„Man fühlt sich wie der letzte Mensch auf der Welt“
Bayern-Stadionsprecher Stephan Lehmann blickt zurück auf ein Jahr Geisterspiele in der leeren Allianz Arena
- Wir schreiben den 16. Mai 2020: Ganz Europa schaut auf Deutschland, besser gesagt auf die Fußball-Bundesliga. Als erste Liga des Kontinents kehrte die deutsche nach einer 65-tägigen Corona-Pause wieder auf den Platz zurück. Nach und nach sind auch die anderen Länder und Sportarten wieder in den Spielbetrieb eingestiegen – Normalität ist aber auch zwölf Monate später noch immer nicht eingekehrt. Die Partien der Bundesliga finden weiter unter Ausschluss der Zuschauer statt. Was macht das mit den Menschen, die eigentlich für die Unterhaltung der Fans im Stadion da sind? Stephan Lehmann ist seit 1996 Stadionsprecher beim FC Bayern, hat gemeinsam mit Willy Astor die Vereinshymne „Stern des Südens“komponiert. Wie der 58Jährige die vergangenen zwölf Monate erlebt, wie sich seine Arbeit ohne Fans verändert und wie schwer ihn seine Covid-19-Erkrankung geschlaucht hat, erzählt Lehmann im Interview mit Martin Deck.
Herr Lehmann, Sie sind seit 25 Jahren Stadionsprecher des FC Bayern, haben in dieser Zeit nie ein Spiel verpasst – bis Corona kam. Neben zwei Partien zu Beginn der Pandemie haben sie vor zwei Wochen auch das Spiel gegen Leverkusen verpasst, weil Sie sich mit Covid-19 infiziert hatten. Wie geht es Ihnen heute?
Danke, es geht mir zum Glück wieder gut. Aber es war nicht schön, das kann ich Ihnen sagen. Ich weiß eigentlich gar nicht, was Kranksein ist, war noch nie im Krankenhaus, deshalb war ich wirklich überrascht, wie ich über mehrere Tage richtig am Ende war. Mir fehlten die komplette Kraft und jeglicher Antrieb und ich hatte das Gefühl, mich könnte ein Fünfjähriger verprügeln. Das war keine schöne Erfahrung, aber es lehrt dich auch immer ein bisschen Demut, wie angreifbar wir sind.
Wie war es für Sie, plötzlich ein Spiel vor dem Fernseher statt im Stadion zu verfolgen?
Das war schon merkwürdig für mich, da bin ich ganz ehrlich. Für mich war 25 Jahre lang klar, dass ich da bin, wenn der FC Bayern zu Hause spielt. Und wenn man dann, wie an diesem Abend, an dem ich nach meinem positiven Test kurz zuvor eh nicht gut drauf war, vor dem Fernseher sitzt, ist das alles andere als schön.
Am Samstag, beim Gewinn der Meisterschaft, waren Sie wieder in der Arena dabei. Es war bereits der siebte Titel des FC Bayern unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wie sehr schmerzt es, dass ausgerechnet im erfolgreichsten Jahr der
Vereinsgeschichte keine Fans dabei sein können?
Es ist natürlich besonders bitter, dass genau in diesem Jahr die Fans nicht ins Stadion durften. Andererseits wertet es die sportliche Leistung der Mannschaft, die ja ebenfalls unter den widrigen Umständen zu kämpfen hatte, noch mehr auf. Dass die Mannschaft gerade in dieser schwierigen Zeit einen so fantastischen Fußball spielt, dass Hansi Flick die Truppe sozial intelligent richtig motivieren konnte und am Schluss diese ganzen Titel stehen, war à la bonne heure.
Seit genau einem Jahr gibt es in der Allianz Arena nur noch Geisterspiele. Wie hat sich Ihre Arbeit dadurch verändert?
Sie hat sich insofern geändert, als dass ich immer versucht habe, der Gesamtsituation gerecht zu werden. Ich habe meine Rolle als „Animateur“, der die Energie in einem ausverkauften Stadion aufs Spielfeld überträgt, spürbar zurückgefahren. Es ist nicht so, dass ich mich nicht gefreut habe, wenn der
FC Bayern ein Tor geschossen und die Spiele gewonnen hat, aber ich dachte mir, die Situation ist anders, als sie sich gehört, und jetzt zu tun, als ob alles wie immer wäre, ist nicht mein Stil. Meine Arbeit ist aktuell mehr informativ und mehr moderativ als sonst. Da hilft mir auch meine Erfahrung als Radiomoderator. Ich rede seit 30 Jahren in mein Mikrofon, ohne ein direktes Feedback zu bekommen.
Sie versuchen also nicht, zumindest ein wenig Emotionen von außen auf die Spieler zu übertragen? Nein, so sehe ich meine Aufgabe als Stadionsprecher nicht und habe sie auch nie so gesehen. Ich bin nicht für die Stimmung verantwortlich. Stellen Sie sich vor, ich wollte beim Stand von 0:2 eine La Ola anstimmen, nur weil das vor dem Spiel mit einem Sponsor so abgesprochen war oder jetzt in einem leeren Stadion das „Tooooor“zehn Sekunden lang ziehen – da würden doch alle denken, der hat zu viel getrunken. Die Fans sorgen eigenständig für Stimmung und Emotionen und ich sehe mich als Bindeglied, das das Ganze weiterträgt. Die Interaktion mit den Fans, die ich 1996 auch in der Bundesliga eingeführt habe, ist das Schöne im Stadion.
Der Dialog fällt aktuell aber komplett weg. Kommen Sie sich da nicht ab und zu auch überflüssig vor? Nein, ich komme mir nicht überflüssig vor, aber meine Rolle ist eine andere. Ich bin für die paar wenigen Leute im Stadion und die Spieler dafür da, um eine gewisse Normalität und Professionalität aufrechtzuerhalten – es sind eben keine Testspiele, sondern es geht auch ohne Zuschauer um Bundesligapunkte und Champions-League-Siege.
Sie sagten einmal in einem Interview, vor einem Spiel spüren Sie ein Vibrieren im Bauch. Was spüren Sie heute, wenn Sie die Allianz Arena betreten?
Da bin ich ehrlich, diese freudige Erregung, wenn du in die Mitte des Stadions gehst und um dich herum stehen und sitzen 75 000 Menschen, die sich mit dir darauf freuen, was jetzt gleich passiert, habe ich bei Geisterspielen gar nicht. Es gab Situationen, da bin ich in meinem Auto mutterseelenallein auf die Arena zugefahren. Auf der Esplanade vor dem Stadion, da wo es normalerweise richtig brummt, ist einfach niemand. Das ist schon gespenstisch, da fühlt man sich wie der letzte Mensch auf der Welt.
Diese Situation herrscht mittlerweile seit zwölf Monaten. Haben Sie sich schon ein bisschen daran gewöhnt?
Nein, um Gottes Willen. Daran kann man sich nicht gewöhnen. Dieser Sport lebt von der Begeisterung des Publikums, Fußball funktioniert nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der Fan, der die ganze Woche aufs Spitzenspiel hinfiebert, dann im Stadion feiert und am Montag bei der Arbeit mit den Kollegen diskutiert, ist für mich der Humus, der Boden, auf dem alles im Fußball wächst. Deshalb darf man nie den Kontakt zur Basis verlieren, man darf nie vergessen, für wen Fußball eigentlich ist. Ich kann es jedenfalls kaum erwarten, dass wir bald wieder zur einer gewissen Normalität kommen – auch wenn ich nicht glaube, dass das von heute auf morgen passiert.
Sie machen diesen Job nun schon ein Vierteljahrhundert und wollen sicher noch mal ein volles Haus erleben. Aber gibt es schon Gedanken, wann Schluss ist?
Ich weiß natürlich, dass ich das nicht ewig machen kann und bin auch jemand, der gerne den Staffelstab weitergibt. Wenn ich spüre, dass ich kräfteoder motivationsmäßig nicht mehr ganz dabei bin, bin ich der Erste, der sagt, das war’s jetzt. Man muss aber dazusagen, dass durch Corona eine besondere Situation entstanden ist. Meiner Meinung nach sollte man dafür sorgen, dass sobald das Publikum zurück in die Arena darf, so viele Puzzleteile wie möglich für eine gewisse Vertrautheit sorgen – und dazu gehört auch die Stimme im Stadion.
Wenn es endlich so weit ist: Wissen Sie schon, wie Sie die Bayern-Fans begrüßen werden, wenn das Stadion mal wieder ausverkauft ist? Wenn ich mir schon etwas ausgedacht hätte, würde ich das sicher jetzt noch nicht verraten. Aber wer mich kennt, weiß, dass ich auf Humor setze. In der Quintessenz wird es etwas sein wie: „Ja sagt’s amol, wo wart ihr denn so lange.“Ich blicke von Grund auf immer optimistisch in die Zukunft und würde nie mehr zurückschauen auf diese für uns alle so schwierige Zeit.