Spektakulärer Höhenflug
Drosselrohrsänger ziehen in mehr als 5000 Metern Höhe über Mittelmeer und Sahara – Forscher rätseln, warum die federleichten Singvögel so hoch aufsteigen
Wie viele Milliarden anderer Singvögel pendeln Drosselrohrsänger im Jahresrhythmus einige Tausend Kilometer zwischen ihren Brutgebieten in Europa und ihrem Winterquartier in milderen Gefilden im Süden. Weil die meisten Arten in der Nacht und ein paar Hundert Meter über dem Boden unterwegs sind, bekommen Menschen von diesen Tierwanderungen wenig mit. Drosselrohrsänger dagegen bevorzugen sogar Flughöhen ein wenig über 2000 Meter über dem Meeresspiegel. Einzelne Vögel lassen sich
’’ Vielleicht sparen die Drosselrohrsänger so Energie.
Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell und der Universität Konstanz
dort oben nur noch mithilfe kleiner, gerade einmal 1,1 Gramm wiegender Minigeräte beobachten, die Forscher den nur wenig mehr als spatzengroßen Vögeln auf den Rücken binden. Mit den so aufgezeichneten Daten enthüllen Sissel Sjöberg von den Universitäten im schwedischen Lund und im dänischen Kopenhagen und ihre Kollegen in der Fachzeitschrift „Science“ein erstaunliches Flugverhalten: Sobald die Drosselrohrsänger das Mittelmeer oder die Sahara queren, fliegen sie nonstop auch tagsüber weiter und steigen dazu in der Morgendämmerung steil auf Höhen von über 5000 Metern auf.
„Eine traumhafte Arbeit“, freut sich Martin Wikelski vom MaxPlanck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell und der Universität Konstanz über diese Studie. „Bisher konnte sich kaum jemand vorstellen, dass gerade einmal 30 Gramm schwere Singvögel über unwirtlichen Gegenden wie Wüsten und Meeren in Höhen von 5000 bis über 6000 Metern fliegen“, erklärt der Spezialist für die Beobachtung solcher Tierwanderungen und Leiter des weltraumgestützten Beobachtungssystems für Tierbeobachtungen ICARUS (International Cooperation for Animal Research Using Space).
Für die Drosselrohrsänger wären die 2,5 Gramm wiegenden Sender allerdings zu schwer gewesen, die im ICARUS-Projekt Bewegungsdaten von Tieren auch aus unwirtlichen Gegenden zur internationalen Raumstation übertragen. Sissel Sjöberg und ihr Team konstruierten daher selbst kleine, nur 1,1 Gramm schwere Minigeräte, die mithilfe der Tageslänge den Standort der Tiere festhalten und die neben den Bewegungsaktivitäten der Vögel über den Luftdruck auch die Flughöhe bestimmen und aufzeichnen. 63 Drosselrohrsängern band das Team am Kvismaren-See im Süden Schwedens im Sommer ein solches Gerät auf den Rücken. Ein Jahr später konnten sie dort 29 dieser Vögel wieder fangen, Die anderen Tiere waren entweder andernorts gelandet oder auf dem Zug ins Afrika südlich der Sahara und zurück ums Leben gekommen. Zwar konnte Sissel Sjöberg wegen technischer Probleme nur 14 dieser Geräte auswerten, die so erhaltenen Daten aber zeigten ein vorher nie beobachtetes Flugverhalten:
Normalerweise waren die Drosselrohrsänger nachts in einer Höhe von durchschnittlich 2400 Metern unterwegs, tagsüber rasteten die Tiere. Jeder der so beobachteten Vögel aber verlängerte mindestens einmal seinen Nachtflug bis in den hellen Tag hinein. Insgesamt 29 solcher Langstreckenflüge mit einer Dauer von 12,1 bis zu 34,2 Stunden fanden Sissel Sjöberg und ihr Team in den Datensätzen. Von 14 dieser Strecken konnte der ungefähre Verlauf ermittelt werden, allesamt führten sie entweder übers Mittelmeer oder über die Sahara.
Völlig unerwartet aber war das einheitliche Muster aller Langstreckenflüge: Bei Sonnenaufgang flogen alle Vögel offensichtlich steil in die Höhe und erreichten schließlich durchschnittlich fast 5400 Meter über dem Meeresspiegel, ein Tier war sogar in beinahe 6300 Metern Flughöhe unterwegs. Bei Sonnenuntergang oder kurz danach ging es dann wieder steil hinunter auf die Nachtflughöhe von rund 2400 Metern.
Weshalb aber sollte ein Vogel von der Größe eines Haussperlings offensichtlich regelmäßig in solche für ihn sehr erstaunlichen und vor allem auch unerwarteten Flughöhen aufsteigen? „Vielleicht sparen die Drosselrohrsänger so Energie“, überlegt Martin Wikelski. So treten tagsüber erheblich mehr Turbulenzen auf, die den Energieverbrauch für einen Flug um rund 30 Prozent in die Höhe treiben. „In größerer Höhe aber dürften die Turbulenzen erheblich geringer sein“, vermutet der Max-Planck-Forscher. Getrübt wird die Energiesparbilanz eines Flugs in 5000 bis 6000 Metern allerdings durch den kräftigen Energieverbrauch für einen Aufstieg um rund 3000 Höhenmeter. „Dieser aber lässt sich möglicherweise erheblich mindern, wenn die Vögel sich von aufsteigenden Luftmassen wie mit einem Lift in die Höhe tragen lassen“, meint Martin Wikelski, der in seiner Freizeit mit Hängegleitern über den Alpen unterwegs ist und der als Forscher einen Pilotenschein hat, um im Cockpit mit Sendern ausgestattete Vögel verfolgen zu können.
Eventuell weichen die Drosselrohrsänger auf ihrem Höhenflug am hellen Tag auch den Eleonorenfalken aus, die tagsüber im Mittelmeerraum sehr häufig Singvögel jagen. Als Martin Wikelski diese Falken mit Sendern ausrüstete, waren sie kein einziges Mal höher als 3500 Meter über dem Meeresspiegel unterwegs. Sind solche Höhen also schlicht sicherer? Oder finden die Drosselrohrsänger tagsüber dort oben vielleicht auch bessere Windbedingungen vor? „Tausend Meter höher kann die Windrichtung durchaus um 15 Grad abweichen“, erklärt der Max-PlanckForscher. Möglicherweise kann es auch eine Kombination solcher und anderer, bisher unbekannter Faktoren sein, die Singvögel veranlassen, tagsüber in großen Höhen zu fliegen.
Bisher haben die Forschungen nur für Drosselrohrsänger einen Aufstieg in Höhen über 5000 Meter gezeigt. Andere Singvogel-Arten müssen noch unter die Lupe genommen werden, vielleicht entpuppen sich ja einige von ihnen ebenfalls als Höhenflieger. „Sehr interessant wären natürlich Messungen zum Energieverbrauch der Vögel in verschiedenen Höhen“, überlegt Martin Wikelski. Äußerst hilfreich wären bei solchen Untersuchungen weiter miniaturisierte ICARUS-Sender für Singvögel. Damit könnte man nämlich herausbekommen, ob der Höhenflug tatsächlich ein Energiesparmodell ist.