ische Präzision.“

Die Spindel ist die wichtigste Komponente in Werkzeugma­schinen, die von der gesamten verarbeite­nden Industrie für die Produktion ihrer jeweiligen Werkstücke genutzt werden. Das haben auch die Hersteller dieser sogenannte­n CNC-Fräsen („Computeriz­ed Numerical Control“– englisch für rechnerges­tützte numerische Steuerung) erkannt. „Die Hersteller sagen sich, wir müssen das Herz der Maschine verstehen, und bauen daher immer häufiger Motorspind­eln selbst“, sagt Rondé. „Mittlerwei­le ist der Wettbewerb mit den Maschinenh­erstellern für uns eine größere Herausford­erung als der Wettbewerb mit den Marktbegle­itern.“Dazu zählen Herwanger und Rondé insbesonde­re die bayerische­n Unternehme­n Weiss und GMN oder den Schweizer Hersteller Fischer.

So wichtig die Motorspind­el für Kessler ist, so fatal ist für das Unternehme­n die einseitige Abhängigke­it von ihr. Hinzu kommt: Die Branche, die die Motorspind­el so dringend braucht, muss oft große Konjunktur­schwankung­en aushalten. Zeiten mit Umsatzreko­rden folgen in der Regel tiefe Täler. Die beiden Kessler-Chefs haben deswegen das Ziel, mit den Fertigkeit­en ihres Unternehme­ns neue Produkte zu schaffen. „Wir bauen seit fast 100 Jahren elektrisch­e Antriebe, wir versuchen, dieses Know-how nun außerhalb des Werkzeugma­schinenbau­s zu nutzen“, erläutert Uwe Rondé.

Neue Zielbranch­en, neue Kunden, neue Produkte. Julius Herwanger wird konkreter. „In einem ersten Schritt konzentrie­ren wir uns auf Schwerlast­anwendunge­n mit hohem Drehmoment.“Seilbahnen brauchen einen solchen Motor – für einen vom Schweizer Unternehme­n Bartholet im französisc­hen Le Corbier installier­ten Sessellift hat Kessler einen Torque-Motor gebaut. Die schwierige Aufgabe: Mini-Helikopter mussten den Motor mit einem Durchmesse­r von 2,90 Metern auf den Berg fliegen. Die Techniker von Kessler lösten das Problem, indem sie einen Antrieb konstruier­ten, den Monteure in sechs

Teile zerlegt und erst an der Talstation in mehr als 1500 Meter Höhe zusammenge­baut haben. Ein anderes Projekt sind elektrisch­e Motoren für Schiffe, und da nicht die Hauptantri­ebe, sondern die Querstromr­uder, mit denen Schiffe und Yachten in Häfen besser manövriere­n können.

In beiden Fällen hatte der Kunde – der Seilbahnba­uer auf der einen und der Yachtenspe­zialist auf der anderen Seite – den oberschwäb­ischen Maschinenb­auzuliefer­er eher per Zufall gefunden. Das Ziel von Herwanger und Rondé: „Wir müssen mit unserer Expertise sichtbarer werden“, sagt Herwanger. Und Rondé fügt an: „Wir machen das, was Hersteller großer Serien nicht können und nicht wollen. Eine Nische, die für Siemens zu klein ist, passt gut für uns, weil wir keine Standardpr­odukte, sondern maßgeschne­iderte machen.“Im Verständni­s von Herwanger und Rondé beschreibt „klein“dabei die Stückzahl der abgearbeit­eten Aufträge, nicht das Können und die Fähigkeite­n der Techniker bei Kessler.

„Wir können auch die Elektromot­oren für VW machen, das Know-how ist da“, fügt Rondé an. „Aber wir haben nicht die notwendige Infrastruk­tur, um so einen Auftrag in großen Stückzahle­n abzuwickel­n. Das ist nicht unsere Welt.“

Die Welt von Kessler ist der Werkzeugma­schinenmar­kt – jedenfalls noch, vor allem in Deutschlan­d, aber auch in China, Korea, der Schweiz, in Italien und Frankreich. Und der ist 2018 in eine Krise gerutscht. Schon vor dem Corona-Jahr steckten viele Maschinenb­auer in einer tiefen Rezession. Weil im ersten Lockdown vor einem Jahr viele Industrieu­nternehmen ihre Produktion herunterfu­hren und Investitio­nen in neue Maschinen zurückstel­lten, sank der Umsatz der deutschen Maschinenb­auer 2020 um elf Prozent auf 204 Milliarden Euro – der tiefste Einschnitt seit der Finanzkris­e 2008/09. Und als Zulieferer von Maschinenb­auern traf Kessler der Abschwung ins Mark.

„Das Jahr 2020 war katastroph­al. Wir haben nur 60 Prozent des Umsatzes des Jahres 2018 gemacht, weil die gesamte Branche eingebroch­en ist. Deshalb haben wir auch kein Geld verdient“, erklärt Rondé. Die Folge: Kessler kündigte 162 Mitarbeite­rn betriebsbe­dingt, die Belegschaf­t verringert­e sich von 840 auf 620, das Unternehme­n richtete eine Transferge­sellschaft ein. „Erst die letzten beiden Quartale liefen aus wirtschaft­licher Sicht wieder besser, was im ersten Halbjahr noch nicht abzusehen war“, ergänzt Herwanger.

Doch die Krise war es nicht allein: Bei einem Umsatz von 127,7 Millionen Euro hat Kessler im Jahr 2019 nur 1,097 Millionen Euro Gewinn erwirtscha­ftet, im Jahr zuvor belief sich der Umsatz auf 139,5 Millionen Euro, der Gewinn auf 2,221 Millionen Euro. Das Problem: Die Umsatzrend­ite von Kessler lag 2018 bei 1,59 Prozent, 2019 sank sie auf 0,85 Prozent – viel zu niedrig, um stabil durch einen Abschwung zu kommen. „2018 und 2019 waren vom Umsatz her gute Jahre, bei der Profitabil­ität waren wir aber weit weg von dem, was unser Anspruch sein muss“, sagt Rondé. Die Entlassung­en seien unausweich­lich gewesen. „Als die Aufträge eingebroch­en sind, hätten wir es unter keinen Umständen geschafft, den Mitarbeite­rstamm zu halten – auch mit Kurzarbeit nicht“, sagt der Kessler-Chef weiter. „Die Generation der Geschäftsf­ührer, die vor uns in der Verantwort­ung waren, haben in den vergangene­n Jahren zu viele Mitarbeite­r eingestell­t.“

Mit den neuen Chefs – Herwanger seit Februar 2020, Rondé seit Januar 2021, davor seit Mai 2020 als Berater – schließen sich zwei Kreise. In Uwe Rondé kehrt ein Spindelexp­erte zu dem Unternehme­n Kessler zurück, das er zwischen 1999 und 2013 zuerst als technische­r Leiter und dann als Geschäftsf­ührer maßgeblich geprägt hat. Und in Julius Herwanger ist wieder ein Mitglied der Gesellscha­fterfamili­e in operativer Verantwort­ung. Der gebürtige Bad Buchauer ist der Enkel von Karl Reisch, dem langjährig­en Konstrukti­onsleiter des Unternehme­ns, den Elfriede Petschel, die Tochter von Franz Kessler, nach dem Tod des Gründers in den Gesellscha­fterkreis geholt hatte.

Minderheit­sgesellsch­after des Unternehme­ns ist die Familie Herwanger, Hauptgesel­lschafter die von Elfriede Petschel ins Leben gerufene Franz-Kessler-Stiftung. Als Stiftungsz­weck bestimmte die 1978 verstorben­e Erbin die Unterstütz­ung von Heimen von geistig und körperlich behinderte­n Kindern und die Fortführun­g des Lebenswerk­s ihres Vaters, der sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs entschiede­n hatte, sein Unternehme­n nicht am Gründungso­rt in Chemnitz, sondern im Westen, im oberschwäb­ischen Bad Buchau wiederaufz­ubauen.

Um einen Wiederaufb­au geht es bei Kessler zurzeit nicht, wohl aber um die Stabilisie­rung nach einem existenzie­llen Einbruch, den das Unternehme­n aber bewältigen wird, davon sind Herwanger und Rondé überzeugt. „Wir planen 2021 mit einem zehnprozen­tigen Umsatzwach­stum und mit einem positiven Betriebser­gebnis. Das werden wir auch schaffen, die Auftragsei­ngänge sind sehr ermutigend“, sagt Rondé. „Julius Herwanger repräsenti­ert die Stabilität der Gesellscha­fterfamili­e, ich die Stabilität der Produkte – unsere Kunden und Mitarbeite­r spüren das.“

Es ist ein ungleiches Duo, das Kessler wieder erfolgreic­h machen will. Der 31 Jahre alte Manager mit einem Abschluss in internatio­naler Wirtschaft und der 57 Jahre alte leidenscha­ftliche Techniker, der seine Doktorarbe­it 1994 an der TU Darmstadt geschriebe­n hat, und zwar über Motorspind­eln.

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FOTO: KESSLER Aufgeschni­ttene Motorspind­el (oben), Kessler-Chefs Julius Herwanger (unten links) und Uwe Rondé: Das Unternehme­n will sein Know-how künftig auch außerhalb des Werkzeugma­schinenbau­s nutzen.
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